Tausende von Menschen haben am Karfreitag Abend, 25. März 2005, am traditionellen
Kreuzweg am römischen Kolosseum teilgenommen. Der Papst war trotz seiner Krankheit
per Video-Zuschaltung aus dem Vatikan präsent. Die Texte des Kreuzwegs stammen diesmal
von Kardinal Joseph Ratzinger, dem Dekan des Kardinalskollegiums und Präfekten der
vatikanischen Glaubenskongregation. Hier ist der volle Text von Ratzingers Betrachtungen.
Kreuzweg 2005
Einführung
Das Leitmotiv dieses Kreuzwegs erscheint zu Beginn, im Vorbereitungsgebet, und dann
von neuem in der 14. Station. Es ist das Wort Jesu vom Palmsonntag, mit dem er – unmittelbar
nach seinem Einzug in Jerusalem – auf die Bitte einiger Griechen antwortet, die Jesus
sehen wollten: „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es
allein; wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht“ (Joh 12, 24). Der Herr deutet
damit seinen ganzen irdischen Weg als Weg des Weizenkorns, der nur durch den Tod hindurch
zur Frucht führt. Er deutet sein irdisches Leben, sein Sterben und Auferstehen auf
die heiligste Eucharistie hin, in der sein ganzes Geheimnis zusammengefaßt erscheint.
Weil er seinen Tod als einen Akt der Hingabe, der Liebe vollzogen hat, darum ist sein
Leib in das neue Leben der Auferstehung hinein verwandelt worden. Darum ist er, das
fleischgewordene Wort, nun unsere Nahrung zum wirklichen, zum ewigen Leben hin. Das
ewige Wort – die schöpferische Kraft des Lebens – ist vom Himmel herabgestiegen und
so wirklich „Manna“ geworden, Brot, das sich den Menschen in Glaube und Sakrament
mitteilt. So wird Kreuzweg zu einem Weg ins eucharistische Geheimnis hinein: Die Volksfrömmigkeit
und die sakramentale Frömmigkeit der Kirche verbinden sich und gehen ineinander. Das
Beten des Kreuzwegs ist so verstanden als ein Weg in die innere, geistliche Kommunion
mit Jesus hinein, ohne die die sakramentale Kommunion leer bliebe. Der Kreuzweg erscheint
als „mystagogischer“ Weg.
Diese Sicht steht einem bloß sentimentalen Verstehen des Kreuzwegs entgegen, deren
Gefahr der Herr in der 8. Station den weinenden Frauen von Jerusalem entgegenhält.
Bloßes Gefühl reicht nicht; der Kreuzweg soll eine Schule des Glaubens sein – jenes
Glaubens, der seinem Wesen nach „in der Liebe wirksam“ wird (Gal 5, 6). Aber das bedeutet
doch keinen Ausschluß der Gefühle. Die Väter haben als ein Grundlaster der Heiden
ihre Fühllosigkeit angesehen; sie führen damit die Vision Ezechiels weiter, der dem
Volk Israel die Verheißung Gottes weitergibt, daß er das Herz von Stein aus ihrer
Brust nehmen und ihnen ein Herz von Fleisch geben werde (Ez 11, 19). Der Kreuzweg
zeigt uns den Gott, der selbst mit den Menschen mit-leidet, dessen Liebe nicht in
einer fernen Höhe unberührt bleibt, sondern heruntersteigt zu uns, bis in den Tod
am Kreuz hinein (vgl. Phil 2, 8). Der mit-leidende Gott, der Mensch wurde, um unser
Kreuz zu tragen, will unser steinernes Herz verwandeln und uns zum Mit-leiden rufen,
uns das „Herz von Fleisch“ geben, das nicht an der Not des anderen vorübergehen kann,
sondern sich verwunden läßt und zur heilenden und helfenden Liebe führt. Damit kehren
wir wieder zurück zu Jesu Wort vom Weizenkorn, das er selber in die Grundformel christlicher
Existenz übersetzt, die so lautet: „Wer an seinem Leben hängt, verliert es; wer aber
sein Leben in dieser Welt geringachtet, wird es bewahren ins ewige Leben“ (Joh 12,
25; vgl. Mt 16, 25; Mk 8, 35; Lk 9, 24; 17, 33: „Wer sein Leben zu bewahren sucht,
wird es verlieren; wer es dagegen verliert, wird es gewinnen“). Damit sagt er uns
zugleich, was der Satz bedeutet, der in den synoptischen Evangelien diesem Zentralwort
seiner Botschaft vorangeht: „Wer mein Jünger sein will, der verleugne sich selbst,
nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach“ (Mt 16, 24). In all diesen Worten zusammen
deutet er uns selber, was „Kreuzweg“ ist – wie wir ihn beten und gehen sollen: Der
Kreuzweg ist der Weg des Sichverlierens, das heißt der Weg der wahren Liebe. Diesen
Weg ist er uns vorangegangen, diesen Weg will uns der gebetete Kreuzweg lehren. Und
damit sind wir wieder beim gestorbenen Weizenkorn – bei der heiligsten Eucharistie
angelangt, in der immerfort die Frucht von Jesu Sterben und Auferstehen unter uns
gegenwärtig wird. In ihr geht er mit uns wie einst mit den Jüngern von Emmaus und
wird uns immerfort von neuem gleichzeitig.
Vorbereitungsgebet
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.
R. Amen.
Herr Jesus Christus, du hast für uns das Geschick des Weizenkorns auf dich genommen,
das in die Erde fällt und stirbt, um so reiche Frucht zu tragen (Joh 12, 24). Du lädst
uns ein, dir nachzufolgen auf diesem Weg, wenn du uns sagst: „Wer an seinem Leben
hängt, verliert es; wer aber sein Leben in dieser Welt geringachtet, wird es bewahren
bis ins ewige Leben“ (12, 25). Wir aber hängen an unserem Leben. Wir wollen es nicht
weggeben, sondern ganz für uns selber haben. Wir wollen es besitzen, nicht hingeben.
Du aber gehst uns voraus und zeigst uns, daß wir das Leben nur gewinnen, indem wir
es geben. Im Mitgehen auf deinem Kreuzweg willst du uns auf den Weg des Weizenkorns
mitnehmen, der der Weg zur Fruchtbarkeit ist, die in die Ewigkeit hineinreicht. Das
Kreuz – das Geben unserer Selbst – lastet schwer auf uns. Aber du hast auf deinem
Kreuzweg auch mein Kreuz getragen – nein, du hast es nicht irgendwann in der Vergangenheit
getragen, denn deine Liebe ist meinem Leben gleichzeitig. Du trägst es heute mit mir
und für mich, und wunderbarer Weise willst du, daß nun ich wie einst Simon von Zyrene
auch meinerseits dein Kreuz mittrage und im Mitgehen mit dir in den Dienst der Erlösung
der Welt trete. Hilf mir, daß mein Kreuzweg nicht bloß das fromme Gefühl eines Augenblicks
sei. Hilf uns, nicht nur mit hohen Gedanken mit dir mitzugehen, sondern uns mit dem
Herzen, ja mit den ganz praktischen Schritten unseres Alltags deinen Weg zu gehen.
