D: Neue Enzyklika - ein Kommentar von Kardinal Karl Lehmann, Mainz
Seit mehr als einem
halben Jahrhundert wartet man nach dem Amtsantritt eines neuen Papstes gespannt auf
die erste Enzyklika. Bei nicht wenigen Päpsten ist, wie oft nachher deutlicher wird,
das erste Weltrundschreiben vielleicht nicht gerade eine Programmvorschau, aber eben
doch ein bedeutungsvoller Auftakt für das jeweilige Pontifikat gewesen. Dies gilt
auf jeden Fall für die Päpste Johannes XXIII., Paul VI. und Johannes Paul II. So war
die Spannung auch groß, bis Papst Benedikt XVI. nun am 25. Januar 2006, also heute,
seine erste Enzyklika veröffentlicht. Der Papst hat am 25. Dezember 2005, also
genau einen Monat vorher, an Weihnachten, die Enzyklika „Deus caritas est“ unterzeichnet.
Ihr Inhalt hängt eng mit der Botschaft von Weihnachten zusammen. Die Wahl des 25.
Januar hat eine vielfache Bedeutung. Zunächst ist der 25. Januar zeitlich nahe dem
Abschluss der schon seit vielen Jahren in den christlichen Kirchen begangenen „Gebetswoche
für die Einheit der Christen“ (15. bis 22. Januar). Der Papst begibt sich in die Basilika
des hl. Paulus außerhalb der Mauern, um – wie er selbst sagt – mit den orthodoxen
und reformatorischen Christen zu beten im Sinne eines Dankes für die bisher gelungenen
Schritte und zugleich den Herrn zu bitten, dass er uns auch in Zukunft noch mehr der
Einheit entgegenführt. Dabei darf man nicht vergessen, dass an diesem Ort und an diesem
Tag Johannes XXIII., nämlich am 25. Januar 1959, die Einberufung eines neuen Ökumenischen
Konzils verkündete. Schließlich feiert die Kirche am heutigen Tag das Fest „Bekehrung
des Apostels Paulus“. Dies erklärt den gewählten Ort, ist aber auch für die ökumenische
Dimension der Gebetswoche und auch des früheren Konzilsaufrufes sowie der Enzyklika
„Gott ist die Liebe“ aufschlussreich: Die Erneuerung der Kirche und der ökumenische
Weg der Einheit brauchen zuerst und grundlegend Umkehr und Bekehrung. Es ist also
in vieler Hinsicht ein bedeutungsvoller Tag, wenn der Papst ganz bewusst heute seine
erste Enzyklika veröffentlicht. Schon bei der Generalaudienz am 18. Januar, also vor
einer Woche, hat er auf den ökumenischen Charakter dieses Schreibens hingewiesen:
„Das Thema ist nicht unmittelbar ökumenisch, aber der Rahmen und der Hintergrund sind
ökumenisch, weil Gott und unsere Liebe die Bedingung der Einheit der Christen sind.
Sie sind auch die Bedingung des Friedens in der Welt.“ Ein weiterer Hinweis für
das Verständnis der ersten Enzyklika ist die Pressekonferenz heute um 12 Uhr in Rom.
