"In der Wahrheit liegt der Friede" ist der Kernsatz der Papstbotschaft zum Weltfriedenstag
am 1. Januar. Benedikt XVI. hat seine Botschaft am Fest der Unbefleckten Empfängnis
unterzeichnet, heute wurde sie im Vatikan vorgestellt. Wir dokumentieren hier die
Gedanken des Papstes im Wortlaut:
In der Wahrheit liegt der Friede 1.
Mit der traditionellen Botschaft zum Weltfriedenstag am Beginn des neuen Jahresmöchte ich allen Männern und Frauen der Welt, besonders denen, die aufgrund von
Gewalt und bewaffneten Konflikten leiden, meine guten Wünsche zukommen lassen. Es
sind Wünsche voller Hoffnung auf eine entspanntere Welt, in der die Zahl derer zunimmt,
die sich — einzeln oder gemeinschaftlich — darum bemühen, die Wege der Gerechtigkeit
und des Friedens zu gehen. 2. Ich möchte sogleich meinen Vorgängern, den großen
Päpsten und erleuchteten Friedensstiftern Paul VI. und Johannes Paul II., meinen ehrlichen
Dank zollen. Beseelt vom Geist der Seligpreisungen, wußten sie in den zahlreichen
geschichtlichen Ereignissen, die ihre jeweiligen Pontifikate geprägt haben, das vorausschauende
Eingreifen Gottes zu erkennen, der die Schicksale der Menschen nie aus den Augen verliert.
Als unermüdliche Botschafter des Evangeliums haben sie immer wieder jeden Menschen
aufgefordert, von Gott auszugehen, um ein friedliches Zusammenleben in allen Teilen
der Erde zu fördern. An diese edle Lehre knüpft meine erste Botschaft zum Weltfriedenstag
an: Mit ihr möchte ich noch einmal den festen Willen des Heiligen Stuhls bestätigen,
weiterhin der Sache des Friedens zu dienen. Der Name Benedikt selbst, den ich am Tag
meiner Wahl auf den Stuhl Petri angenommen habe, weist auf meinen überzeugten Einsatz
für den Frieden hin. Ich wollte mich nämlich sowohl auf den heiligen Patron Europas,
den geistigen Urheber einer friedenstiftenden Zivilisation im gesamten Kontinent,
als auch auf Papst Benedikt XV. beziehen, der den Ersten Weltkrieg als ein »unnötiges
Blutbad« 1 verurteilte und sich dafür einsetzte, daß die übergeordneten
Gründe für den Frieden von allen anerkannt würden. 3. Das diesjährige Thema der
Überlegungen — »In der Wahrheit liegt der Friede« — bringt die Überzeugung
zum Ausdruck, daß der Mensch, wo und wann immer er sich vom Glanz der Wahrheit erleuchten
läßt, faßt selbstverständlich den Weg des Friedens einschlägt. Die pastorale Konstitution
Gaudium et spes des Zweiten Vatikanischen Konzils, das vor 40 Jahren abgeschlossen
wurde, stellt fest, daß es der Menschheit nur dann gelingen wird, »die Welt für alle
wirklich menschlicher zu gestalten [...], wenn alle sich in einer inneren Erneuerung
der Wahrheit des Friedens zuwenden«.2 Doch welche Bedeutungen will der
Ausdruck »Wahrheit des Friedens« ins Bewußtsein rufen? Um diese Frage in angemessener
Weise zu beantworten, muß man sich vergegenwärtigen, daß der Friede nicht auf das
bloße Nichtvorhandensein bewaffneter Konflikte zu reduzieren ist, sondern verstanden
werden muß als »die Frucht der Ordnung, die ihr göttlicher Gründer selbst in die menschliche
Gesellschaft eingestiftet hat«, eine Ordnung, »die von den nach immer vollkommenerer
Gerechtigkeit strebenden Menschen verwirklicht werden muß«.3 Als Ergebnis
einer von der Liebe Gottes entworfenen und gewollten Ordnung besitzt der Friede eine
ihm innewohnende und unüberwindliche Wahrheit und entspricht »einer Sehnsucht und
einer Hoffnung, die unzerstörbar in uns lebendig sind«.4 4. In dieser
Weise beschrieben, gestaltet sich der Friede als himmlische Gabe und göttliche Gnade,
die auf allen Ebenen die praktische Übernahme der größten Verantwortung erfordert,
nämlich der, die menschliche Geschichte in Wahrheit, Gerechtigkeit, Freiheit und Liebe
der göttlichen Ordnung anzupassen. Wenn man sich nicht mehr an die transzendente Ordnung
der Dinge hält und die »Grammatik« des Dialogs, das in das Herz des Menschen eingeschriebene
allgemeine Sittengesetz,5 nicht mehr anerkennt, wenn die ganzheitliche
Entwicklung der Person und der Schutz ihrer Grundrechte behindert und verhindert wird,
wenn viele Völker gezwungen sind, unerträgliche Ungerechtigkeiten und Mißverhältnisse