Hilf, daß wir im Kreuzweg uns mit unserem ganzen Sein auf den Weg machen und so immerfort
auf deinem Weg bleiben. Nimm uns die Furcht vor dem Kreuz, die Furcht vor dem Spott
der anderen, die Furcht, wir könnten das eigene Leben verpassen, wenn wir nicht alles
an uns reißen, was Leben verspricht. Hilf uns, die Verführungen zu durchschauen, die
uns Leben verheißen, deren Geschenke uns am Ende aber nur leer und enttäuscht zurücklassen.
Hilf uns, Leben nicht zu nehmen, sondern zu geben. Hilf uns, im Mitgehen auf dem Weg
des Weizenkorns, im „Verlieren des Lebens“ den Weg der Liebe zu finden – den Weg,
der uns wahrhaft Leben, Leben in Fülle schenkt (Joh 10, 10).
ERSTE STATION
Jesus wird zum Tode verurteilt
Aus dem heiligen Evangelium nach Matthäus. 27, 22-23.26
Pilatus sagte zu ihnen: Was soll ich dann mit Jesus tun, den man den Messias nennt?
Da schrien sie alle: Ans Kreuz mit ihm! Er erwiderte: Was für ein Verbrechen hat er
denn begangen? Da schrien sie noch lauter: Ans Kreuz mit ihm!
Darauf ließ er Barabbas frei und gab den Befehl, Jesus zu geißeln und zu kreuzigen.
BETRACHTUNG
Der Richter aller Welt, der einst wiederkommen wird, uns alle zu richten, steht zerschlagen
und geschändet, ohnmächtig vor dem weltlichen Richter. Pilatus ist nicht durch und
durch böse. Er weiß, daß dieser Angeklagte unschuldig ist; er sucht nach einem Weg,
ihn freizubekommen. Aber Pilatus ist halbherzig. Seine eigene Stellung, sein Selbst
ist ihm am Ende doch wichtiger als das Recht. Auch die Menschen, die laut schreien
und den Tod Jesu fordern, sind nicht durch und durch böse. Viele von ihnen wird es
am Pfingsttag „mitten ins Herz treffen“ (Apg 2, 37), wenn Petrus ihnen sagen wird:
„Jesus, den Gott vor euch beglaubigt hat... habt ihr durch die Hand von Gesetzlosen
ans Kreuz geschlagen...“ (Apg 2, 22f). Aber nun sind sie im Bann der Masse. Sie schreien,
weil die anderen schreien und wie sie schreien. Und so wird Gerechtigkeit zertreten
aus Feigheit und Trägheit des Herzens, aus Furcht vor dem Diktat der herrschenden
Meinungen. Die leise Stimme des Gewissens wird übertönt vom Geschrei der Menge. Die
Halbherzigkeit, die Menschenfurcht gibt dem Bösen die Macht.
GEBET
Herr, du bist zum Tod verurteilt worden, weil Menschenfurcht die Stimme des Gewissens
erstickte. Die ganze Geschichte hindurch werden so immer wieder die Unschuldigen geschlagen,
verurteilt und getötet. Wie oft haben wir selbst den Erfolg der Wahrheit, unser Ansehen
der Gerechtigkeit vorgezogen. Gib der leisen Stimme des Gewissens, deiner Stimme,
Macht in unserem Leben. Schau mich an, wie du Petrus nach der Verleugnung angesehen
hast. Laß deinen Blick in unsere Seele dringen und unserem Leben die Richtung geben.
Denen, die am Karfreitag gegen dich geschrieen hatten, hast du an Pfingsten die Erschütterung
des Herzens und die Bekehrung geschenkt. So hast du uns allen Hoffnung gegeben. Schenke
auch uns immer neu die Gnade der Bekehrung.
ZWEITE STATION
Jesus nimmt das Kreuz auf sich
Aus dem heiligen Evangelium nach Matthäus. 27, 27-31
Da nahmen die Soldaten des Statthalters Jesus, führten ihn in das Prätorium, das Amtsgebäude
des Statthalters, und versammelten die ganze Kohorte um ihn. Sie zogen ihn aus und
legten ihm einen purpurroten Mantel um. Dann flochten sie einen Kranz aus Dornen;
den setzten sie ihm auf und gaben ihm einen Stock in die rechte Hand. Sie fielen vor
ihm auf die Knie und verhöhnten ihn, indem sie riefen: Heil dir, König der Juden!
Und sie spuckten ihn an, nahmen ihm den Stock wieder weg und schlugen ihm damit auf
den Kopf. Nachdem sie so ihren Spott mit ihm getrieben hatten, nahmen sie ihm den
Mantel ab und zogen ihm seine eigenen Kleider wieder an.
BETRACHTUNG
Der als Pseudokönig verurteilte Jesus wird verspottet, aber im Spott kommt auf grausame
Weise Wahrheit zum Vorschein. Wie oft sind Insignien der Macht, die die Mächtigen
der Welt tragen, Hohn auf die Wahrheit, auf die Gerechtigkeit, auf die Menschenwürde.
Wie oft sind ihre Rituale und ihre großen Worte in Wahrheit nichts als pompöse Lügen,
Karikaturen des Auftrags, den ihnen ihr Amt gibt: Im Dienst des Guten zu stehen. Jesus,
der Verspottete, der die Krone des Leidens trägt, ist gerade so der wahre König. Sein
Zepter ist Gerechtigkeit (vgl. Ps 45, 7). Gerechtigkeit kostet Leiden in dieser Welt:
Er, der wahre König, herrscht nicht durch Gewalt, sondern durch die Liebe, die für
uns und mit uns leidet. Er nimmt das Kreuz auf sich – unser Kreuz, die Last des Menschseins,
die Last der Welt. So geht er uns voran und zeigt uns, wie wir den Weg zum wirklichen
Leben finden.
GEBET Herr, du hast dich verspotten und beschimpfen lassen. Hilf uns, daß wir nie
in den Spott auf die Leidenden und die Schwachen einstimmen. Hilf uns, in den Erniedrigten,
in den an den Rand Gestoßenen, dein Gesicht zu erkennen. Hilf uns, nicht vor dem Spott
der Welt zurückzuschrecken, wenn der Gehorsam gegen deinen Willen verächtlich gemacht
wird. Du hast das Kreuz getragen und uns eingeladen, dir auf diesem Weg nachzufolgen
(Mt 10, 38). Hilf uns, das Kreuz anzunehmen, nicht in die Betäubungen zu flüchten,
nicht zu murren und nicht finsteren Herzens zu werden ob der Mühsal unseres Lebens.
Hilf uns, den Weg der Liebe zu gehen – im Erleiden ihres Anspruchs zur wahren Freude
zu kommen.
