Vatikan: Ruini: Im Gesicht des ermüdeten Papstes die Energie des Kreuzes
Kardinal Camillo Ruini, der Kardinalvikar für die Diözese Rom, hat im Namen des Papstes
heute der Eucharistiefeier mit Prozession zum Palmsonntag vorgestanden. Wir dokumentieren
hier seine Predigt:
Liebe Schwestern und Brüder, die Erzählung der Passion des Herrn berührt unser Herz,
unseren Glauben und unsere Liebesfähigkeit tief.
Vor allem bemerken wir einen tiefgehenden Gegensatz: Das Evangelium, das kurz nach
der Segnung der Palmzweige verlesen wurde, spricht von einer feiernden Menge, die
ruft: „Hosanna dem Sohne Davis! Gepriesen sei der, der kommt im Namen des Herrn!“
In der Erzählung der Passion hingegen schreit eine andere Menge, aber in großen Teilen
dieselbe Menge: „Ans Kreuz mit ihm!“ Um den Grund für diesen Gegensatz zu suchen,
müssen wir nicht weit gehen: Es genügt, dass wir in uns selbst hineinschauen. Schon
der Prophet Jesaja mahnte: „Arglistig ohnegleichen ist das Herz und unverbesserlich.
Wer kann es ergründen?“ (Jer 17, 9). Der Verrat durch Judas – und auch der durch Petrus
– zeigen, wie groß die menschliche Unzuverlässigkeit ist.
Der Gegensatz zwischen der Menge, die zujubelt, und jener, die die Kreuzigung fordert,
und allgemeiner gesehen die Zerbrechlichkeit und Unzuverlässlichkeit des menschlichen
Herzens ist aber nur eine – und nicht die tiefste – Dimension der Passion des Herrn.
Ihre volle Bedeutung finden wir wieder in den Worten des Apostels Paulus, die wir
in der zweiten Lesung gehört haben: „Er war Gott gleich, / hielt aber nicht daran
fest, wie Gott zu sein, sondern er entäußerte sich / und wurde wie ein Sklave … er
erniedrigte sich / und war gehorsam bis zum Tod, / bis zum Tod am Kreuz“ (Phil 2,
6-8). Wie sehr diese Selbsterniedrigung des Sohnes Gottes für uns wirksam war, sagt
uns der Apostel Paulus im Zweiten Korintherbrief: „
Er hat den, der keine Sünde kannte, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm Gerechtigkeit
Gottes würden“ (2Kor 5, 21).
So, also aus der Erniedrigung, aus dem Leid und dem Tod des Sohnes Gottes nimmt das
Geheimnis Gottes und auch das Geheimnis des Menschen sein Licht. Wenn wir aber die
vielen Leiden der Menschen ansehen, vor allem das unschuldige Leiden, sind wir wie
ausgelaugt und werden geradezu dazu gezwungen uns zu fragen, ob Gott uns wirklich
liebt und sich um uns sorgt, oder ob es nicht tatsächlich ein böswilliges Schicksal
gibt, das nicht einmal Gott ändern kann.
Im Kreuz Christi hingegen kommen wir mit dem wahren Gesicht Gottes in Kontakt, gemäß
dem Wort Jesu, der selbst sagt: „Niemand kennt den Sohn, nur der Vater, und niemand
kennt den Vater, nur der Sohn und der, dem es der Sohn offenbaren will“ (Mt 11, 27).
Im Kreuz Christi verliert das Angesicht Gottes seine Größe und sein Geheimnis nicht,
es wird vielmehr außerordentlich nahe und liebenswert, denn es ist das Gesicht dessen,
der im eigenen Sohn bis ins letzte auch die dunkelste Seite der Conditio humana teilt.
Deshalb gehen vom Kreuz Christi eine Kraft und eine Hoffnung auf Erlösung vom Leid
der gesamten Menschheit aus: Das Drama und das Geheimnis des Leidens – die im letzten
das Drama und das Geheimnis unseres Lebens sind – werden auf diese Weise nicht ausgelöscht,
aber sie erscheinen uns nicht mehr als etwas Dunkles und Unverständliches.
Sicherlich, im Angesicht des gekreuzigten Jesus wird all unsere vorgeschobene Unschuld
kleiner, jeder Selbstbetrug, wir könnten mit unseren eigenen Händen eine gerechte
und perfekte Welt bauen, aber nicht deshalb sind wir gezwungen, uns im Pessimusmus
zu verlieren und das Vertrauen ins Leben zu verlieren. Während wir uns als zerbrechliche
und sündige Geschöpfe erkennen, fühlen wir uns umarmt und unterstützt von der Liebe
Gottes, der stärker ist als Sünde und Tod, und wir werden fähig, auch in unseren kleinen
tagtäglichen Angelegenheiten eine außerordentlich reiche und volle Bedeutung zu entdecken,
da dieses darauf gerichtet ist, sich nicht mit der Zeit zu verlieren, sondern Frucht
zu bringen für die Ewigkeit.
Liebe Schwestern und Brüder, und vor allem ihr, liebe Jugendliche, die ihr den Weltjugendtag
feiert, der Herr Jesus hat uns nicht verborgen, dass sein Kreuz auch uns angeht, dass
wir, um seine Jünger zu sein, gerufen sind, ihm in unseren Leben einen Platz einzuräumen:
„Darauf sagte Jesus zu seinen Jüngern: Wer mein Jünger sein will, der verleugne sich
selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach“ (Mt 16, 24). Dieses Wort macht
verständlicherweise Angst, mehr noch, es macht vor allem uns, den Menschen unserer
Zeit Angst, die wir versucht sind, im Leiden nur etwas Unnützes und Schädliches zu
sehen. Aber genau das ist unser Fehler, der uns daran hindert, nicht nur die Bedeutung
des Leids, sondern auch den Sinn des Lebens zu verstehen.
Vor dem gekreuzigten Jesus erinnern wir uns noch an ein anderes seiner Worte: „Kommt
alle zu mir, die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt. Ich werde euch
Ruhe verschaffen… Denn mein Joch drückt nicht und meine Last ist leicht“ (Mt 11, 28-30).
Ja, das Kreuz Jesu drückt nicht nieder und schwächt nicht. Von ihm kommen im Gegenteil
immer neue Energien, jene, die in den Vorbildern der Heiligen aufleuchten und die
die Geschichte der Kirche fruchtbar gemacht haben, jene, die heute mit besonderer
Klarheit vom ermüdeten Gesicht des Heiligen Vaters scheinen.
Liebe Schwestern und Brüder, vertrauen wir also auf den gekreuzigten und auferstandenen
Herrn und legen wir unser Leben in seine Hände, wie auch er sein eigenes Leben in
die Hände von Gott, seinem Vater, gelegt hat (vgl. Lk 23, 46).