zu erleiden, wie kann man dann auf die Verwirklichung jenes Gutes hoffen, das der
Friede ist? Damit schwinden nämlich die wesentlichen Elemente dahin, die der Wahrheit
jenes Gutes Gestalt verleihen. Der heilige Augustinus hat den Frieden beschrieben
als »tranquillitas ordinis«,6 als die Ruhe der Ordnung, das heißt
als die Situation, die letztlich ermöglicht, die Wahrheit des Menschen vollständig
zu achten und zu verwirklichen. 5. Wer und was kann also die Verwirklichung des
Friedens verhindern? In diesem Zusammenhang betont die Heilige Schrift in ihrem ersten
Buch, der Genesis, die Lüge, die zu Beginn der Geschichte von dem doppelzüngigen
Wesen ausgesprochen wurde, das der Evangelist Johannes als den »Vater der Lüge« bezeichnet
(Joh 8,44). Die Lüge ist auch eine der Sünden, welche die Bibel im letzten
Kapitel ihres letzten Buches, der Offenbarung, erwähnt, um den Ausschluß der
Lügner aus dem himmlischen Jerusalem anzukündigen: »Draußen bleibt ... jeder, der
die Lüge liebt und tut« (Offb 22,15). Mit der Lüge ist das Drama der Sünde
mit ihren perversen Folgen verbunden, die verheerende Auswirkungen im Leben der Einzelnen
sowie der Nationen verursacht haben und weiter verursachen. Man denke nur daran, was
im vergangenen Jahrhundert geschehen ist, als irrige ideologische und politische Systeme
die Wahrheit planmäßig verfälschten und so zur Ausbeutung und Unterdrückung einer
erschütternden Anzahl von Menschen führten, ja, sogar ganze Familien und Gemeinschaften
ausrotteten. Wie könnte man nach diesen Erfahrungen nicht ernstlich besorgt sein angesichts
der Lügen unserer Zeit, die den Rahmen bilden für bedrohliche Szenerien des Todes
in nicht wenigen Regionen der Welt? Die echte Suche nach Frieden muß von dem Bewußtsein
ausgehen, daß das Problem der Wahrheit und der Lüge jeden Menschen betrifft und sich
als entscheidend erweist für eine friedliche Zukunft unseres Planeten. 6. Der Friede
ist eine nicht zu unterdrückende Sehnsucht im Herzen eines jeden Menschen, jenseits
aller spezifischen kulturellen Eigenheiten. Gerade deshalb muß jeder sich dem Dienst
an einem so kostbaren Gut verpflichtet fühlen und sich dafür einsetzen, daß sich keine
Form der Unwahrheit einschleicht, um die Beziehungen zu vergiften. Alle Menschen gehören
ein und derselben Familie an. Die übertriebene Verherrlichung der eigenen Verschiedenheit
steht im Widerspruch zu dieser Grundwahrheit. Man muß das Bewußtsein, durch ein und
dasselbe, letztlich transzendente Schicksal vereint zu sein, wiedererlangen, um die
eigenen historischen und kulturellen Verschiedenheiten am besten zur Geltung bringen
zu können, indem man sich den Angehörigen der anderen Kulturen nicht entgegenstellt,
sondern sich mit ihnen abstimmt. Diese einfachen Wahrheiten sind es, die den Frieden
ermöglichen; sie werden leicht verständlich, wenn man mit lauteren Absichten auf das
eigene Herz hört. Dann erscheint der Friede in neuer Weise: nicht als bloßes Nichtvorhandensein
von Krieg, sondern als Zusammenleben der einzelnen Menschen in einer von der Gerechtigkeit
geregelten Gesellschaft, in der so weit wie möglich auch das Wohl eines jeden von
ihnen verwirklicht wird. Die Wahrheit des Friedens ruft alle dazu auf, fruchtbare
und aufrichtige Beziehungen zu pflegen, und regt dazu an, die Wege des Verzeihens
und der Versöhnung zu suchen und zu gehen sowie ehrlich zu sein in den Verhandlungen
und treu zum einmal gegebenen Wort zu stehen. Besonders der Jünger Jesu, der sich
vom Bösen bedroht fühlt und deshalb spürt, daß er das befreiende Eingreifen des göttlichen
Meisters braucht, wendet sich vertrauensvoll an ihn in dem Bewußtsein, daß »er keine
Sünde begangen hat und in seinem Mund kein trügerisches Wort war« (vgl. 1 Petr
2,22; vgl. auch Jes 53,9). Jesus hat sich nämlich als die Wahrheit in Person
bezeichnet und in seinen Worten, die er in einer Vision an den Seher der Apokalypse
richtete, tiefe Abneigung erklärt gegen jeden, »der die Lüge liebt und tut« (Offb
22,15). Er ist es, der die volle Wahrheit des Menschen und der Geschichte enthüllt.