DRITTE STATION
Jesus fällt zum ersten Male unter dem Kreuz
Aus dem Buch des Propheten Jesaja. 53, 4-6
Aber er hat unsere Krankheit getragen und unsere Schmerzen auf sich geladen. Wir meinten,
er sei von Gott geschlagen, von ihm getroffen und gebeugt. Doch er wurde durchbohrt
wegen unserer Verbrechen, wegen unserer Sünden zermalmt. Zu unserem Heil lag die Strafe
auf ihm, durch seine Wunden sind wir geheilt. Wir hatten uns alle verirrt wie Schafe,
jeder ging für sich seinen Weg. Doch der Herr lud auf ihn die Schuld von uns allen.
BETRACHTUNG
Der Mensch ist gefallen und fällt immer wieder: Wie oft wird der Mensch zur Karikatur
seiner selbst, nicht mehr Bild Gottes, sondern Spottbild auf den Schöpfer. Der Mann,
der auf dem Weg von Jerusalem nach Jericho unter die Räuber fiel und ausgeraubt, halbtot,
blutend am Straßenrand liegt – ist er nicht ein Bild des Menschen überhaupt? Der Fall
Jesu unter dem Kreuz ist nicht nur das Hinfallen des schon durch die Geißelung zu
Tode erschöpften Menschen Jesus. In diesem Fall bildet sich doch Tieferes ab, wie
es Paulus im Brief an die Philipper geschildert hat: „Er war Gott gleich, hielt aber
nicht daran fest, wie Gott zu sein, sondern entäußerte sich und wurde wie ein Sklave
und den Menschen gleich... Er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum
Tod am Kreuz“ (Phil 2, 6-8). Im Fallen Jesu unter der Last des Kreuzes erscheint sein
ganzer Weg: sein freiwilliger Abstieg, um uns von unserem Stolz aufzuheben. Und zugleich
erscheint das Wesen unseres Stolzes: der Hochmut, daß wir uns von Gott emanzipieren
und nur noch wir selber sein wollen, der Hochmut, daß wir der ewigen Liebe nicht zu
bedürfen glauben, sondern selber unser Leben einrichten möchten. In diesem Aufstand
gegen die Wahrheit, in diesem Versuch, uns selber Gott und unser eigener Schöpfer
und Richter zu sein, stürzen wir ab und fallen in die Selbstzerstörung hinunter. Jesu
Abstieg ist die Überwindung unseres Hochmuts, und mit seinem Abstieg hebt er uns auf:
Lassen wir uns aufheben. Streifen wir unsere Selbstherrlichkeit, unseren falschen
Autonomiewahn ab und lernen von ihm, dem Abgestiegenen, daß wir absteigend uns zu
Gott und zu den getretenen Brüdern wendend unsere wahre Größe finden.
GEBET
Herr Jesus, die Last des Kreuzes hat dich zu Boden geworfen. Die Last unserer Sünde,
die Last unseres Hochmuts drückt dich nieder. Aber dein Fall ist nicht dunkles Schicksal,
ist nicht bloße Schwachheit des Geschlagenen. Du wolltest zu uns kommen, die wir mit
unserem Hochmut am Boden liegen. Der Hochmut, daß wir selber Menschen machen können,
hat uns dazu geführt, daß Menschen wie Ware geworden sind, daß sie gekauft und verkauft
werden, daß sie Vorratslager für unser Machen sind, mit dem wir selber den Tod zu
überwinden hoffen, dabei aber nur immer tiefer die Würde des Menschen erniedrigen.
Herr, komm unserm Fall zu Hilfe. Hilf uns, daß wir von unserem zerstörerischen Hochmut
ablassen und durch das Lernen von deiner Demut wieder aufgerichtet werden.
VIERTE STATION
Jesus begegnet seiner betrübten Mutter
Aus dem heiligen Evangelium nach Lukas. 2, 34-35. 51
Simeon sagte zu Maria, der Mutter Jesu: Dieser ist dazu bestimmt, daß in Israel viele
durch ihn zu Fall kommen und viele aufgerichtet werden, und er wird ein Zeichen sein,
dem widersprochen wird. Dadurch sollen die Gedanken vieler Menschen offenbar werden.
Dir selbst aber wird ein Schwert durch die Seele dringen.
Seine Mutter bewahrte alles, was geschehen war, in ihrem Herzen.
BETRACHTUNG
Am Kreuzweg Jesu steht Maria, seine Mutter. Während des öffentlichen Lebens hatte
sie zurücktreten müssen, um dem Werden der neuen Familie Jesu, der Familie seiner
Jünger, Raum zu geben. Sie hatte die Worte hören müssen: „Wer ist meine Mutter und
wer sind meine Brüder?... Wer den Willen meines himmlischen Vaters erfüllt, der ist
für mich Bruder und Schwester und Mutter“ (Mt 12, 48-50). Nun zeigt sich, daß sie
nicht nur dem Leibe nach, sondern dem Herzen nach Mutter Jesu ist. Noch ehe sie ihn
im Leibe empfing, hatte sie ihn durch ihren Gehorsam im Herzen empfangen. Ihr war
gesagt worden: „Du wirst ein Kind empfangen, einen Sohn wirst du gebären... Er wird
groß sein... Gott der Herr wird ihm den Thron seines Vaters David geben“ (Lk 1, 31f).
Aber sie hatte wenig später aus dem Mund des greisen Simeon auch das andere Wort gehört:
„Dir wird ein Schwert durch die Seele dringen“ (Lk 2, 35). Und dabei mögen ihr Worte
aus den Propheten ins Bewußtsein getreten sein wie dieses: „Er wurde mißhandelt und
niedergetreten... Wie ein Lamm, das man zum Schlachten führt..., so tat auch er seinen
Mund nicht auf“ (Jes 53, 7). Nun war dies alles da. In ihrem Herzen wird sie immer
wieder auf das Wort gelauscht haben, das ihr der Engel ganz am Anfang gesagt hatte:
„Fürchte dich nicht, Maria“ (Lk 1, 30). Die Jünger sind geflohen, sie flüchtet nicht.
Sie steht da mit dem Mut der Mutter, mit der Treue der Mutter, mit der Güte der Mutter
und mit ihrem Glauben, der in den Finsternissen widersteht: „Selig, die du geglaubt
hast“ (Lk 1, 45). „Wird der Menschensohn, wenn er kommt, auf der Erde Glauben vorfinden?“
(Lk 18, 8). Ja, in diesem Augenblick weiß er es: Er findet Glauben. Das ist in dieser
Stunde sein großer Trost.
GEBET
Heilige Maria, Mutter des Herrn, du bist treu geblieben, als die Jünger flohen. Wie
du geglaubt hast, als der Engel dir das Unglaubliche verkündigte, Mutter des Allerhöchsten
zu werden, so hast du geglaubt in der Stunde seiner tiefsten Erniedrigung. So bist
du in der Stunde des Kreuzes, in der Stunde der dunkelsten Weltennacht Mutter der
Glaubenden, Mutter der Kirche geworden. Wir bitten dich: Lehre uns glauben und hilf
uns, daß der Glaube zum Mut des Dienens und zur Tat der helfenden und mit-leidenden
Liebe werde.