Der Papst hat drei Mitarbeiter zur Vorstellung bestimmt: Kardinal R. R. Martino, Präsident
des Päpstlichen Rates für Gerechtigkeit und Frieden (Iustitia et Pax), Erzbischof
W. J. Levada, Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre, und den deutschen Erzbischof
P. J. Cordes, Präsident des Päpstlichen Rates „Cor Unum“, also gewissermaßen die drei
wichtigen Dimensionen der Enzyklika: den grundlegenden Teil I mit der Darlegung des
Wesens der Liebe (Nr. 2-18) und den zweiten Teil, der das Wirken der Liebe entfaltet,
und zwar besonders im Sinne der Gerechtigkeit (Nr. 26-28), und der Caritas (Nr. 28-39),
wobei der Vollzug der Liebe im Blick auf den Einzelnen, aber auch auf allen Ebenen
des kirchlichen Lebens angesprochen wird (vgl. bes. Nr. 32ff.). Die drei leitenden
Mitarbeiter der Kurie, die das Dokument offiziell vorstellen, vertreten also die Grundaussagen
der Enzyklika. Damit ist auch schon der Aufbau der Enzyklika angesprochen. Der
Titel einer Enzyklika ist immer identisch mit den ersten Worten des Textes, der in
diesem Fall dem ersten Johannesbrief entnommen ist (4,16): „Gott ist die Liebe“. Nach
der knappen Einführung (Nr. 1) besteht die Enzyklika aus zwei großen, gleichgewichtigen
und auch im Umfang ähnlichen Teilen. Der erste Teil ist eine theologische Grundsatzreflexion,
in der nicht nur das Wesen der Liebe, sondern zugleich die innere Verbindung zwischen
der Liebe Gottes und der Realität der menschlichen Liebe aufgezeigt werden (Nr. 2-18).
Über den zweiten Teil sagt der Papst selbst (Nr. 1, Ende): „Der zweite Teil wird konkreterer
Natur sein, denn er soll die kirchliche praktische Umsetzung des Gebotes der Nächstenliebe
behandeln.“ Der Papst weist hier freilich auf die Grenzen einer Enzyklika hin, denn
das Thema der Liebe Gottes und der Menschen ist sehr umfangreich. Der Papst wollte
aber offenbar auch bewusst mit dem Umfang von ca. 60 kleineren Seiten dem in den letzten
Jahren und Jahrzehnten immer größer gewordenen Umfang von Enzykliken Grenzen setzen.
Deshalb muss er sich letztlich auch, was in einem Weltrundschreiben aus anderen Gründen
angezeigt ist, auf das Wesentliche konzentrieren: „Mein Wunsch ist es, auf einige
grundlegende Elemente nachdrücklich einzugehen, um so in der Welt eine neue Lebendigkeit
wachzurufen in der praktischen Antwort der Menschen auf die göttliche Liebe.“ (Nr.
1, letzter Satz). – Der Schluss (Nr. 40-42) ist dem Zeugnis großer Heiliger und besonders
auch der Mutter Maria gewidmet. Ich kann hier natürlich nicht den Inhalt im Detail
vorstellen. Dafür haben Sie eine vom Hl. Stuhl herausgegebene Zusammenfassung, die
wir in deutscher Übersetzung, die freilich auf unser Konto geht, Ihnen zur Verfügung
stellen können (vgl. Die erste Enzyklika von Papst Benedikt XVI., „Deus cariats est“
über die christliche Liebe). Ich will aber dennoch Sie ein wenig durch den Text führen,
bevor ich eine Würdigung versuchen will. Der erste Teil mit der grundlegenden
Reflexion ist ziemlich anspruchsvoll. Es wäre verlockend, aber verkehrt, daraus nur
einige Themen und Sätze herauszubrechen, die ein oberflächliches Interesse erwirken
können, also z.B. „Papst-Enzyklika warnt vor Liebe als bloßem Sex“, „Papst verurteilt
in Enzyklika Eros ohne Liebe“. Der Papst mutet uns in diesem ersten Teil nicht nur
theologisch viel zu. Man braucht hier Geduld. Der Papst analysiert nach einem Hinweis
auf die Vieldeutigkeit des Wortes Liebe den „Eros“, jene Dimension der Liebe, die
sich aus der gegenseitigen Anziehungskraft von Mann und Frau ergibt. Hier beschreibt
Benedikt XVI auch mit Worten antiker Dichter und Denker die ganze Macht des Eros,
die letztlich – auch noch im Rausch und der „Göttlichen Raserei“ – die Vereinigung
mit dem Göttlichen will. Die Bibel des Alten und Neuen Testamentes erteilt vor allem
der zerstörerischen Entstellung der Liebe im Eros den Kampf an. Der Eros bedarf der
Zucht und Reinigung, „um dem Menschen nicht den Genuss eines Augenblicks, sondern
einen gewissen Vorgeschmack der Höhe der Existenz zu schenken – jener Seligkeit, auf
die unser ganzes Sein wartet“ (Nr. 4). Der Eros, den der Papst zu seinem Recht
kommen lässt, wird gereinigt und geheilt durch die biblisch und vor allem auch christlich
verfasste Liebe (Agape). Hier nimmt Papst Benedikt eine in der Theologie vor allem
des 20. Jahrhunderts lange geführte Diskussion über das Verhältnis von Eros und Agape
auf. Eine Diskussion, die mit den Namen von S. Kierkegaard, S. Freud und J.-P. Sartre,
vor allem aber auch mit dem berühmten Buch des schwedischen Theologen Anders Nygren
„Eros und Agape“ (2 Bände, Göttingen 1930-1937) verbunden ist. Nygren hat das christliche
Grundmotiv der Agape dem Motiv des Eros, worin er vor allem das platonische Denken
versammelt sah, gegenübergestellt. Der Papst geht vor allem auf F. Nietzsche ein (vgl.
