Polen: Bartoszewski betont polnisches Leiden in Auschwitz
Wenn man genau hinsah, sah man ihn am Donnerstag im Fernsehen, wie er in Auschwitz
eine Kerze aufstellte, zwischen die Staats- und Regierungschefs aus ganz Europa eingereiht.
Wladyslaw Bartoszewski, der 83jährige Katholik und zeitweise polnischer Außenminister,
war selbst einmal Häftling in Auschwitz. Es mag überraschen, wie unübersehbar die
polnische und die katholische Präsenz auf der Auschwitz-Gedenkfeier war: Da sprachen
ein Nuntius und ein Kardinal, da waren viele bekannte Katholiken aus der Heimat des
Papstes zu sehen - darunter Bartoszewski. Er erklärt: "Himmler hat damals entschieden,
ein KZ für die polnische Oberschicht auf polnischem Territorium zu gründen - schon
im Frühling 1940. Die ersten Tausende von Häftlingen, das waren also Mitglieder der
polnischen Oberschicht: polnische Lehrer, Rechtsanwälte, Offiziere, gesellschaftlich
Engagierte. Also, in der polnischen - genauer: der nicht-jüdischen polnischen - Tradition
wurde Auschwitz zum Symbol, ehe man noch diese verbrecherische Entscheidung zur Endlösung
der "jüdischen Frage" gefällt hat." Diese Entscheidung fiel dann auf der berühmten
Wannsee-Konferenz im Januar 1942 - da war der Häftling Bartoszewski schon seit einem
Jahr wieder aus Auschwitz freigekommen und lebte in Warschau. Die ersten Transporte
mit jüdischen Häftlingen seien dann Ende März 1942 im KZ Auschwitz eingetroffen. Und
damit habe sich der Schrecken in Auschwitz geändert, sprich: ausgeweitet. Aus dem
ganzen besetzten Europa wurden jetzt vor allem Juden nach Auschwitz gebracht. "Daraus
ist eine andere Perspektive entstanden - eine europäische Perspektive in dieser kleinen
Ortschaft. Vorher war das mehr eine polnische Perspektive. Dadurch ist es also gut
begründet, wenn polnische Katholiken und auch unser Heiliger Vater die Geschichte
von Auschwitz auch als eigene Geschichte erleben, die Geschichte des eigenen Landes
und des eigenen Volkes." Bartoszewski ruft aber eindringlich dazu auf, auch weiterhin
die, wie er es nennt, "gut berechtige jüdische Empfindlichkeit" in Sachen Auschwitz
zu teilen. "Denn Auschwitz ist ein Symbol für die totalitäre Unterdrückung und
Vernichtung von Menschen. Für die Abtrünnigkeit von der christlichen Wurzel Europas.
In dem Sinn kann man Auschwitz in Jerusalem und in Rom sehr ähnlich sehen." Die
Greuel von Auschwitz dürften nicht vergessen werden, mahnt der frühere polnische Außenminister.
Zugleich meint er aber mit Blick auf Polen, wo es noch keine Schlußstrich- oder Moralkeulen-Debatte
gegeben hat: "Wir wollen nicht unbedingt nur im Schatten dieser erlebten Geschichte
leben, ganz im Gegenteil! Man soll auch einmal abschließen. Unsere gestrige Veranstaltung
auf dem Gelände des früheren KZ Auschwitz-Birkenau war sowas wie der Abschluß des
20. Jahrhunderts, wenn es um die Bewertung des Totalitarismus und um die Bewertung
der Unmenschlichkeit geht. Und Schluß damit! Wenn alle das anerkennen, gibt es kein
Problem mehr." Auf die Frage, wie es zu so etwas wie Auschwitz kommen konnte, räumt
Bartoszewski ein, da sei er ratlos. Er habe sich solche Gräuel im hoch entwickelten
und christlichen Europa früher nicht vorstellen können. Eine Theorie hat er trotzdem: "Je
weiter von Gott, desto größer ist die Bedrohung einer Perversität im Handeln, die
Bedrohung des Bösen. Aber das ist natürlich nur meine Perspektive... Aber irgendeine
Rolle spielt dort die Frage der Werte, der Zehn Gebote, des Töte nicht!" Um das
polnisch-deutsche Verhältnis macht sich B. heute - 60 Jahre nach Auschwitz - gar nicht
so große Sorgen. Polen habe im Durchschnitt eine sehr junge Bevölkerung - das fördere
den Pragmatismus. "Und weil wir in Deutschland den großen Nachbarn haben, lernen
z.B. bei uns um die zwei Millionen Gymnasiasten freiwillig Deutsch als erste Fremdsprache!
Das ist in Deutschland sehr wenig bekannt, aber das weckt Hoffnung!" (rv 28.01.05
sk)