FÜNFTE STATION
Simon von Zyrene hilft Jesus das Kreuz tragen
Aus dem heiligen Evangelium nach Matthäus. 27, 32; 16, 24
Auf dem Weg trafen sie einen Mann aus Zyrene namens Simon; ihn zwangen sie, Jesus
das Kreuz zu tragen.
Darauf sagte Jesus zu seinen Jüngern: Wer mein Jünger sein will, der verleugne sich
selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach.
BETRACHTUNG
Simon von Zyrene hat seine Arbeit getan, er ist auf dem Weg nach Hause und begegnet
dem traurigen Zug der Verurteilten – für ihn wohl ein gewohnter Anblick. Die Soldaten
machen von ihrem Recht der Zwangsverpflichtung Gebrauch und legen dem rüstigen Landmann
das Kreuz auf. Welcher Widerspruch muß sich in ihm geregt haben, daß er plötzlich
mit in das Schicksal von Verurteilten verwickelt wurde! Er tut, was er muß, widerstrebend
gewiß. Aber Markus nennt mit ihm die Namen seiner Söhne, die den Lesern offensichtlich
als Christen und Mitglieder ihrer Gemeinschaft bekannt waren (Mk 15, 21). Aus der
unfreiwilligen Begegnung ist Glaube geworden. Der Zyrenäer hat im Mitgehen und Mittragen
erkannt, daß es Gnade war, mit diesem Gekreuzigten zu gehen und ihm beizustehen. Das
Geheimnis des leidenden und schweigenden Jesus hat ihn ins Herz getroffen. Jesus,
dessen göttliche Liebe allein die ganze Menschheit erlösen konnte und kann, will doch,
daß wir sein Kreuz mittragen, um voll zu machen, was an seinen Leiden noch fehlt (Kol
1, 24). Sooft wir einem Leidenden, einem Verfolgten und Ohnmächtigen in Güte begegnen
und ihm sein Leid zu tragen helfen, sooft tragen wir Jesu eigenes Kreuz mit. So empfangen
wir Heil und dürfen selbst zum Heil der Welt beitragen.
GEBET
Herr, du hast Simon von Zyrene die Augen und das Herz geöffnet, ihm im Mittragen des
Kreuzes die Gnade des Glaubens geschenkt. Hilf uns, dem leidenden Nächsten beizustehen,
auch wenn der Ruf dazu unseren Plänen und Sympathien widerspricht. Schenke uns zu
erkennen, daß es Gnade ist, das Kreuz der anderen mittragen zu dürfen und zu erfahren,
daß wir dabei mit dir selbst auf dem Wege sind. Gib uns, froh zu werden, daß wir im
Mitleiden mit dir und mit den Nöten dieser Welt Diener des Heils werden, helfen dürfen
im Aufbau deines Leibes, der Kirche.
SECHSTE STATION
Jesus nimmt von Veronika das Schweißtuch
Aus dem Buch des Propheten Jesaja. 53, 2-3
Er hatte keine schöne und edle Gestalt, so daß wir ihn anschauen mochten. Er sah nicht
so aus, daß wir Gefallen fanden an ihm. Er wurde verachtet und von den Menschen gemieden,
ein Mann voller Schmerzen, mit Krankheit vertraut. Wie einer, vor dem man das Gesicht
verhüllt, war er verachtet; wir schätzten ihn nicht.
Aus dem Buch der Psalmen. 27, 8-9
Mein Herz denkt an dein Wort: Sucht mein Angesicht! Dein Angesicht, Herr, will ich
suchen. Verbirg nicht dein Gesicht vor mir; weise deinen Knecht im Zorn nicht ab!
Du wurdest meine Hilfe. Verstoß mich nicht, verlaß mich nicht, du Gott meines Heiles!
BETRACHTUNG
„Dein Angesicht, Herr, suche ich. Verbirg nicht dein Gesicht vor mir“ (Ps 27, 8-9).
Veronika – Berenike nach der griechischen Tradition – verkörpert diese Sehnsucht aller
alttestamentlichen Frommen – die Sehnsucht aller glaubenden Menschen, das Antlitz
Gottes zu sehen. Am Kreuzweg Jesu tut sie freilich zunächst nur einfach einen Dienst
fraulicher Güte: Sie reicht Jesus ein Schweißtuch. Sie läßt sich von der Brutalität
der Soldaten nicht anstecken, von der Angst der Jünger nicht lähmen. Sie ist das Bild
der gütigen Frau, die in der Verstörung und Verfinsterung der Herzen den Mut der Güte
behält, ihr Herz nicht verfinstern läßt. „Selig, die reinen Herzens sind, denn sie
werden Gott schauen“, hatte der Herr in der Bergpredigt gesagt (Mt 5, 8). Veronika
sieht zunächst nur ein geschundenes, vom Schmerz gezeichnetes Menschengesicht. Aber
der Akt der Liebe prägt ihrem Herzen das wahre Bild Jesu ein: Im „Haupt voll Blut
und Wunden“ sieht sie das Gesicht Gottes und seiner Güte, die uns in die tiefsten
Schmerzen nachgeht. Nur mit dem Herzen können wir Jesus sehen. Nur die Liebe ist es,
die uns sehend und rein macht. Nur sie läßt uns Gott erkennen, der selbst die Liebe
ist.
GEBET Herr, gib uns die Unruhe des Herzens, die dein Antlitz sucht. Bewahre uns
vor der Erblindung des Herzens, das nur noch die Oberfläche der Dinge sieht. Gib uns
jene Lauterkeit und Reinheit, die uns hellsichtig macht für deine Gegenwart in der
Welt. Gib uns den Mut zur demütigen Güte, wo wir der großen Dinge nicht fähig sind.
Präge dein Antlitz in unsere Herzen ein, damit wir dir begegnen und dein Bild der
Welt zu zeigen vermögen.
SIEBTE STATION
Jesus fällt zum zweiten Male unter dem Kreuz
Aus dem Buch der Klagelieder. 3, 1-2.9.16
Ich bin der Mann, der Leid erlebt hat durch die Rute seines Grimms. Er hat mich getrieben
und gedrängt in Finsternis, nicht ins Licht. Mit Quadern hat er mir den Weg verriegelt,
meine Pfade irregeleitet.
Meine Zähne ließ er auf Kiesel beißen, er drückte mich in den Staub.