Nr. 3). Aber auf das Hohe Lied der Bibel (vgl. Nr. 6, 10) eingehend sieht der Papst
hier ein differenziertes Verhältnis. Unterscheidungen von Eros und Agape (vgl. Nr.
6 und 7) sind keine radikalen Gegensätze. Sonst „würde das Eigentliche des Christentums
aus den grundlegenden Lebenszusammenhängen des Menschseins ausgegliedert und zu einer
Sonderwelt, die man dann für bewundernswert ansehen mag, die aber doch vom Ganzen
der menschlichen Existenz abgeschnitten würde. In Wirklichkeit lassen sich Eros und
Agape – aufsteigende und absteigende Liebe – niemals ganz voneinander trennen (vgl.
die schöne Beschreibung in Nr. 7, Mitte). Dies führt zur Überzeugung, dass die
Liebe im Letzten eine einzige Wirklichkeit ist, aber sie hat verschiedene Dimensionen.
Wenn diese auseinander fallen, entsteht eine Karikatur oder eine Kümmerform von Liebe.
Damit ist auch zum Ausdruck gebracht, dass die Liebe immer einen personal orientierten
Charakter haben muss. Sonst ist er in Gefahr zu entarten. „Der zum ‚Sex’ degradierte
Eros wird zur Ware, zur bloßen ‚Sache’; man kann ihn kaufen und verkaufen, ja der
Mensch selbst wird dabei zur Ware ... die scheinbare Verherrlichung des Leibes kann
ganz schnell in Hass auf die Leiblichkeit umschlagen.“ (Nr. 5) Gleichsam zusammenfassend
sagt der Papst: „Ja, Eros will uns zum Göttlichen hinreißen, uns über uns selbst hinausführen,
aber gerade darum verlangt er einen Weg des Aufstiegs, der Verzichte, der Reinigungen
und Heilungen.“ (Nr. 5, Ende) Diese Grundstruktur, die vor allem auch philosophische
Überlegungen einschließt, wird in der Enzyklika am Gottesbild und am Menschenbild
näher exemplifiziert, vor allem im Blick auf das Neue des biblischen Glaubens (vgl.
dazu Nr. 9ff.). In der Menschwerdung Jesu Christi findet dieses Neue „einen unerhörten
Realismus“ (vgl. Näheres Nr. 12ff.). Gerade die Sakramente haben dabei auch einen
sozialen Charakter. Schließlich erweckt der Papst zwei Fragen, ob man nämlich
Gott überhaupt lieben kann, den wir doch nicht sehen, und ob man Liebe gebieten kann
(vgl. Nr. 16-18). Liebe ist mehr als nur Gefühl. „Gefühle kommen und gehen. Das Gefühl
kann eine großartige Initialzündung sein, aber das Ganze der Liebe ist es nicht.“
(Nr. 17) Gottes- und Nächstenliebe gehören eng zusammen, sodass der Papst auch sagen
kann: „Wenn die Berührung mit Gott in meinem Leben ganz fehlt, dann kann ich im anderen
immer nur den anderen sehen und kann das göttliche Bild in ihm nicht erkennen. Wenn
ich aber die Zuwendung zum Nächsten aus meinem Leben ganz weglasse und nur ‚fromm’
sein möchte, nur meine ‚religiösen Pflichten’ tun, dann verdorrt auch die Gottesbeziehung.
