Kardinaldekan Joseph Ratzinger war Hauptzelebrant der Messe "pro eligendo papa". Im
Anschluss an seine Predigt gab es spontanen Beifall - von den Gläubigen im Petersdom
wie auch von den Kardinälen. Lesen Sie hier die Predigt in in unserer Übersetzung
aus dem Italienischen:
"In dieser Stunde großer Verantwortung wollen wir mit besonderer Aufmerksamkeit auf
das hören, was der Herr uns mit seinen eigenen Worten sagt. Aus den drei Lesungen
möchte ich nur ein paar Abschnitte herausgreifen, die uns in einem Moment wie diesem
direkt angehen.
Die erste Lesung bietet ein prophetisches Bild der Figur des Messias – ein Bild, das
seine ganze Bedeutung aus dem Moment erhält, in dem Jesus diesen Text in der Synagoge
von Nazareth liest, wo er sagt: „Heute hat sich dieses Schriftwort erfüllt“ (Lk 4,
21). Im Zentrum des prophetischen Textes finden wir ein Wort, das – zumindest auf
den ersten Blick – widersprüchlich erscheint. Der Messias sagt da, während er von
sich spricht, er sei gesandt, um „ein Gnadenjahr des Herrn auszurufen, einen Tag der
Vergeltung unseres Gottes“ (Jes 61,2). Wir hören mit Freude die Ankündigung des Gnadenjahres:
die göttliche Barmherzigkeit setzt dem Bösen eine Grenze – das hat uns der Heilige
Vater gesagt. Jesus Christus ist die göttliche Barmherzigkeit in Person: Christus
begegnen, heißt der Barmherzigkeit Gottes begegnen. Der Auftrag Christi ist durch
die priesterliche Salbung zu unserem Auftrag geworden; wir sind dazu berufen, nicht
nur mit Worten, sondern auch mit dem ganzen Leben und den wirksamen Zeichen der Sakramente
das „Gnadenjahr des Herrn“ auszurufen. Aber was will Jesaja sagen, wenn er einen „Tag
der Vergeltung unseres Gottes“ ankündigt? Jesus hat in Nazareth, als er diesen Prophetentext
vorlas, diese Worte nicht verkündigt – er hörte damit auf, dass das Gnadenjahr des
Herrn ausgerufen wird. Vielleicht ist das der Grund für den Skandal gewesen, der nach
seiner Predigt ausbrach? Wir wissen es nicht. Auf jeden Fall hat der Herr seinen authentischen
Kommentar zu diesen Worten gegeben – mit seinem Tod am Kreuz. „Er hat unsere Sünden
mit seinem Leib auf das Holz des Kreuzes getragen…“ (1 Petr 2, 24), sagt der heilige
Petrus. Und der heilige Paulus schreibt an die Galater: „Christus hat uns vom Fluch
des Gesetzes freigekauft, indem er für uns zum Fluch geworden ist; denn es steht in
der Schrift: Verflucht ist jeder, der am Pfahl hängt. Jesus Christus hat uns freigekauft,
damit den Heiden durch ihn der Segen Abrahams zuteil wird und wir so aufgrund des
Glaubens den verheißenen Geist empfangen“ (Gal 3, 13).
Die Barmherzigkeit Christi ist keine Gnade zu einem billigen Preis, sie legt nicht
die Banalisierung des Bösen zugrunde. Christus trägt in seinem Leib und auf seiner
Seele das ganze Gewicht des Bösen, seine ganze zerstörende Kraft. Er verbrennt und
formt das Böse im Leid um, im Feuer seiner leidenden Liebe. Der Tag der Vergeltung
und das Gnadenjahr fallen im Ostergeheimnis zusammen, im gestorbenen und auferstandenen
Christus. Das ist die Vergeltung Gottes: Er selbst, in der Person des Sohnes, leidet
für uns. Je mehr wir von der Barmherzigkeit des Herrn getroffen werden, desto mehr
treten wir in die Solidarität mit seinem Leiden ein – wir werden bereit, in unserem
Fleisch das zu ergänzen „was an den Leiden Christi noch fehlt“ (Kol 1, 24).
Gehen wir zur zweiten Lesung, zum Epheserbrief. Hier handelt es sich im Prinzip um
drei Dinge: Zuallererst um die Dienste und Charismen in der Kirche als Gaben des auferstandenen
und zum Himmel aufgefahrenen Herrn; dann um die Reifung des Glaubens und der Erkenntnis
des Sohnes Gottes als Bedingung und Inhalt der Einheit im Leib Christi; und schließlich
um die gemeinsame Teilnahme am Wachsen des Leibes Christi, das heißt der Verwandlung
der Welt in der Gemeinschaft mit dem Herrn.