Mit der Kraft seiner Gnade ist es möglich, in der Wahrheit zu stehen und aus der Wahrheit
zu leben, denn nur er ist völlig wahrhaftig und treu. Jesus ist die Wahrheit, die
uns den Frieden gibt. 7. Die Wahrheit des Friedens muß auch dann gelten und ihren
heilsamen Lichtglanz zur Geltung bringen, wenn man sich in der tragischen Situation
des Krieges befinden sollte. Die Konzilsväter des Zweiten Vatikanischen Konzils betonen
in der pastoralen Konstitution Gaudium et spes, daß »nicht deshalb, weil ein
Krieg unglücklicherweise ausgebrochen ist, damit nun jedes Kampfmittel zwischen den
gegnerischen Parteien erlaubt« ist.7 Die Internationale Gemeinschaft hat
ein internationales Menschenrecht aufgestellt, um die verheerenden Folgen des Krieges
vor allem für die Zivilbevölkerung so weit wie möglich zu begrenzen. Bei vielen Gelegenheiten
und auf verschiedene Weise hat der Heilige Stuhl aus der Überzeugung heraus, daß auch
im Krieg die Wahrheit des Friedens existiert, seine Unterstützung für dieses Menschenrecht
zum Ausdruck gebracht und auf dessen Achtung und schnelle Verwirklichung gedrängt.
Das internationale Menschenrecht ist zu den glücklichsten und wirkungsvollsten Ausdrucksformen
jener Ansprüche zu rechnen, die sich aus der Wahrheit des Friedens ergeben. Gerade
deshalb erscheint die Achtung dieses Rechtes notwendig als eine Pflicht für alle Völker.
Sein Wert ist zu würdigen und seine korrekte Anwendung zu gewährleisten, indem es
durch genaue Vorschriften aktualisiert wird, die imstande sind, den veränderlichen
Gegebenheiten der modernen bewaffneten Konflikte sowie der Verwendung ständig neuer,
immer hochentwickelterer Waffensysteme entgegenzutreten. 8. In Dankbarkeit denke
ich an die Internationalen Organisationen und an alle, die ohne Unterlaß mit aller
Kraft für die Anwendung des internationalen Menschenrechts wirken. Wie könnte ich
an dieser Stelle die vielen Soldaten vergessen, die in heiklen Operationen zur Beilegung
der Konflikte und zur Wiederherstellung der zur Verwirklichung des Friedens notwendigen
Bedingungen eingesetzt sind? Auch ihnen möchte ich die Worte des Zweiten Vatikanischen
Konzils ins Bewußtsein rufen: »Wer als Soldat im Dienst des Vaterlandes steht, betrachte
sich als Diener der Sicherheit und Freiheit der Völker. Indem er diese Aufgabe recht
erfüllt, trägt er wahrhaft zur Festigung des Friedens bei«.8 An dieser
anspruchsvollen Front ist das Wirken der Militärordinariate der katholischen Kirche
angesiedelt. Ebenso wie den Militärbischöfen gilt auch den Militärseelsorgern meine
Ermutigung, in jeglicher Situation und Umgebung treue Verkünder der Wahrheit des Friedens
zu bleiben. 9. Bis zum heutigen Tag ist die Wahrheit des Friedens immer noch auf
dramatische Weise gefährdet und geleugnet durch den Terrorismus, der mit seinen Drohungen
und seinen kriminellen Handlungen imstande ist, die Welt im Zustand der Angst und
der Unsicherheit zu halten. Meine Vorgänger Paul VI. und Johannes Paul II. sind mehrmals
eingeschritten, um öffentlich auf die schreckliche Verantwortung der Terroristen hinzuweisen
und die Unbesonnenheit ihrer Todespläne zu verurteilen. Solche Pläne sind nämlich