Dann ist sie nur noch ‚korrekt’, aber ohne Liebe. Nur meine Bereitschaft auf den Nächsten
zuzugehen, ihm Liebe zu erweisen, macht mich auch fühlsam Gott gegenüber.“ (Nr. 18).
(Vgl. hierzu das kleine, längst vergriffene Buch von J. Ratzinger, Die Christliche
Brüderlichkeit, München 1960; zurzeit nur in italienischer Sprache erhältlich.) Der
zweite Teil ist gleich zu Beginn in der Übersetzung durch die ungebräuchlich oder
missverständlich gewordenen Worte „Liebestun“ und „Liebesdienst“ belastet (in italienischer
Sprache ist dies einfacher, vgl. „l´esercizio dell´amore, la caritá, servizio caritativo,
attività caritativa, azione caritativa“). Aber dass soll nicht das Verständnis belasten.
Zuerst wird die trinitarische Dimension der Liebe entfaltet (Nr. 20), vor allem aber
erscheint die Kirche als Gemeinschaft der Liebe, die freilich in der Verwirklichung
verschiedene Organisationsformen verlangt. Aber der Kern bleibt: „Innerhalb der Gemeinschaft
der Gläubigen darf es keine Armut derart geben, dass jemandem die für ein menschenwürdiges
Leben nötigen Güter versagt bleiben.“ (Nr. 20, Ende)
Es wird nun gezeigt,
wie dieses „ekklesiale Grundprinzip“ (Nr. 21) in der frühen Kirche (Diakonat) verwirklicht
wurde, wie es mit der Verkündigung des Wortes und der Spendung der Sakramente bzw.
der Feier des Gottesdienstes mit zu den Grundsäulen der Kirche gehört (Nr. 22) und
wie es dafür auch schon früh rechtliche und institutionelle Strukturen gibt (Nr. 23f.).
Auch die Gegner der Kirche haben die Überlegenheit der organisierten und praktisch
geübten Nächstenliebe als ein wichtiges Kennzeichen von Glaube und Kirche erkannt.
(Dazu viele Belege bei Christoph Markschies, Warum hat das Christentum in der Antike
überlebt? = Forum ThLZ.F 13, Leipzig 2004, bes. 42ff.) Es ist im Übrigen schon früh
deutlich geworden, dass die wirksame Erfüllung der Nächstenliebe notwendigerweise
auch eine gewisse Organisation voraussetzt. Man muss also deutlich sehen, dass die
sublime theologische Vertiefung im ersten Teil eine sehr nüchterne Betrachtung der
Verwirklichung dieser Liebe nicht ausschließt, sondern geradezu erforderlich macht.
Die praktizierte Nächstenliebe ist jedenfalls ein entscheidendes Kennzeichen der christlichen
Gemeinde und der Kirche überhaupt. Hier sind zwei Erkenntnisse zusätzlich wichtig,
nämlich die schon erwähnte enge Zusammengehörigkeit des dreifachen Auftrags der Kirche
(kerygma – martyria, leiturgia, diakonia), aber auch die Unentbehrlichkeit der Caritas.