Bleiben wir nur bei zwei Punkten. Der erste ist der Weg in Richtung der „Reifung Christi“;
so heißt es etwas vereinfachend im italienischen Text. Richtiger müssen wir gemäß
dem griechischen Text vom „Maß der Fülle Christi“ sprechen, die zu erreichen wir berufen
sind, um wirklich erwachsen im Glauben zu sein. Im Glauben sollten wir keine Kinder
bleiben, in einem Status der Unmündigkeit. Und worin besteht das „unmündige Kinder
sein“ im Glauben? Der heilige Paulus antwortet: „ein Spiel der Wellen, hin und her
getrieben von jedem Widerstreit der Meinungen“ (Eph 4, 14). Eine sehr aktuelle Beschreibung!
Wie vielen Widerstreit der Wellen haben wir in den letzten Jahrzehnten kennen gelernt,
wie viele ideologische Strömungen, wie viele Denkweisen… Das kleine Boot des Denkens
vieler Christen ist nicht selten von diesen Wellen umher geworfen worden – von einem
Extrem ins andere: Vom Marxismus zum Liberalismus, bis hin zum Libertinismus; vom
Kollektivismus zum radikalen Individualismus; vom Atheismus hin zu einem vagen religiösen
Mystizismus, vom Agnostizismus zum Synkretismus und so weiter. Jeden Tag entstehen
neue Sekten und es realisiert sich das, was der heilige Paulus über den Betrug der
Menschen sagt, über die Verschlagenheit, die in die Irre führt (vgl. Eph 4, 14). Einen
klaren Glauben zu haben, gemäß dem Credo der Kirche, wird oft als Fundamentalismus
hingestellt. Während der Relativismus, also das „hin und her getrieben Sein vom Widerstreit
der Meinungen“ als die einzige Einstellung erscheint, die auf der Höhe der heutigen
Zeit ist. Es konstituiert sich eine Diktatur des Relativismus, die nichts als definitiv
anerkennt und die als letztes Maß nur das Ich und seine Bedürfnisse lässt.
Wir aber haben ein anderes Maß: Den Sohn Gottes, den wahren Menschen. Er ist das Maß
des wahren Humanismus. „Reif“ ist nicht ein Glaube, der den Wellen der Mode und des
letzten Schreis folgt; erwachsen und reif ist ein Glaube, der tief in der Freundschaft
mit Christus verwurzelt ist. Es ist diese Freundschaft, die uns all dem gegenüber
öffnet, was gut ist und uns das Kriterium liefert, zwischen Wahr und Falsch zu unterscheiden,
zwischen Betrug und Wahrheit. Diesen erwachsenen Glauben müssen wir reifen lassen,
zu diesem müssen wir die Herde Christi führen. Und es ist dieser Glaube – nur der
Glaube –, der Einheit stiftet und sich in der Liebe verwirklicht.
Der heilige Paulus bietet uns dazu – im Unterschied zu den Wechselbädern jener, die
wie unmündige Kinder ein Spiel der Wellen sind – ein schönes Wort: Die Wahrheit in
der Liebe tun als Grundformel einer christlichen Existenz. In Christus fallen Wahrheit
und Liebe zusammen. In dem Maße, in dem wir uns Christus nähern, vertiefen sich auch
in unserem Leben Wahrheit und Liebe. Die Liebe ohne Wahrheit wäre blind; die Wahrheit
ohne Liebe wäre wie „dröhnendes Erz“ (1 Kor 13, 1).
Kommen wir nun zum Evangelium, aus dessen Reichtum ich nur zwei kleine Beobachtungen
herausnehmen möchte. Der Herr richtet an uns diese wunderbaren Worte: „Ich nenne euch
nicht mehr Knechte… vielmehr habe ich euch Freunde genannt“ (Joh 15, 15). Viele Male
meinen wir – was auch wahr ist –, nur unnütze Knechte zu sein (vgl. Lk 17, 10). Und
trotzdem nennt uns der Herr Freunde, macht er uns zu seinen Freunden, schenkt er uns
seine Freundschaft. Der Herr definiert Freundschaft in zweifacher Weise. Es gibt keine
Geheimnisse unter Freunden: Christus sagt uns alles, was er vom Vater hört; er schenkt
uns sein volles Vertrauen und mit seinem Vertrauen auch seine Erkenntnis. Er offenbart
uns sein Gesicht, sein Herz. Er zeigt uns seine Zärtlichkeit uns gegenüber, seine
leidenschaftliche Liebe, die bis zur Torheit des Kreuzes geht. Er vertraut sich uns
an, er gibt uns die Macht, mit seinem Ich zu sprechen: „das ist mein Leib…“, „ich
spreche dich los…“. Er vertraut uns seinen Leib, die Kirche, an. Er vertraut unseren
schwachen Geistern, unseren schwachen Händen, seine Wahrheit an – das Geheimnis des
Gottes Vater, Sohn und Heiliger Geist; das Geheimnis des Gottes, der „die Welt so
sehr geliebt hat, dass er seinen einzigen Sohn hingab“ (Joh 3, 16). Er hat uns zu
seinen Freunden gemacht – und wie antworten wir?
