Zum ersten Mal seit über zwanzig Jahren hat Papst Johannes Paul nicht persönlich am
traditionellen Karfreitags-Kreuzweg am Kolosseum teilgenommen. Kardinalvikar Camillo
Ruini leitete an seiner Stelle die Feier. Er verlas am Anfang der Andacht eine kurze
Botschaft Johannes Pauls:
"Ich bin im Geist mit euch am Kolosseum, einem Ort, der in mir viele Erinnerungen
und Gefühle weckt, um den Ritus des Kreuzwegs an diesem Karfreitagsabend zu vollziehen.
Auch ich opfere mein Leiden auf, damit sich der Plan Gottes erfülle und sein Wort
zu den Völkern gehe. Ich bin all jenen nahe, die in diesem Moment leiden müssen. Ich
bete für einen jeden von ihnen!"
Der Papst verfolgte die Feier in seiner Privatkapelle im Apostolischen Palast via
Fernsehen. Mehrmals war er durch eine Videoschaltung am Kolosseum zu sehen. Während
der vierzehnten Station hielt der Papst ein großes Holzkreuz in den Händen. Die Kamera
zeigte den Papst allerdings nur von hinten; sein Gesicht konnte man nicht sehen. Johannes
Paul trug eine rote Stola über dem weißen Talar - und brachte so zum Ausdruck, dass
er an der Feier direkt teilnimmt.
„Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es
aber stirbt, bringt es reiche Frucht“. Diesen Ausspruch Jesu hatte Kardinal Joseph
Ratzinger über die
Meditationen zum diesjährigen Kreuzweg gestellt.
Der Kardinal nützte seine Meditationen auch mehrmals, um Kritik an der Gesellschaftsordnung
zu üben und zu Gerechtigkeit. So hieß es in der Zweiten Station:
"Der als Pseudokönig verurteilte Jesus wird verspottet, aber im Spott kommt auf grausame
Weise Wahrheit zum Vorschein. Wie oft sind Insignien der Macht, die die Mächtigen
der Welt tragen, Hohn auf die Wahrheit, auf die Gerechtigkeit, auf die Menschenwürde.
Wie oft sind ihre Rituale und ihre großen Worte in Wahrheit nichts als pompöse Lügen,
Karikaturen des Auftrags, den ihnen ihr Amt gibt: Im Dienst des Guten zu stehen."
Ausdrücklich thematisierte er die Lebensethik. Vor allem an Naturwissenschaft, Klonen
und Stammzellforschung dachte er wohl, als er das Gebet zur dritten Station schrieb:
"Der Hochmut, daß wir selber Menschen machen können, hat uns dazu geführt, daß Menschen
wie Ware geworden sind, daß sie gekauft und verkauft werden, daß sie Vorratslager
für unser Machen sind, mit dem wir selber den Tod zu überwinden hoffen, dabei aber
nur immer tiefer die Würde des Menschen erniedrigen. Herr, komm unserm Fall zu Hilfe."
Besonders deutlich wurde Ratzinger in seiner Meditation in der neunten Station - dem
dritten Fall Jesu unter dem Kreuz: Der Zustand der Kirche ist kritisch:
Müssen wir nicht auch daran denken, wie viel Christus in seiner Kirche selbst erleiden
muß? Wie oft wird das heilige Sakrament seiner Gegenwart mißbraucht, in welche Leere
und Bosheit des Herzens tritt er da oft hinein? Wie oft feiern wir nur uns selbst
und nehmen ihn gar nicht wahr? Wie oft wird sein Wort verdreht und mißbraucht? Wie
wenig Glaube ist in so vielen Theorien, wie viel leeres Gerede gibt es? Wie viel Schmutz
gibt es in der Kirche und gerade auch unter denen, die im Priestertum ihm ganz zugehören
sollten? Wie viel Hochmut und Selbstherrlichkeit? Wie wenig achten wir das Sakrament
der Versöhnung, in dem er uns erwartet, um uns von unserem Fall aufzurichten? All
das ist in seiner Passion gegenwärtig.
Und so hieß es dann auch im Gebet:
"Herr, oft erscheint uns deine Kirche wie ein sinkendes Boot, das schon voll Wasser
gelaufen und ganz und gar leck ist. Und auf deinem Ackerfeld sehen wir mehr Unkraut
als Weizen. Aber wir selber sind es doch, die sie verschmutzen. Wir selber verraten
dich immer wieder nach allen großen Worten und Gebärden. Erbarme dich deiner Kirche:
Auch mitten in ihr fällt Adam immer wieder Du bist aufgestanden – auferstanden und
du kannst auch uns wieder aufrichten. Heile und heilige deine Kirche. Heile und heilige
uns."
Mehrere Tausend Menschen waren am Kolosseum anwesend - und in 39 Länder wurde die
Feier über Fernsehen und Radio übertragen. Neben Kardinal Ruini trugen das Kreuz auch
etwa Ordensleute, ein Jugendlicher der zwei Familien. Die Kreuzwege am Kolosseum gibt
es seit 1975. Der Papst hat in der Vergangenheit verschiedene Persönlichkeiten gebeten,
die Meditationen zu verfassen, darunter der Ökumenische Patriarch von Konstantinopel,
Bartholomaios I., oder 14 Vatikanjournalisten, die normalerweise über den Papst und
die Kurie berichten.
(rv 26. 3. 05 lw)