Sie „ist für die Kirche nicht eine Art Wohlfahrtsaktivität, die man auch anderen überlassen
könnte, sondern gehört zu ihrem Wesen, ist unverzichtbarer Wesensausdruck ihrer selbst“
(Nr. 25a). Darum wird auch mit aller Deutlichkeit zur Universalität der Liebe aufgerufen:
„Die Kirche ist Gottes Familie in der Welt. In dieser Familie darf es keine Notleidenden
geben. Zugleich aber überschreitet Caritas-Agape die Grenzen der Kirche.“ (25b mit
Verweis auf das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter, Lk 10,31 und Gal 6,10) Die
Enzyklika beschäftigt sich immer wieder mit dem Marxismus (vgl. z.B. Nr. 26, 27, 31).
In seinem Gefolge werden oft Liebe und Gerechtigkeit gegeneinander ausgespielt. Dies
ist zu Beginn der Nr. 26 sehr drastisch formuliert (vgl. den Text). Hier wird auch
das Versäumnis der Kirche in der Arbeiterfrage des 19. Jahrhunderts deutlich beim
Namen genannt: „Man muss zugeben, dass die Vertreter der Kirche erst allmählich wahrgenommen
haben, dass sich die Frage nach der gerechten Struktur der Gesellschaft in neuer Weise
stellte. Es gab Wegbereiter; einer von ihnen war zum Beispiel Bischof Ketteler von
Mainz (+ 1877)“ (Nr. 27). Daraufhin werden die wichtigsten Sozialenzykliken genannt
– bis hin zum Kompendium der Soziallehre der Kirche, das im Jahr 2004 vom „Päpstlichen
Rat für Gerechtigkeit und Frieden“ herausgegeben wurde und im Februar 2006 in deutscher
Sprache erscheinen wird (vgl. Einladung zur Pressekonferenz am 1. Februar in Mainz).
Schließlich sagt der Papst: „In der schwierigen Situation in der wir heute gerade
auch durch die Globalisierung der Wirtschaft stehen, ist die Soziallehre der Kirche
zu einer grundlegenden Wegweisung geworden, die weit über die Kirche hinaus Orientierungen
bietet. Angesichts der fortschreitenden Entwicklungen muss an diesen Orientierungen
im Dialog mit all denen, die um den Menschen und seine Welt ernstlich Sorge tragen,
gemeinsam gerungen werden.“ (Nr. 27, Ende) Die Soziallehre ist also immer auch im
Wandel und nie einfach „fertig“. Der Papst erläutert nun in der wohl umfangreichsten
Nummer des Textes (Nr. 28) dieses Ringen um Gerechtigkeit und Liebe. Der Unterschied
und die Bezogenheit von Politik und Glaube aufeinander werden aufgezeigt. Die Bedeutung
des Glaubens wird hervorgehoben. Sie liegt vor allem auch in der Reinigung der Vernunft
(vgl. Nr. 28). Hier kommt es zu guten Formulierungen über die Aufgabe der Kirche in
Politik und sozialer Gestaltung der Gesellschaft: „Sie (die Kirche) kann und darf
nicht sich an die Stelle des Staates setzen. Aber sie kann und darf im Ringen um Gerechtigkeit
auch nicht abseits bleiben. Sie muss auf dem Weg der Argumentation in das Ringen der
Vernunft eintreten und sie muss die seelischen Kräfte wecken, ohne die Gerechtigkeit,
die immer auch Verzichte verlangt, sich nicht durchsetzen und nicht gedeihen kann
... das Mühen um die Gerechtigkeit durch eine Öffnung von Erkenntnis und Willen für
die Erfordernisse des Guten geht sie zutiefst an.“ (Nr. 28, Ende von a) Aber gerade
so wird auch die Unentbehrlichkeit der Caritas offenkundig: „Liebe ... wird immer
nötig sein, auch in der gerechtesten Gesellschaft. Es gibt keine gerechte Staatsordnung,
die den Dienst der Liebe überflüssig machen könnte“ (28b). Damit ist auch grundsätzlich
die Aufgabe der Kirche bestimmt (vgl. die Formulierungen in Nr. 29, Anfang). In diesem
Zusammenhang ist die Rede von der Aufgabe der einzelnen Christen, aber auch von der
ureigensten Aufgabe der caritativen Organisationen der Kirche, die ein unmittelbar
selbstständiges Subjekt sind. Deutlich sagt der Papst, dass es nie eine Situation
geben wird, „in der man der praktischen Nächstenliebe jedes einzelnen Christen nicht
bedürfte, weil der Mensch über die Gerechtigkeit hinaus immer Liebe braucht und brauchen
wird.“ (Nr. 29, Ende) Nun klärt der Papst die vielfältigen Strukturen des Dienstes
der Caritas durch die Kirche im heutigen sozialen Umfeld (Nr. 30), wo es aufschlussreiche
Äußerungen zur Rolle der Medien, zur Globalisierung, zur Zusammenarbeit zwischen Staat
und Kirche, zum Ehrenamt und auch zur ökumenischen Kooperation gibt. Gleichzeitig
wird das spezifische Profil der kirchlichen Caritasarbeit hervorgehoben (vgl. Nr.