BETRACHTUNG
In der Überlieferung vom dreimaligen Fall Jesu und der Last des Kreuzes werden uns
die Dimensionen von Adams Fall – von unserem menschlichen Gefallensein – und das Geheimnis
von Jesu Absteigen in unsern Fall ausgelegt. Der Fall des Menschen nimmt in der Geschichte
immer neue Formen an. Der heilige Johannes spricht in seinem ersten Brief von einem
dreifachen Fall des Menschen: von der Begierde des Fleisches, von der Begierde der
Augen und vom Prahlen mit dem Besitz. Er deutet so auf dem Hintergrund der Laster
seiner Zeit mit ihren Exzessen und Perversionen den Sturz des Menschen und der Menschheit.
Aber wir können auch an die spätere Geschichte denken – daran, wie die Christenheit
des Glaubens müde den Herrn verläßt: in den großen Ideologien wie in der Banalisierung
des Menschen, die keine Ideologie mehr braucht, sondern sich einfach gehen läßt, ein
neues, schlimmeres Heidentum baut, Gott endgültig abschieben will und damit dabei
ist, den Menschen abzuschaffen. Der Mensch liegt im Staube. Der Herr trägt diese Last
und fällt und fällt, um zu uns zu kommen; er schaut uns an, damit das Herz in uns
wieder erwacht; er fällt, um uns aufzuheben.
GEBET
Herr Jesus Christus, du hast unsere Last getragen und trägst uns immerfort. Unsere
Last drückt dich zu Boden. Richte du uns wieder auf, da wir nicht aus Eigenem vom
Staub aufzustehen vermögen. Löse den Bann der Begierden. Gib uns statt des Herzens
von Stein wieder ein Herz von Fleisch, ein sehendes Herz. Brich die Macht der Ideologien,
daß die Menschen ihr lügnerisches Gewebe durchschauen. Laß die Mauer des Materialismus
nicht unübersteiglich werden. Laß uns dich wieder wahrnehmen. Mache uns nüchtern und
wachsam, um den Mächten des Bösen zu widerstehen, und hilf uns, die innere und die
äußere Not des anderen zu erkennen, ihm beizustehen. Richte uns auf, damit wir andere
aufrichten können. Gib uns Hoffnung in aller Dunkelheit, damit wir Hoffnungsträger
werden für die Welt.
ACHTE STATION
Jesus begegnet den weinenden Frauen von Jerusalem
Aus dem heiligen Evangelium nach Lukas. 23, 28-31
Jesus wandte sich zu ihnen um und sagte: Ihr Frauen von Jerusalem, weint nicht über
mich; weint über euch und eure Kinder! Denn es kommen Tage, da wird man sagen: Wohl
den Frauen, die unfruchtbar sind, die nicht geboren und nicht gestillt haben. Dann
wird man zu den Bergen sagen: Fallt auf uns!, und zu den Hügeln: Deckt uns zu! Denn
wenn das mit dem grünen Holz geschieht, was wird dann erst mit dem dürren werden?
BETRACHTUNG
Es macht uns nachdenklich, wie streng Jesus zu den weinenden Frauen spricht, die doch
ihn begleiten und um ihn klagen. Wie sollen wir das verstehen? Spüren wir darin nicht
den Tadel gegen eine bloß sentimentale Frömmigkeit, die nicht zu Umkehr und gelebtem
Glauben wird? Es reicht nicht, mit Worten und Gefühlen über die Leiden dieser Welt
zu klagen, während unser Leben doch weitergeht, wie es immer war. Deswegen macht uns
der Herr auf die Gefahr aufmerksam, in der wir selber leben. Er zeigt uns den Ernst
der Sünde und den Ernst des Gerichts. Sind wir nicht allzu sehr versucht, bei allen
Worten der Empörung über das Böse und über das Leid der Unschuldigen das Geheimnis
des Bösen zu verharmlosen? Lassen wir vom Bild Gottes und Jesu nicht am Ende doch
nur das Sanfte und Liebe stehen, und haben wir nicht das Gericht im stillen gestrichen?
Gott kann doch unsere Schwachheit nicht so tragisch nehmen, denken wir; wir sind ja
nur Menschen. Aber am Leiden des Sohnes sehen wir, welchen Ernst die Sünde hat, wie
sie ausgelitten werden muß, um überwunden zu werden. Vor der Gestalt des leidenden
Herrn endet die Banalisierung des Bösen. Auch zu uns sagt er: Weint nicht über mich,
weit über euch... Denn wenn das am grünen Holz geschieht, was wird dann erst mit dem
dürren werden?
GEBET
Herr, du hast zu den weinenden Frauen von der Buße gesprochen, von den Tagen des Gerichts,
in denen wir vor deinem Antlitz, dem Antlitz des Weltenrichters stehen werden. Du
rufst uns heraus aus der Verharmlosung des Bösen, mit der wir uns selbst beschwichtigen,
um ruhig so weiterleben zu können. Du zeigst uns den Ernst unserer Verantwortung,
die Gefahr, im Gericht schuldig und fruchtlos gefunden zu werden. Hilf uns, daß wir
nicht bloß klagend oder mit Reden neben dir hergehen. Bekehre uns und gib uns neues
Leben; laß uns nicht am Ende als dürres Holz dastehen, sondern lebendige Zweige an
dir, dem wahren Weinstock, werden und Frucht tragen für das ewige Leben (vgl. Joh
15, 1-10).
NEUNTE STATION
Jesus fällt zum dritten Male unter dem Kreuz
Aus dem Buch der Klagelieder. 3, 27-32
Gut ist es für den Mann, ein Joch zu tragen in der Jugend. Er sitze einsam und schweige,
wenn der Herr es ihm auflegt. Er beuge in den Staub seinen Mund; vielleicht ist noch
Hoffnung. Er biete die Wange dem, der ihn schlägt, und lasse sich sättigen mit Schmach.
Denn nicht für immer verwirft der Herr. Hat er betrübt, erbarmt er sich auch wieder
nach seiner großen Huld.
BETRACHTUNG
Was kann uns der dritte Fall Jesu unter dem Kreuz sagen? Wir haben an den Sturz des
Menschen insgesamt gedacht, an den Abfall so vieler von Christus in einen gottlosen
Säkularismus hinein. Müssen wir nicht auch daran denken, wie viel Christus in seiner
Kirche selbst erleiden muß? Wie oft wird das heilige Sakrament seiner Gegenwart mißbraucht,
in welche Leere und Bosheit des Herzens tritt er da oft hinein? Wie oft feiern wir
nur uns selbst und nehmen ihn gar nicht wahr? Wie oft wird sein Wort verdreht und
mißbraucht? Wie wenig Glaube ist in so vielen Theorien, wie viel leeres Gerede gibt
es? Wie viel Schmutz gibt es in der Kirche und gerade auch unter denen, die im Priestertum
ihm ganz zugehören sollten? Wie viel Hochmut und Selbstherrlichkeit? Wie wenig achten
wir das Sakrament der Versöhnung, in dem er uns erwartet, um uns von unserem Fall
aufzurichten? All das ist in seiner Passion gegenwärtig. Der Verrat der Jünger, der
unwürdige Empfang seines Leibes und Blutes, muß doch der tiefste Schmerz des Erlösers
sein, der ihn mitten ins Herz trifft. Wir können nur aus tiefster Seele zu ihm rufen:
Kyrie, eleison - Herr, rette uns (vgl. Mt 8, 25).