Das zweite Element, mit dem Jesus die Freundschaft definiert, ist die Gemeinschaft
der Willen. „Idem velle – idem nolle“ war auch für die Römer die Definition von Freundschaft.
„Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch auftrage“ (Joh 15, 14). Die Freundschaft
mit Christus fällt mit dem zusammen, was die dritte Bitte des Vater unsers ausdrückt:
„Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden“. In der Stunde des Getsemani hat
Jesus unseren aufrührerischen menschlichen Willen in einen gleichförmigen Willen verwandelt,
der mit dem göttlichen Willen vereint ist. Er hat das ganze Drama unserer Autonomie
erlitten – und indem er unseren Willen in die Hände Gottes legt, schenkt er uns die
wahre Freiheit: Freunde Jesu zu sein, Freunde Gottes zu werden. Je mehr wir Jesus
lieben, je mehr wir ihn kennen, desto mehr wächst unsere wahre Freiheit, wächst unsere
Freude darüber, erlöst zu sein. Danke, Jesus, für deine Freundschaft!
Das andere Element des Evangeliums, das ich kurz ansprechen wollte, ist die Rede Jesu
übers Fruchtbringen: „ich habe euch erwählt und dazu bestimmt, dass ihr euch aufmacht
und Frucht bringt und dass eure Frucht bleibt“ (Joh 15, 16). Hier erscheint die Dynamik
der Existenz des Christen, des Apostels: Ich habe euch erwählt, damit ihr euch aufmacht…
Wir müssen von einer heiligen Unruhe angerührt sein: der Unruhe, allen das Geschenk
des Glaubens, der Freundschaft mit Christus, zu bringen. In Wahrheit ist uns die Liebe,
die Freundschaft Gottes gegeben worden, damit sie auch die anderen erreiche. Wir haben
den Glauben erhalten, um ihn anderen zu schenken – wir sind Priester, um anderen zu
dienen. Und wir müssen eine Frucht bringen, die bleibt. Alle Menschen wollen Spuren
hinterlassen, die bleibt. Aber was bleibt? Das Geld nicht. Auch die Gebäude bleiben
nicht; die Bücher auch nicht. Nach einer gewissen Zeit, die mehr oder weniger lang
ist, verschwinden all diese Dinge. Die einzige Sache, die in Ewigkeit bleibt, ist
die menschliche Seele, der Mensch, der von Gott für die Ewigkeit geschaffen ist. Die
Frucht, die bleibt, ist daher das, was wir in den menschlichen Seelen gesät haben
– die Liebe, die Erkenntnis; die Handlung, die fähig ist, das Herz zu treffen; das
Wort, das die Seele zur Freude am Herrn öffnet. Also machen wir uns auf und bitten
wir den Herrn, dass er uns helfe, Frucht zu bringen, eine Frucht, die bleibt. Nur
so wird die Erde umgewandelt aus einem Tal der Tränen in den Garten Gottes.
Kommen wir schließlich noch einmal zum Epheserbrief zurück. Der Brief sagt mit den
Worten von Psalm 69: „er gab den Menschen Geschenke“ (Eph 4, 8). Der Sieger verteilt
Geschenke. Und diese Geschenke sind Apostel, Propheten, Evangelisten, Hirten und Lehrer.
Unser Dienst ist ein Geschenk Christi an die Menschen, um seinen Leib aufzubauen –
eine neue Welt. Leben wir unser Leben so, als Geschenk Christi für die Menschen! Aber
in dieser Stunde bitten wir den Herrn vor allem eindringlich, dass er uns nach dem
großen Geschenk Papst Johannes Pauls II. uns wieder einen Hirten nach seinem Herzen
schenke, einen Hirten, der zur Erkenntnis Christi führt, zu seiner Liebe, zur wahren
Freude. Amen."
(Übersetzung
von Ludwig Waldmüller)