31) (Professionelle Kompetenz, Menschlichkeit, Unabhängigkeit, „Proselytismus“). Ausführlich
werden auch die Träger des caritativen Handelns der Kirche beschrieben, angefangen
vom Päpstlichen Rat „Cor Unum“ über die Caritasarbeit der Diözesen und Gemeinden bis
zu den einzelnen Mitarbeitern (vgl. Nr. 32). Hier wird immer wieder das Direktorium
„Apostolorum Successores“ der Kongregation für die Bischöfe vom Jahr 2004 erwähnt
(demnächst in deutscher Übersetzung). Das Programm heißt: „Kirche als Familie Gottes
muss heute wie gestern ein Ort der gegenseitigen Hilfe sein und zugleich ein Ort der
Dienstbereitschaft für alle der Hilfe Bedürftigen, auch wenn diese nicht zur Kirche
gehören.“ (Nr. 32) Es wird an die Pflichten aller Amtsträger erinnert. Die besonderen
Anforderungen an die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sind unüberhörbar (vgl. vor
allem 34ff.). Die Unentbehrlichkeit des Gebetes wird herausgestellt (vgl. 36/37).
Aber mit aller Deutlichkeit heißt es auch: „Die Frömmigkeit schwächt nicht den Kampf
gegen die Armut oder sogar das Elend des Nächsten.“ Schließlich wird aufgezeigt, wie
Glaube, Hoffnung und Liebe zusammengehören (Nr. 39). Von der Liebe sagt der Papst
am Ende der Nr. 39, mit der der zweite Teil schließt: „Sie ist das Licht – letztlich
das einzige –, das eine dunkle Welt immer wieder erhellt und uns den Mut zum Leben
und zum Handeln gibt. Die Liebe ist möglich, und wir können sie tun, weil wir nach
Gottes Bild geschaffen sind. Die Liebe zu verwirklichen und damit das Licht Gottes
in die Welt einzulassen – dazu möchte ich mit diesem Rundschreiben einladen.“ Der
Schluss (Nr. 40-42) bringt mit eindrucksvollen Hinweisen auf die Heiligen als berühmte
Vorbilder gelebter Caritas, angefangen vom hl. Martin bis zur seligen Theresia von
Kalkutta, und besonders auf Maria, wie die Gottesmutter vor allem im Magnificat erscheint,
eine lebendige Bestätigung und Bekräftigung des Gesagten. Die Enzyklika spricht
für sich selbst. Die beiden Teile sind bei aller Verschiedenheit eng miteinander verbunden.