von einem tragischen und erschütternden Nihilismus inspiriert, den Papst Johannes
Paul II. mit folgenden Worten beschrieb: »Wer durch die Ausführung von Terroranschlägen
tötet, hegt Gefühle der Verachtung für die Menschheit und manifestiert Hoffnungslosigkeit
gegenüber dem Leben und der Zukunft. Alles kann aus dieser Sicht gehaßt und zerstört
werden«.9 Nicht nur der Nihilismus, sondern auch der religiöse Fanatismus,
der heute oft als Fundamentalismus bezeichnet wird, kann terroristische Vorhaben und
Handlungen inspirieren und nähren. Da Johannes Paul II. von Anfang an die explosive
Gefahr erahnte, die der fanatische Fundamentalismus darstellt, prangerte er ihn hart
an und warnte vor der Anmaßung, anderen die eigene Überzeugung bezüglich der Wahrheit
mit Gewalt aufzuzwingen, anstatt sie ihnen als ein freies Angebot vorzulegen. Er schrieb:
»Die Anmaßung, das, was man selbst für die Wahrheit hält, anderen gewaltsam aufzuzwingen,
bedeutet, daß dadurch die Würde des Menschen verletzt und schließlich Gott, dessen
Abbild er ist, beleidigt wird«.10 10. Genau betrachtet, stehen der Nihilismus
und der Fundamentalismus in einem falschen Verhältnis zur Wahrheit: Die Nihilisten
leugnen die Existenz jeglicher Wahrheit, die Fundamentalisten erheben den Anspruch,
sie mit Gewalt aufzwingen zu können. Obwohl sie verschiedenen Ursprungs sind und in
unterschiedlichen kulturellen Zusammenhängen beheimatete Erscheinungen darstellen,
stimmen Nihilismus und Fundamentalismus überein in einer gefährlichen Verachtung des
Menschen und seines Lebens und — im Endeffekt — Gottes selbst. An der Basis dieses
gemeinsamen tragischen Resultates steht nämlich letztlich die Verdrehung der vollen
Wahrheit Gottes: Der Nihilismus leugnet seine Existenz und seine sorgende Gegenwart
in der Geschichte; der fanatische Fundamentalismus verzerrt sein liebevolles und barmherziges
Angesicht und setzt an seine Stelle nach eigenem Bild gestaltete Götzen. Es ist zu
wünschen, daß man sich bei der Analyse der Ursachen des zeitgenössischen Phänomens
des Terrorismus außer den Gründen politischen und sozialen Charakters auch die kulturellen,
religiösen und ideologischen Motive vor Augen hält. 11. Angesichts der Gefahren,
die die Menschheit in dieser unserer Zeit erlebt, ist es Aufgabe aller Katholiken,
in allen Teilen der Welt das »Evangelium des Friedens« vermehrt zu verkündigen und
stärker Zeugnis dafür zu geben sowie deutlich klarzustellen, daß die Anerkennung der
vollständigen Wahrheit Gottes die unerläßliche Vorbedingung für die Stärkung der Wahrheit
des Friedens ist. Gott ist Liebe, die rettet, ein liebevoller Vater, der sehen möchte,
daß seine Kinder sich gegenseitig als Geschwister erkennen, die verantwortlich danach
streben, die verschiedenen Begabungen in den Dienst des Allgemeinwohls der menschlichen
Familie zu stellen. Gott ist eine unerschöpfliche Quelle der Hoffnung, die dem persönlichen
wie dem kollektiven Leben Sinn verleiht. Gott, allein Gott läßt jedes gute Werk und
jedes Werk des Friedens wirksam werden. Die Geschichte hat reichlich bewiesen, daß