GEBET
Herr, oft erscheint uns deine Kirche wie ein sinkendes Boot, das schon voll Wasser
gelaufen und ganz und gar leck ist. Und auf deinem Ackerfeld sehen wir mehr Unkraut
als Weizen. Das verschmutzte Gewand und Gesicht deiner Kirche erschüttert uns. Aber
wir selber sind es doch, die sie verschmutzen. Wir selber verraten dich immer wieder
nach allen großen Worten und Gebärden. Erbarme dich deiner Kirche: Auch mitten in
ihr fällt Adam immer wieder. Wir ziehen dich mit unserem Fall zu Boden, und Satan
lacht, weil er hofft, daß du von diesem Fall nicht wieder aufstehen kannst, daß du
in den Fall deiner Kirche hineingezogen selber als Besiegter am Boden bleibst. Und
doch wirst du aufstehen. Du bist aufgestanden – auferstanden und du kannst auch uns
wieder aufrichten. Heile und heilige deine Kirche. Heile und heilige uns.
ZEHNTE STATION
Jesus wird seiner Kleider beraubt
Aus dem heiligen Evangelium nach Matthäus. 27, 33-36
So kamen sie an den Ort, der Golgota genannt wird, das heißt Schädelhöhe. Und sie
gaben ihm Wein zu trinken, der mit Galle vermischt war; als er aber davon gekostet
hatte, wollte er ihn nicht trinken. Nachdem sie ihn gekreuzigt hatten, warfen sie
das Los und verteilten seine Kleider unter sich. Dann setzten sie sich nieder und
bewachten ihn.
BETRACHTUNG
Jesus wird seiner Kleider beraubt. Das Gewand weist dem Menschen seine soziale Stellung
zu; es gliedert ihn in die Gesellschaft ein, macht ihn zu jemand. Die öffentliche
Entblößung bedeutet, daß Jesus nun nichts mehr ist – ein Ausgestoßener, der Verachtung
preisgegeben. Der Augenblick der Entblößung erinnert uns auch an die Ausstoßung aus
dem Paradies: Der Glanz Gottes ist von dem Menschen abgefallen, nun findet er sich
nackt und ausgesetzt, entblößt und schämt sich. Jesus nimmt die Situation des gefallenen
Menschen auf diese Weise noch einmal auf. Der entkleidete Jesus erinnert uns daran,
daß wir alle das „erste Gewand“, den Glanz Gottes verloren haben. Unter dem Kreuz
würfeln die Soldaten dann um seine armselige Habe, um das Gewand. Die Evangelisten
erzählen dies mit Worten aus dem Psalm 22, 19 und sagen uns damit das, was Jesus den
Jüngern von Emmaus nach der Auferstehung sagen wird: All dies ist geschehen „gemäß
der Schrift“. Nichts ist hier bloßer Zufall, all dieses Geschehen ist eingeborgen
im Wort Gottes und getragen von seinem göttlichen Sinn. Der Herr durchschreitet alle
Stationen und Stufen des menschlichen Verlorenseins, und jede dieser Stufen ist in
aller Bitterkeit ein Schritt der Erlösung: Er führt gerade so das verlorene Schaf
wieder heim. Erinnern wir uns auch noch daran, daß uns Johannes als Gegenstand der
Verlosung das Untergewand Jesu nennt, das von oben her durchgewebt und ohne Naht war
(19, 23). Wir dürfen darin eine Anspielung auf das Gewand des Hohenpriesters sehen,
das „aus einem einzigen Faden genäht“ war, ohne Naht (Fl J a III 161). Er, der Gekreuzigte,
ist in der Tat der wahre Hohepriester.
GEBET Herr Jesus, man hat dich deiner Kleider beraubt, dich der Schande preisgegeben
und aus der Gesellschaft ausgestoßen. Du trägst die Schande Adams und heilst sie.
Du trägst das Leiden und die Not der Armen, die von der Welt ausgestoßen sind. Aber
gerade so erfüllst du das Wort der Propheten. Gerade so trägst du Sinn in die scheinbare
Sinnlosigkeit. Gerade so läßt du uns erkennen, daß dein Vater dich und uns und die
Welt in Händen hält. Schenke uns Ehrfurcht vor dem Menschen in allen Phasen seiner
Existenz und in allen Situationen, in denen wir ihn treffen. Schenke uns das Lichtgewand
deiner Gnade.
ELFTE STATION
Jesus wird ans Kreuz genagelt
Aus dem heiligen Evangelium nach Matthäus. 27, 37-42
Über seinem Kopf hatten sie eine Aufschrift angebracht, die seine Schuld angab: Das
ist Jesus, der König der Juden. Zusammen mit ihm wurden zwei Räuber gekreuzigt, der
eine rechts von ihm, der andere links. Die Leute, die vorbeikamen, verhöhnten ihn,
schüttelten den Kopf und riefen: Du willst den Tempel niederreißen und in drei Tagen
wieder aufbauen? Wenn du Gottes Sohn bist, hilf dir selbst, und steig herab vom Kreuz!
Auch die Hohenpriester, die Schriftgelehrten und die Ältesten verhöhnten ihn und sagten:
Anderen hat er geholfen, sich selbst kann er nicht helfen. Er ist doch der König von
Israel! Er soll vom Kreuz herabsteigen, dann werden wir an ihn glauben.
BETRACHTUNG
Jesus wird ans Kreuz genagelt. Das Grabtuch von Turin gibt uns eine Vorstellung von
der unerhörten Grausamkeit dieser Prozedur. Den angebotenen Betäubungstrunk trinkt
Jesus nicht: Er nimmt den ganzen Schmerz der Kreuzigung bewußt auf sich. Sein ganzer
Leib ist zerschlagen; die Worte des Psalms sind wahr geworden: „Ich aber bin ein Wurm
und kein Mensch, der Leute Spott, vom Volk verachtet“ (Ps 22, 7). „Wie einer, vor
dem man das Gesicht verhüllt, war er verachtet... Aber er hat unsere Krankheit getragen
und unsere Schmerzen auf sich geladen“ (Jes 53, 3f). Halten wir inne vor diesem Bild
des Schmerzes, vor dem leidenden Gottessohn. Schauen wir auf ihn hin in den Stunden
der Selbstgerechtigkeit und des Genusses, damit wir lernen, Grenzen einzuhalten, das
Vordergründige aller bloß materiellen Güter zu durchschauen. Blicken wir auf ihn hin
in den Augenblicken der Not und der Anfechtung, um zu erkennen, daß wir gerade so
Gott nahe sind. Versuchen wir, sein Gesicht zu erkennen in denen, die wir verachten
möchten. Vor dem angeklagten Herrn, der seine Macht nicht gebrauchen wollte, um vom
Kreuz herabzusteigen, sondern die Not des Kreuzes bis zum Ende durchgelitten hat,
kann uns noch ein anderer Gedanke aufsteigen. Ignatius von Antiochia, selbst um des
Herrn willen in Ketten gelegt, hat die Smyrnäer gelobt wegen ihres unerschütterlichen
Glaubens: Sie seien gleichsam mit Fleisch und Blut angenagelt am Kreuz des Herrn Jesus
Christus (1, 1). Lassen wir uns annageln an ihn und keiner Versuchung nachgeben, uns
loszulösen und dem Spott zu folgen, der uns dies einreden will.