Das Weltrundschreiben ist wirklich für die ganze Welt geschrieben. Deshalb darf man
nicht die Lösung einzelner Probleme in spezifischen Ländern suchen. Es geht dem Papst
um die grundlegenden Haltungen des Christen in unserer Welt. Ja, es geht um die Grundhaltung
schlechthin, nämlich der Liebe. Der Papst geht damit ganz bewusst hinein in das Zentrum
der christlichen Botschaft. Am Ende der einleitenden Nr. 1 sagt er auch deutlich,
dass dies „eine Botschaft von hoher Aktualität und von ganz praktischer Bedeutung“
ist. Er hebt den programmatischen Aspekt der Enzyklika hervor, wenn er seine Absicht
sieht, „darin – zu Beginn meines Pontifikats – einige wesentliche Punkte über die
Liebe, die Gott dem Menschen in geheimnisvoller Weise und völlig vorleistungsfrei
anbietet, zu klären und zugleich die innere Verbindung zwischen dieser Liebe Gottes
und der Realität der menschlichen Liebe aufzuzeigen.“ (Nr. 1) Ich bin überzeugt, dass
der Papst angesichts der Situation in der Welt und im Blick auf die Chance des christlichen
Glaubens ins Schwarze trifft. In diesem Sinne begrüßen wir Bischöfe – aber nicht nur
wir – dankbar die Wahl und Durchführung des Themas. Es ermutigt uns, gerade auch in
unseren Bemühungen um Gerechtigkeit und Liebe, nicht zuletzt auch angesichts der heutigen
Not des Sozialstaates. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der vielfältigen Caritas
werden dadurch ermutigt, ebenso alle politisch tätigen Frauen und Männer. Es wird
auch deutlich gesagt, wie die Verantwortlichkeiten in Politik, Gesellschaft und Kirche
in ihrer Verschiedenheit und in ihrem Zusammenwirken gesehen werden sollten. Die
Enzyklika schöpft aus der Fülle des christlichen Glaubens. In den knapp 40 Anmerkungen
werden die Kirchenväter aus Ost und West, die Päpste des letzten Jahrhunderts, das
Zweite Vatikanische Konzil und vor allem die Bibel in beiden Testamenten gehörig zu
Wort gebracht. Die Heiligen als Zeugen fehlen nicht. Schließlich werden auch antike
Dichter und Schriftsteller (Vergil, Sallust) und große Denker zur Geltung gebracht
(Plato, Aristoteles, Descartes, Marx, Nietzsche). Natürlich hat der hl. Augustinus
bei dem Papst, der schon seine Doktorarbeit über ihn gemacht hat und ihn seither ständig
begleitet, einen hohen Rang. Auch die Überlegungen der vatikanischen Behörden und
Institutionen fehlen nicht. Es ist ein gleichmäßiges Berücksichtigen der Quellen des
Glaubens aus Schrift und Tradition, wie in einem bunten, sorgsam gewebten Teppich.
Der Papst hat kein leicht zu lesendes Schreiben hinterlassen, besonders im ersten
Teil. Die Sprache ist einfach, aber er verlangt dennoch die Anstrengung des Begriffs.
Dies ist eine Herausforderung gegen alle Schlagworte und nimmt uns in Anspruch, große
und auch heute aktuelle Tradition zu vergegenwärtigen. Bildung und Kirche gehören
von jeher zusammen, auch wenn dies manchmal vergessen wird. Und dies gilt gerade auch
angesichts der Nöte unserer Welt. Über den ökumenischen Aspekt habe ich schon
eingangs gesprochen. Dieser Zusammenhang kommt direkt nur an einer Stelle vor (vgl.
Nr. 30, Ende), aber es ist wohl überdeutlich geworden, dass diese Enzyklika durch
den tiefen Rückgang auf die Bibel und die grundlegende Botschaft, die von den anderen
Kirchen wohl nicht sehr verschieden gesehen werden kann, einen radikalen ökumenischen
Charakter hat, auch wenn dieser mehr mittelbar in Erscheinung tritt. Auch die Wahl
des heutigen Tages spricht ja auch eine eigene Sprache. Es ist ein theologisch,
spirituell, pastoral und sozial tief angelegter Impuls, mit dem der Papst uns für
die Sendung in der heutigen Welt mehr Mut machen will. Dafür danken wir ihm.