"Ich war praktisch schon auf der anderen Seite". So kommentiert der Papst in seinem
neuen Buch "Erinnerung und Identität" das Attentat auf ihn von 1981. In dem Gesprächsbuch,
das am Mittwoch auch auf deutsch erschien, finden sich Überlegungen des Papstes zu
den großen Ideologien des 20. Jahrhunderts. Es enthält aber auch private Details zu
seinem Leben. So zeigt sich Johannes Paul etwa überzeugt, "dass das Attentat nicht
eine Eigeninitiative (Mehmet Ali Agcas) war, sondern dass jemand anders es geplant,
dass ein anderer ihn damit beauftragt hatte." Als er den Attentäter im Gefängnis besuchte,
habe dieser sich im Gespräch die ganze Zeit gewundert, "wie es nur möglich war, dass
ihm das Attentat nicht gelungen war".
Der Papst spekuliert nicht weiter über die genauen Auftraggeber des Anschlags; er
spricht nur von den "letzten Zuckungen der Ideologien der Gewalt" im 20. Jahrhundert.
Aus dem Zusammenhang kann der Leser aber schließen, dass der Papst Kommunisten aus
dem Ostblock als Auftraggeber vermutet. Zum Sturz des Sowjet-Systems meint Johannes
Paul, dafür gebe es keineswegs nur wirtschaftliche Gründe. "Andererseits weiß ich
sehr wohl, dass es lächerlich wäre zu meinen, der Papst sei es gewesen, der mit eigenen
Händen den Kommunismus zerschlagen hat."
Den Großteil des 224-Seiten-Werks machen Reflexionen über die europäische Geistesgeschichte
seit der Aufklärung aus. Energisch wendet sich der Papst gegen alle Denksysteme, die
ohne Gott auszukommen glauben. Zum "Übel von gigantischen Ausmaßen", das die Menschen
in den letzten Jahrzehnten erlebten, bemerkt Johannes Paul, es sei "sozusagen hausgemacht".
Der deutsche Kurienkardinal Joseph Ratzinger hat das Buch des Papstes gestern abend
der Presse in Rom vorgestellt. Dabei wies er den Eindruck zurück, dass Johannes Paul
in dem Text Abtreibung als eine Art neuen Holocaust hinstelle. Ratzinger meinte dazu:
"Der Papst vergleicht nicht historische Fakten und Systeme. Er stellt Shoa und Abtreibung
nicht auf die gleiche Ebene. Aber er lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die ständigen
Versuchungen, denen die Menschheit ausgesetzt ist. Und er warnt uns vor neuen Formen
des Bösen. Ohne inadäquate Vergleiche zu ziehen, sagt er: Auch wir in einem liberalen
Gesellschafts-System sind vor der Versuchung zum Bösen nicht gefeit. Aber, noch einmal:
ein Vergleich zwischen historischen Fakten und gesellschaftlichen Systemen liegt dem
Papst völlig fern."
(rv 23.02.05 sk)