2005-04-03 17:35:52

Bericht: Ich habe den aufgebahrten Papst gesehen


Erstaunlich einfach, in den Vatikan hineinzukommen - viel einfacher als zu Lebzeiten des Papstes. Damals kam man oft auch mit einem Radio-Vatikan-Ausweis, der so genannten "Tessera", nicht weit. Heute dagegen winkten mich die Schweizer Gardisten und die italienischen "Vigili" (Polizisten) einfach so durch. Mein Ziel: die Sala Clementina, wo der tote Papst aufgebahrt liegt.
Am Anna-Tor, dem im Alltag wichtigsten Vatikan-Zugang, weil man dort am schnellsten im Vatikan-Supermarkt oder im Gesundheitszentrum ist, eine lange Schlange - aber diese Leute wollen nicht zum toten Johannes Paul, sondern noch eine Ausgabe des "Sterbe"-Osservatore ergattern, also der Vatikanzeitung mit dem schwarzen Rand und der Todesanzeige auf dem Titel. Im Apostolischen Palast - dort, wo der Papst wohnte - stauen sich dann aber schwarz oder grau gekleidete Besucher vor den zwei Aufzügen, die hoch zu den "Loggien" führen. Ich nehme also eine steile, dunkle Treppe, auf der mein Handy "Kein Netz" anzeigt.
Es ist schwül-warm - als ich oben in eine im 18. oder 19. Jahrhundert im pompejanischen Stil ausgemalte Loggia trete, einen langen Gang, bin ich ganz außer Atem. Überall Schweizergardisten, aber ernst, nicht ganz so wachsam wie sonst, die Pike aufgepflanzt. Am Ende des Ganges sehe ich viele Italiener in Schwarz, einige Kardinäle und Bischöfe - und, durch zwei weit offenstehende Türen, den Papst. Den verstorbenen Papst.
Ehrlich gesagt: Es ist ein schockierendes Bild. Es sieht "in echt" viel schlimmer als als im Fernsehen, das ihn gnädigerweise immer nur aus zwei Perspektiven zeigt. Von der Seite springt sein Kinn stark hervor; das Gesicht ist blaß, abgekämpft, der Mund wie schmerzverzerrt; der Kopf wirkt fast eingeschrumpft unter der großen Mitra. Die Starre dieses Menschen, den wir alle immer, auch noch vor ein paar Tagen, so aktiv und rege gesehen haben, ist erschreckend. Früher zitterte alles an ihm, wegen Parkinson. Wo das Zittern war, ist jetzt nur noch Starre.
Der Papst wirkt stark gealtert - vielleicht war sein quälend langes Sterben gar nicht so leicht, wie Vatikan-Statements suggerieren.
Ich stelle mich, rechts, in eine kleine Schlange von Wartenden - darunter auch einige polnische Priester, erstaunlich viele italienische Familien im Sonntagsstaat, Frauen, die sich zuflüstern: "Hinknien! Und dann ein Kreuzzeichen!" Manchmal klingelt verstohlen ein Handy. Aus der "Sala Clementina", in der Johannes Paul aufgebahrt liegt, dringt das betörende Gemurmel von Rosenkranz, Psalmen, Evangelien. Alles auf italienisch.
Dann darf unsere Schlange die "Sala" vom Fußende her betreten, genau dem aufgebahrten Johannes Paul gegenüber. Oben Renaissance-Fresken, viel Licht, das durch die Fenster hereinströmt; Kardinäle, Bischöfe, Priester, viele Gardisten oder Sicherheitsbeamte in Zivil mit ihren Familien. Die Atmosphäre ist ernst, aber doch geschäftig, nicht verkrampft. Links und rechts vom Papst knien Beter, darunter ein afrikanischer Kardinal und die drei polnischen Schwestern, die Johannes Paul jahrzehntelang den Haushalt geführt haben. Links, auf einem kleinen Podest, surrt eine Kamera des Vatikan-Fernsehens.
Einzeln tritt aus unserer Schlange jeweils ein Wartender vor, verneigt sich vor dem aufgebahrten Papst, schlägt ein Kreuz oder macht eine Kniebeuge - danach wird man von Ordnern wieder zum Ausgang dirigiert. Den Papst "von unten" zu sehen, in der perspektivischen Verkürzung, die an Mantegnas Mailänder Bild vom toten Christus erinnert, ist sehr ungewohnt. Die schwarzen Schuhe des polnischen Pontifex sind von unten ziemlich abgelaufen. Von hier sieht das Gesicht Johannes Pauls stark geschminkt aus, sein Mund noch verzerrter. Der Moment, in dem man dann vor dem toten Johannes Paul steht - er ist bewegend, aufwühlend. Dieser Menschenfischer, geboren im kleinen Kaff Wadowice zur K.u.K.-Zeit - jetzt hier, umgeben von lauter Italienern. -
Eine kleine Abordnung der jüdischen Gemeinschaft Roms wird von Vatikan-Mitarbeitern vorgeschleust, steht einen Moment schweigend, Kippas auf dem Kopf, vor dem Leichnam des Papstes. Auch eine orthodoxe Delegation kommt. Und der Reisemarschall des Papstes, der jetzt seine letzte Reise angetreten hat. Rechts steht die Tür offen, durch die es zu den Privatgemächern des Verstorbenen geht. Manche hier im Saal weinen, viele beten, die meisten wirken nachdenklich-gefaßt. Der Papst ist eingerahmt von einem Kruzifix und einer brennenden Osterkerze. Ein Kardinal im Rollstuhl bahnt sich einen Weg mit einer Art Fahrradklingel. Ich erkenne ihn: Es ist Kardinal Deskur, ein alter Freund des Verstorbenen. Sein erster Ausbruch aus dem Vatikan, gleich nach der Wahl, hatte Johannes Paul II. 1978 an das Krankenbett von Deskur (damals noch kein Kardinal) geführt, der Krebs hatte. An vielen Sonntagen war Deskur später beim Papst zum Essen, hat ihm angeblich Witze erzählt, während Johannes Paul sich eine Zigarre gönnte. Jetzt hat der damals so kranke Deskur seinen Freund Johannes Paul überlebt.
Ich nehme den Rückweg durch den Damasushof und das Bronzetor, den Haupteingang des Apostolischen Palastes. Der Kontrast zwischen den ruhigen, langen Fluren des Vatikans, in denen sich die Menschen verlieren, und der riesigen Menschenmenge auf dem Petersplatz ist unglaublich. Mir will das Gesicht von Johannes Paul nicht aus dem Kopf. Ich schäme mich etwas, dass ich da wie ein Paparazzo `reingegangen bin. Aber hat dieser Papst uns Medienleute nicht bis zuletzt ertragen und sogar gelobt und ermutigt? Was für ein großmütiger Mensch. Ich hoffe, er ist wirklich friedlich gestorben. Das ist eigentlich gar kein richtiges Gesicht mehr. Stattdessen - fast schon sowas wie eine Ikone.
(Stefan Kempis, Radio Vatikan)







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