GEBET
Herr Jesus Christus, du hast dich annageln lassen am Kreuz, die fürchterliche Grausamkeit
dieses Schmerzes, die Zerstörung deines Leibens und seiner Würde angenommen. Du hast
dich festnageln lassen, ohne Flucht und ohne Abstrich gelitten. Hilf uns, daß wir
nicht fliehen vor dem, was uns aufgetragen ist. Hilf uns, daß wir uns fest an dich
binden lassen. Hilf uns, jene falsche Freiheit zu durchschauen, die uns von dir wegtreiben
will. Hilf uns, deine gebundene Freiheit anzunehmen und in der festen Bindung an dich
die wahre Freiheit zu finden.
ZWÖLFTE STATION
Jesus stirbt am Kreuze
Aus dem heiligen Evangelium nach Johannes. 19, 19-20
Pilatus ließ auch ein Schild anfertigen und oben am Kreuz befestigen; die Inschrift
lautete: Jesus von Nazaret, der König der Juden. Dieses Schild lasen viele Juden,
weil der Platz, wo Jesus gekreuzigt wurde, nahe bei der Stadt lag. Die Inschrift war
hebräisch, lateinisch und griechisch abgefaßt.
Aus dem heiligen Evangelium nach Matthäus. 27, 45-50.54
Von der sechsten bis zur neunten Stunde herrschte eine Finsternis im ganzen Land.
Um die neunte Stunde rief Jesus laut: Eli, Eli, lema sabachtani?, das heißt: Mein
Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Einige von denen, die dabeistanden
und es hörten, sagten: Er ruft nach Elija. Sogleich lief einer von ihnen hin, tauchte
einen Schwamm in Essig, steckte ihn auf einen Stock und gab Jesus zu trinken. Die
anderen aber sagten: Laß doch, wir wollen sehen, ob Elija kommt und ihm hilft. Jesus
aber schrie noch einmal laut auf. Dann hauchte er seinen Geist aus.
Als der Hauptmann und die Männer, die mit ihm zusammen Jesus bewachten, das Erdbeben
bemerkten und sahen, was geschah, erschraken sie sehr und sagten. Wahrhaftig, das
war Gottes Sohn!
BETRACHTUNG
Über dem Kreuz Jesu steht in den beiden Weltsprachen von damals – griechisch und latein
– und in der Sprache des auserwählten Volkes – hebräisch – wer er ist: der König der
Juden, der verheißene Sohn Davids. Pilatus, der ungerechte Richter, ist wider Willen
zum Propheten geworden. Vor der Weltöffentlichkeit wird Jesu Königtum proklamiert.
Jesus selbst hatte den Titel Messias nicht zugelassen, weil er eine falsche – menschliche
– Idee von Macht und von Rettung hervorgerufen hätte. Aber nun darf der Titel öffentlich
dastehen – über dem Gekreuzigten. So ist er wirklich König der Welt. Nun ist er wahrhaft
„erhöht“. In seinem Abstieg ist er aufgestiegen. Nun hat er radikal den Auftrag der
Liebe erfüllt, er hat sich weggegeben von sich selber, und gerade so ist er nun die
Erscheinung des wahren Gottes, des Gottes, der die Liebe ist. Nun wissen wir, wer
Gott ist. Nun wissen wir, wie wahres Königtum aussieht. Jesus betet den Psalm 22,
der mit den Worten beginnt: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen...“
(Ps 22, 2). Er nimmt das ganze leidende Israel in sich auf, die ganze leidende Menschheit,
die Not ihres Gottesdunkels und läßt so dort Gott erscheinen, wo er endgültig besiegt
und abwesend scheint. Das Kreuz Jesu ist ein kosmisches Ereignis. Die Welt wird dunkel,
wo Gottes Sohn dem Tod preisgegeben ist. Die Erde erbebt. Und am Kreuz beginnt die
Kirche der Heiden. Der römische Hauptmann erkennt, bekennt Jesus als den Sohn Gottes.
Vom Kreuz aus siegt er – immer neu.
GEBET
Herr Jesus Christus, bei deinem Tod hat sich die Sonne verfinstert. Immer wieder wirst
du ans Kreuz geschlagen. Gerade in dieser Stunde der Geschichte leben wir im Gottesdunkel.
Unter dem Übermaß der Leiden und der Bosheiten der Menschen scheint Gottes Antlitz,
dein Antlitz verdunkelt, unerkennbar. Aber gerade am Kreuz hast du dich zu erkennen
gegeben. Gerade als der Leidende und Liebende bist du der Erhöhte. Gerade von dort
aus hast du gesiegt. Hilf uns, in dieser Stunde des Dunkels und der Verwirrungen dein
Gesicht zu erkennen. Hilf uns, dir zu glauben und dir nachzufolgen gerade auch in
den Stunden des Dunkels und der Not. Zeige dich neu der Welt in dieser Stunde. Laß
uns dein Heil erscheinen.
DREIZEHNTE STATION
Jesus wird vom Kreuz abgenommen
und in den Schoß seiner jungfräulichen Mutter gelegt
Aus dem heiligen Evangelium nach Matthäus. 27, 54-55
Als der Hauptmann und die Männer, die mit ihm zusammen Jesus bewachten, das Erdbeben
bemerkten und sahen, was geschah, erschraken sie sehr und sagten. Wahrhaftig, das
war Gottes Sohn! Auch viele Frauen waren dort und sahen von weitem zu; sie waren Jesus
seit der Zeit in Galiläa nachgefolgt und hatten ihm gedient.
BETRACHTUNG
Jesus ist gestorben, sein Herz wird von der Lanze des römischen Soldaten durchbohrt,
und es entströmen ihm Blut und Wasser: geheimnisvolle Darstellung des Stroms der Sakramente,
der Taufe und der Eucharistie, aus denen von dem geöffneten Herzen des Herrn her immer
neu die Kirche geboren wird. Seine Gebeine werden nicht, wie die der beiden anderen
Gekreuzigten, zerbrochen; so erweist er sich als das wahre Osterlamm, an dem kein
Gebein zerbrochen werden darf (Ex 12, 46). Und nun, da alles durchlitten ist, zeigt
sich, daß er trotz aller Verwirrung der Herzen, trotz der Macht von Haß und Feigheit
nicht allein geblieben ist. Es gibt die Getreuen. Unter dem Kreuz waren Maria, seine
Mutter, ihre Schwester Maria, Maria Magdalena und der Jünger gestanden, den er liebte.