der Kampf gegen Gott, um ihn aus den Herzen der Menschen zu vertilgen, die Menschheit
verängstigt und verarmt in Entscheidungen führt, die keine Zukunft besitzen. Das muß
die Christgläubigen anspornen, überzeugende Zeugen des Gottes zu werden, der untrennbar
Wahrheit und Liebe ist, indem sie sich in einer umfassenden Zusammenarbeit auf ökumenischer
Ebene und im Kontakt mit den anderen Religionen sowie mit allen Menschen guten Willens
in den Dienst des Friedens stellen. 12. Wenn wir die derzeitige weltweite Situation
betrachten, können wir mit Freude einige vielversprechende Zeichen auf dem Weg der
Herstellung des Friedens feststellen. Ich denke zum Beispiel an den zahlenmäßigen
Rückgang der bewaffneten Konflikte. Gewiß handelt es sich dabei um noch sehr zaghafte
Schritte auf dem Weg des Friedens, doch sind sie schon imstande, eine entspanntere
Zukunft in Aussicht zu stellen, besonders für die gequälten Völker Palästinas, des
Landes Jesu, und für die Bewohner einiger Regionen Afrikas und Asiens, die seit Jahren
auf einen positiven Abschluß der eingeleiteten Wege der Befriedung und Versöhnung
warten. Es sind tröstliche Zeichen, die bestätigt und stabilisiert werden müssen durch
ein einmütiges und unermüdliches Handeln vor allem seitens der Internationalen Gemeinschaft
und ihrer Organe, deren Aufgabe es ist, drohenden Konflikten vorzubeugen und bestehenden
friedliche Lösungen zu verschaffen. 13. All das darf jedoch nicht zu einem naiven
Optimismus verführen. Man darf ja nicht vergessen, daß blutige Bruderkriege und verheerende
kriegerische Auseinandersetzungen, die in weiten Zonen der Erde Tränen und Tod verbreiten,
leider immer noch fortdauern. Es gibt Situationen, in denen der Konflikt, der wie
das Feuer unter der Asche weiterschwelt, erneut entflammen und Zerstörungen unvorhersehbaren
Ausmaßes verursachen kann. Die Autoritäten, die, anstatt alles zu tun, was in ihrer
Macht liegt, um den Frieden wirksam zu fördern, in den Bürgern Gefühle der Feindseligkeit
gegenüber anderen Nationen schüren, laden eine äußerst schwere Verantwortung auf sich:
Sie setzen in besonders gefährdeten Regionen das sensible, in mühsamen Verhandlungen
errungene Gleichgewicht aufs Spiel und tragen so dazu bei, die Zukunft der Menschheit
noch unsicherer und verworrener zu gestalten. Und was soll man dann über die Regierungen
sagen, die sich auf Nuklearwaffen verlassen, um die Sicherheit ihrer Länder zu gewährleisten?
Gemeinsam mit unzähligen Menschen guten Willens kann man behaupten, daß diese Sichtweise
nicht nur verhängnisvoll, sondern völlig trügerisch ist. In einem Atomkrieg gäbe es
nämlich keine Sieger, sondern nur Opfer. Die Wahrheit des Friedens verlangt, daß alle
— sowohl die Regierungen, die erklärtermaßen oder insgeheim Atomwaffen besitzen, als
auch jene, die sie sich verschaffen wollen — mit klaren und festen Entscheidungen
gemeinsam auf Gegenkurs gehen und sich auf eine fortschreitende und miteinander vereinbarte
Atomabrüstung ausrichten. Die auf diese Weise eingesparten Geldmittel können in Entwicklungsprojekte
zugunsten aller Einwohner, an erster Stelle der Ärmsten, investiert werden. 14.
