2005-06-05 16:54:50

Genscher, Europäischer Prozess behält Bedeutung


Europa ist das Thema der Woche. Heute sind die Schweizer aufgerufen, über einen möglichen Beitritt zum Schengener Abkommen abzustimmen. In gewisser Weise noch ein EU-Referendum. Frankreich und die Niederlande haben vergangene Woche in einer Volksabstimmung den Verfassungsvertrag der Europäischen Union abgelehnt. Ist Europa nun in der Krise? Ludwig Waldmüller wollte das von Hans-Dietrich Genscher wissen. Der ehemalige deutsche Außenminister ist einer der ganz Großen im Prozess der Europäischen Einigung:

"Die beiden Nein kamen ja nicht überraschend, sondern man musste sich darauf einstellen. Aber es muss auch klar sein, die zehn Ja werden dadurch nicht irrelevant, sondern die zehn Ja beanspruchen den Respekt, den diese Entscheidungen für zehn Mitgliedsländer bedeuten. Nun kommt es darauf an, dass die Länder, die sich noch nicht entschieden haben, diese Entscheidung auch treffen. Darauf hat die Arbeit des Konvents, darauf haben die Entscheidungen des Europäischen Rates Anspruch."

Man spricht in letzter Zeit immer wieder von einer Krise in Europa. In Deutschland gibt es eine Regierungskrise, in Großbritannien hat die Blair-Regierung weniger Stimmen bekommen, in Italien gibt es Schwierigkeiten... Sehen Sie es auch so, dass Europ derzeit in einer Krise steckt?

"Das Nein in Frankreich, das Nein in den Niederlanden, bedeutet natürlich eine kritische Situation für den Fortschritt in der Europäischen Union, aber wenn in einzelnen Mitgliedstaaten Neuwahlen anstehen oder Regierungen innere Probleme haben, so hat das nichts mit einer Krise der Europäischen Union zu tun - solange sich daraus nicht Handlungsunfähigkeit in europäischen Fragen ergibt. Deshalb ist es auch außerordentlich wichtig, dass beim Europäischen Rat in der übernächsten Woche die anstehenden Entscheidungen getroffen werden. Bei einer Gemeinschaft von 25 Staaten gibt es immer Länder, die gerade vor einer Wahl stehen, oder andere, die eine innenpolitische Krise zu meistern haben. Das kann und darf die Europäische Union in ihrer Handlungsfähigkeit nicht beeinträchtigen und das unter Beweis zu stellen gibt die Entscheidung über die mittelfristige Finanzplanung der Europäischen Union eine gute Gelegenheit."

Was sind denn Ihrer Meinung nach die Gründe dafür, dass man sich in den Niederlanden und in Frankreich gegen die Verfassung ausgesprochen hat. Ist das eine grundsätzliche Europa-Skepsis?

"Nein, das ist nicht eine grundlegende Europa-Skepsis, das gilt genauso für Frankreich wie für die Niederlande, wenngleich offensichtlich die Gründe für die Ablehnung in beiden Ländern unterschiedlich, zum Teil gegenläufig sind. Hier gibt es eine ganze Reihe von Motiven: Einmal war es in Frankreich offenkundig, dass man der Regierung eine Niederlage bereiten wollte. Es haben offensichtlich auch Leute mit Nein gestimmt, die eigentlich in ihrer Grundsatzeinstellung für Fortschritte in der europäischen Einigung sind. Und die Tatsache, dass der Präsident eine neue Regierung bestimmt, zeigt ja, dass er die Lehren aus diesem Referendum in gewisser Weise versteht. Es gibt ein zweites Phänomen in fast allen Mitgliedstaaten, das gilt zum Beispiel auch für Deutschland, dass Probleme, die es im eigenen Land gibt mit dem Hinweis auf 'die da in Brüssel' entschuldigt werden. Eigene Fehler werden sozusagen Brüssel angelastet, so als ob Brüssel eine fremde Macht wäre, die außerirdisch über uns hereinbricht, während Brüssel unsere Einrichtung ist. Ohne Zweifel werden bei der Europäischen Union Sorgen und Probleme abgeladen, die eigentlich mit der Globalisierung zu tun haben."

Woher kommt dieses falsche Bild? Weil die Politiker ihre Arbeit nicht gemacht haben, haben die Journalisten falsche informiert, haben die Leute Europa einfach nicht verstanden...

 
"Ich glaube schon, dass im Kreis der Politiker die Neigung, Europa eigene Versäumnisse anzulasten, die Globalisierung als Phänomen Europa zu übertragen, eine gewisse Rolle mit spielt. Das kann man auch nicht bei bestimmten politischen Richtungen festmachen, sondern das sind Phänomene, mit denen wir es in allen Ländern zu tun haben. Umso wichtiger ist es, dass diese Signale ernst genommen werden. Ich glaube, dass auch die Kommission sich Gedanken machen muss, ob sie jede Frage mit einem Perfektionismus regeln muss, wie sie es tut, dass sie vielleicht auch in der öffentlichen Vorbereitungen, von Entscheidungen, die sie vorschlägt, sensibler mit den Gefühlen, auch der Meinungsbildung in den Mitgliedstaaten umgeht."
(rv 05.06.05 lw/bp)







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