Nun kommt auch ein reicher Mann – Josef von Arimathäa: Der Reiche findet durch das
Nadelöhr, weil Gott ihm die Gnade dazu schenkt. Er bestattet Jesus in seinem noch
unberührten Grab in einem Garten: Der Friedhof wird zum Garten, wo Jesus begraben
wird – zum Garten, aus dem Adam vertrieben wurde, als er sich von der Fülle des Lebens,
von seinem Schöpfer losgerissen hatte. Das Grab im Garten läßt uns wissen, daß die
Herrschaft des Todes zu Ende geht. Und es kommt ein Mitglied des Hohen Rates, Nikodemus,
dem Jesus das Geheimnis der Wiedergeburt aus Wasser und heiligem Geist angekündigt
hatte. Auch in dem Gremium, das seinen Tod beschlossen hatte, gibt es denjenigen,
der glaubt und der Jesus gerade als Gestorbenen neu erkennt und bekennt. Über der
Stunde der großen Trauer, der großen Verfinsterung und Hoffnungslosigkeit steht doch
geheimnisvoll das Licht der Hoffnung. Der verborgene Gott ist doch der lebendige und
der nahe Gott. Der gestorbene Herr bleibt doch der Herr und unser Retter, auch in
der Nacht des Todes. Die Kirche Jesu Christi, seine neue Familie, beginnt sich zu
formen.
GEBET
Herr, du bist in die Nach des Todes hinuntergestiegen. Aber dein Leichnam wird von
gütigen Händen aufgenommen und mit einem reinen Linnen umhüllt (Mt 27,59). Der Glaube
ist nicht ganz gestorben, die Sonne nicht völlig untergegangen. Wie oft scheint es,
daß du schläfst. Wie leicht können wir Menschen uns abkehren und uns sagen: Gott ist
tot. Laß uns in den Stunden des Dunkels erkennen, daß du dennoch da bist. Laß uns
nicht allein, wenn wir verzagen wollen. Hilf uns, daß wir dich nicht allein lassen.
Gib uns die Treue, die standhält in der Verwirrung und die Liebe, die dich gerade
in deiner äußersten Not umfängt, wie die Mutter dich nun noch einmal in ihrem Schoß
geborgen hat. Hilf uns, hilf den Armen und den Reichen, den Einfachen und den Gescheiten,
durch ihre Ängste und Vorurteile durchzublicken und dir unser Vermögen, unser Herz,
unsere Zeit anzubieten und so den Garten zu bereiten, in dem Auferstehung geschehen
kann.
VIERZEHNTE STATION
Jesus wird ins Grab gelegt
Aus dem heiligen Evangelium nach Matthäus. 27, 59-61
Josef nahm ihn und hüllte ihn in ein reines Leinentuch. Dann legte er ihn in ein neues
Grab, das er für sich selbst in einen Felsen hatte hauen lassen. Er wälzte einen großen
Stein vor den Eingang des Grabes und ging weg. Auch Maria aus Magdala und die andere
Maria waren dort; sie saßen dem Grab gegenüber.
BETRACHTUNG
Jesus, der Geächtete und Geschändete, wird ehrenvoll in ein neues Grab gelegt. Nikodemus
bringt hundert Pfund einer Mischung aus Myrrhe und Aloe, die einen kostbaren Geruch
ausströmen sollen. Es ist nun wie bei der Salbung in Bethanien – ein Übermaß, das
uns an die verschwenderische Liebe, an den „Überfluß“ der Liebe Gottes erinnert, die
sich in der Hingabe des Sohnes zeigt. Gott verschwendet sich selbst. Wenn Gottes Maß
der Überfluß ist, sollte auch uns für Gott nichts zu viel sein. So hat es uns Jesus
selbst in der Bergpredigt gelehrt (Mt 5, 20). Aber sollten wir dabei nicht auch an
das Wort des heiligen Paulus denken, daß Gott „durch uns den Duft der Erkenntnis Christi...
verbreitet. Denn wir sind Christi Wohlgeruch...“ (2 Kor 2, 14f). Im Verwesungsgeruch
der Ideologien sollte unser Glaube wieder Duft sein, der auf die Spur des Lebens führt.
In der Stunde der Grablegung beginnt sich aber vor allem das Wort Jesu zu erfüllen:
„Amen. Amen. Ich sage euch: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt,
bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht“ (Joh 12, 24). Jesus
ist zum gestorbenen Weizenkorn geworden. Von dem gestorbenen Weizenkorn her beginnt
die große Brotvermehrung, die bis zum Ende der Welt anhält: Er ist Brot des Lebens,
das im Überfluß für alle Menschheit reicht und ihr die Nahrung gibt, das, wovon der
Mensch in Wahrheit lebt: das ewige Wort Gottes, das Fleisch und so Brot geworden ist
für uns durch Kreuz und Auferstehung hindurch. Über dem Begräbnis Jesu leuchtet das
Geheimnis der Eucharistie.
GEBET
Herr Jesus Christus, in der Grablegung hast du den Tod des Weizenkorns auf dich genommen,
bist du zum gestorbenen Weizenkorn geworden, das Frucht trägt durch alle Zeiten und
in die Ewigkeit hinein. Vom Grab her leuchtet über alle Zeit hinaus die Verheißung
des Weizenkorns, aus dem das wahre Manna kommt – das Brot des Lebens, in dem du dich
uns selber gibst. Das ewige Wort ist durch die Fleischwerdung und den Tod hindurch
das nahe Wort geworden: Du legst dich in unsere Hände und in unser Herz, damit dein
Wort in uns wachse und Frucht bringe. Du schenkst dich durch den Tod des Weizenkorns
hindurch, damit auch wir wagen, unser Leben zu verlieren, um es so zu gewinnen; damit
auch wir uns der Verheißung des Weizenkorns anvertrauen. Hilf uns, dein eucharistisches
Geheimnis immer mehr zu lieben und zu verehren – wahrhaft von dir, dem Brot des Himmels
zu leben. Hilf uns, dein „Wohlgeruch“ zu werden, die Spur deines Lebens fühlbar zu
machen in dieser Welt. Wie das Weizenkorn aufsteht aus der Erde als Halm und Ähre,
so konntest auch du nicht im Grabe bleiben: Das Grab ist leer, weil er – der Vater
– dich „nicht der Unterwelt preisgibt und dein Leib die Verwesung so nicht schaut“
(Apg 2, 31; Ps 16, 10 LXX). Nein, du bist nicht verwest. Du bist auferstanden und
hast dem verwandelten Fleisch Raum im Herzen Gottes gegeben. Laß uns dieser Hoffnung
froh werden und sie freudig in die Welt hineintragen, Zeugen deiner Auferstehung sein.