In diesem Zusammenhang kann man nicht umhin, mit Bitterkeit die Daten eines besorgniserregenden
Anstiegs der Militärausgaben und des stets blühenden Waffenhandels festzustellen,
während der von der Internationalen Gemeinschaft in Gang gesetzte politische und rechtliche
Prozeß zur Unterstützung einer fortschreitenden Abrüstung im Sumpf einer nahezu allgemeinen
Gleichgültigkeit stagniert. Wie soll denn jemals eine Zukunft in Frieden möglich sein,
wenn man fortfährt, in die Waffenproduktion und in die Forschung zur Entwicklung neuer
Waffen zu investieren? Der Wunsch, der aus der Tiefe des Herzens aufsteigt, ist, daß
die Internationale Gemeinschaft wieder den Mut und die Weisheit aufzubringen wisse,
überzeugt und vereint die Abrüstung zu propagieren und so dem Recht auf Frieden, das
jedem Menschen und jedem Volk zusteht, konkret zur Anwendung zu verhelfen. Wenn sich
die verschiedenen Organe der Internationalen Gemeinschaft für die Rettung des Gutes
des Friedens einsetzen, können sie jenes Ansehen wiedergewinnen, das unentbehrlich
ist, um ihre Initiativen glaubwürdig und wirksam zu machen. 15. Die Ersten, die
aus einer überzeugten Entscheidung für die Abrüstung einen Vorteil ziehen werden,
sind die armen Länder, die nach vielen Versprechungen zu Recht die konkrete Verwirklichung
ihres Rechtes auf Entwicklung einfordern. Ein solches Recht wurde auch in der jüngsten
Generalversammlung der Organisation der Vereinten Nationen, die in diesem Jahr den
60. Jahrestag ihrer Gründung begangen hat, erneut feierlich bestätigt. Die katholische
Kirche bekräftigt ihr Vertrauen in diese internationale Organisation und wünscht ihr
zugleich eine institutionelle und operative Erneuerung, die ihr ermöglicht, den veränderten
Anforderungen der heutigen, vom umfassenden Phänomen der Globalisierung gekennzeichneten
Zeit zu entsprechen. Die Organisation der Vereinten Nationen muß im Rahmen der Förderung
der Werte der Gerechtigkeit, der Solidarität und des Friedens ein immer wirkungsvolleres
Instrument werden. Die Kirche ihrerseits wird nicht müde, in Treue zu der Aufgabe,
die sie von ihrem Gründer empfangen hat, überall das »Evangelium des Friedens« zu
verkünden. Da sie von dem festen Bewußtsein durchdrungen ist, denen, die sich der
Förderung des Friedens widmen, einen unentbehrlichen Dienst zu leisten, ruft sie allen
ins Gedächtnis, daß der Friede, um authentisch und anhaltend zu sein, auf dem Fels
der Wahrheit Gottes und der Wahrheit des Menschen aufgebaut sein muß. Allein diese
Wahrheit kann die Herzen empfindsam für die Gerechtigkeit machen, sie der Liebe und
der Solidarität öffnen und alle ermutigen, für eine wirklich freie und solidarische
Menschheit zu arbeiten. Ja, allein auf der Wahrheit Gottes und des Menschen ruhen
die Fundamente eines echten Friedens. 16. Zum Abschluß dieser Botschaft möchte
ich mich nun speziell an diejenigen wenden, die an Christus glauben, um sie erneut
aufzufordern, aufmerksame und verfügbare Jünger des Herrn zu werden. Indem wir auf
das Evangelium hören, liebe Brüder und Schwestern, lernen wir, den Frieden auf die
Wahrheit eines täglichen Lebens zu gründen, das sich am Gebot der Liebe orientiert.
Es ist notwendig, daß jede Gemeinde in einem intensiven und weit gestreuten Einsatz
durch Erziehung und Zeugnis in jedem das Bewußtsein wachsen läßt für die Dringlichkeit,
die Wahrheit des Friedens immer tiefer zu entdecken. Zugleich bitte ich darum, das
Gebet zu verstärken, denn der Friede ist vor allem ein Geschenk Gottes, das unaufhörlich
erfleht werden muß. Dank der göttlichen Hilfe wird die Verkündigung der Wahrheit des
Friedens und das Zeugnis für sie mit Sicherheit überzeugender und erhellender erscheinen.
Wenden wir vertrauensvoll und in kindlicher Hingabe unseren Blick auf Maria, die Mutter
des Friedensfürstes. Am Anfang dieses neuen Jahres bitten wir sie, dem gesamten Gottesvolk
zu helfen, in jeder Lage Friedensstifter zu sein, indem es sich erleuchten läßt von
der Wahrheit, die frei macht (vgl. Joh 8,32). Möge die Menschheit auf ihre
Fürsprache hin eine immer größere Wertschätzung für dieses grundlegende Gut entwickeln
und sich dafür einsetzen, sein Vorhandensein in der Welt zu festigen, um den nachwachsenden
Generationen eine unbeschwertere und sicherere Zukunft zu übergeben.1Aufruf
an die Staatsoberhäupter der kriegführenden Völker (1. August 1917): AAS
9 (1917) 423. 2Nr. 77. 3Ebd., 78. 4Johannes
Paul II., Botschaft zum Weltfriedenstag 2004, 9. 5Vgl. Johannes
Paul II., Rede vor der 50. Generalversammlung der Vereinten Nationen (5. Oktober
1995), 3. 6De civitate Dei, 19, 13. 7Nr. 79. 8Ebd. 9Botschaft
zum Weltfriedenstag 2002, 6. 10Ebd.