Vergangenen Sonntag sollten die Haitianer einen neuen Präsidenten wählen, doch bereits
zum fünften Mal haben die Behörden den Wahltermin verschoben. Übergangsregierungschef
Gérard Latortue soll im Februar seinen Stuhl räumen. Das allein wird jedoch nichts
an der katastrophalen Lage des Karibikstaats ändern. Die Infrastruktur ist völlig
zerstört, sagt Jean Paul Muller, Leiter der internationalen Koordinierungsstelle der
Salesianer Don Boscos in Bonn. Laut offiziellen Berichten heißt es, man kann die Wahlzettel
den Menschen nicht zustellen. Doch das ist eine Farce, so Müller:
"Es ist
tatsächlich so: Es gibt ja gar keine Post, es gibt keine Briefträger mehr. Das sagt
man aber nicht. Es gibt ein einziges Chaos in diesem Land und keine Strukturen mehr.
Und das ist der eigentliche Grund. Man fürchtet weitere Unruhen, weil ganz viele junge
Leute mittlerweile sehr gut mit Waffen versorgt sind und diese auch überall benutzen.
Niemand weiß mehr genau, wer hat das Sagen, wer hat das Recht. Polizisten haben überhaupt
keine Möglichkeit mehr, weil die Gangs wesentlich besser bewaffnet sind. Dahinter
steckt aber auch eine Perspektivlosigkeit des Übergangspräsidenten, der sich zurückgezogen
hat und bei jeder Gelegenheit betont, dass er an sich ja nicht mehr Präsident sein
will."
Anarchie und Gewalt sind eine Ursache für dieses Chaos, extreme
Armut eine andere.
"Ich habe kaum ein Land gesehen, wo Menschen in so ärmlichen
Zuständen leben müssen, wo kein fließendes Wasser mehr da ist. Bei diesen vielen Regenfällen
staut sich das Wasser auf dem Lehmboden, und die Menschen sitzen tatsächlich im Schmuddelwasser
auf dem dreckigen Boden. Sie haben auch nur das nötigste zum Essen. Es gibt viele,
die ihre Kinder uns Touristen anbieten, nach dem Motto 'Nimm mein Kind und gib mir
etwas zu essen'."
Erst im Juli vergangen Jahres war die Zahl der Blauhelm-Soldaten
in der Hauptstadt Port-au-Prince aufgestockt worden. Doch die öffentliche Sicherheit
sei dadurch nicht besser geworden. Im Gegenteil, die Zahlen von Überfällen, Morden
an Zivilisten und Entführungen steigen.
"Ich will nicht sagen, dass es ein
Sport geworden ist, aber es ist eine Möglichkeit für diese Gangs Geld zu bekommen.
Zum Teil sind sie sehr unrealistisch. Sie haben jetzt zum Beispiel einen Salesianerpater
entführt, einen Mann der leitet ein Straßenkinderzentrum. In diesem Zentrum bekommen
jeden Tag Tausend Kinder eine warme Mahlzeit. Sie entführen den Pater im Glauben,
wenn er so viel Geld hat, um jeden Tag die Mahlzeiten herauszugeben, dann können wir
auch viel Geld erpressen. Die Gangs forderten zwei Millionen...Auf diesem Weg versuchen
sie an Geld zu bekommen, um Waffen oder Drogen zu kaufen."