Dossier: Vortrag von Kardinal Ratzinger über Europa - seine geistigen Grundlagen gestern,
heute, morgen
Europa. Seine geistigen Grundlagen gestern, heute, morgen.
Joseph Cardinal
Ratzinger
Europa - was ist das eigentlich? Diese Frage wurde in einem der
Sprachzirkel der römischen Bischofssynode über Europa von Kardinal Glemp immer wieder
nachdrücklich gestellt: Wo beginnt, wo endet Europa? Warum gehört zum Beispiel Sibirien
nicht zu Europa, obwohl es doch weitgehend von Europäern bewohnt wird, die auch auf
durchaus europäische Weise denken und leben? Und wo verliert sich Europa im Süden
der russischen Staatengemeinschaft? Wo läuft im Atlantik seine Grenze? Welche Inseln
sind Europa, welche nicht und warum nicht? In diesen Gesprächen wurde völlig klar,
daß "Europa" nur ganz sekundär ein geographischer Begriff ist: Europa ist kein geographisch
deutlich faßbarer Kontinent, sondern ein kultureller und historischer Begriff.
Die
Entstehung Europas
Das zeigt sich ganz evident, wenn wir auf die Ursprünge
Europas zurückzugehen versuchen. Wer vom Ursprung Europas redet, verweist gewöhnlich
auf Herodot (ca. 484-425 vor Christus), der wohl als erster Europa als geographischen
Begriff kennt und es so definiert: "Die Perser sehen Asien mit seinen Völkern als
ihr Land an. Europa und das Land der Griechen, meinen sie, liegt vollkommen außerhalb
ihrer Grenzen." Die Grenzen Europas selbst werden nicht angegeben, aber es ist klar,
daß Kernlande des heutigen Europa völlig außerhalb des Blickfelds des antiken Historikers
lagen. In der Tat hatte sich mit der Ausbildung der hellenistischen Staaten und des
Römischen Reiches ein "Kontinent" gebildet, der zur Grundlage des späteren Europa
wurde, aber ganz andere Grenzen aufwies: Es waren die Länder rund um das Mittelmeer,
die durch ihre kulturelle Verbundenheit, durch Verkehr und Handel, durch ein gemeinsames
politisches System miteinander einen wirklichen "Kontinent" bildeten. Erst der Siegeszug
des Islam hat im 7. und im beginnenden 8. Jahrhundert eine Grenze durch das Mittelmeer
gezogen, es sozusagen in der Mitte durchgeschnitten, so daß, was bisher ein Kontinent
gewesen war, sich nunmehr in drei Kontinente teilte: Asien, Afrika, Europa. Im Osten
vollzog sich die Umbildung der alten Welt langsamer als im Westen: Das Römische Reich
mit Konstantinopel als Mittelpunkt hielt dort - wenn auch immer weiter zurückgedrängt
- bis ins 15. Jahrhundert hinein stand. Während die Südseite des Mittelmeers um das
Jahr 700 endgültig aus dem bisherigen Kulturkontinent herausgefallen ist, vollzieht
sich zur selben Zeit eine immer stärkere Ausdehnung nach Norden. Der Limes, der bisher
eine kontinentale Grenze gewesen war, verschwindet und öffnet sich in einen neuen
Geschichtsraum hinein, der nun Gallien, Germanien, Britannien als eigentliche Kernlande
umgreift und sich zusehends nach Skandinavien ausstreckt. In diesem Prozeß der Verschiebung
der Grenzen wurde die ideelle Kontinuität mit dem vorangehenden, geographisch anders
bemessenen mittelmeerischen Kontinent durch eine geschichtstheologische Konstruktion
gewahrt: Im Anschluß an das Buch Daniel sah man das durch den christlichen Glauben
erneuerte und verwandelte Römische Reich als das letzte und bleibende Reich der Weltgeschichte
überhaupt an und definierte daher das sich konstituierende Völker- und Staatengebilde
als das bleibende Sacrum Imperium Romanum. Dieser Prozeß einer neuen geschichtlichen
und kulturellen Identifizierung ist unter Karl dem Großen ganz bewußt vollzogen worden,
und hier taucht nun auch wieder das alte Wort Europa in verwandelter Bedeutung auf:
Diese Vokabel wurde nun geradezu als Bezeichnung für das Reich Karl's des Großen gebraucht
und drückte zugleich das Bewußtsein der Kontinuität und der Neuheit aus, mit dem sich
das neue Staatengefüge als die eigentlich zukunftstragende Kraft auswies - zukunftstragend,
gerade weil es sich in der Kontinuität der bisherigen Geschichte und letztlich im
Immerwährenden verankert begriff. In dem so sich bildenden Selbstverständnis ist ebenso
das Bewußtsein der Endgültigkeit wie das Bewußtsein einer Sendung ausgedrückt. Der
Begriff Europa ist zwar nach dem Ende des Karolingischen Reiches wieder weitgehend
verschwunden und nur in der Gelehrtensprache erhalten geblieben; in die Populärsprache
geht er erst zu Beginn der Neuzeit - wohl im Zusammenhang mit der Türkengefahr als
Weise der Selbstidentifizierung - über, um sich allgemein im 18. Jahrhundert durchzusetzen.
Unabhängig von dieser Wortgeschichte bedeutet die Konstituierung des Frankenreiches
als des nie untergegangenen und nun neu geborenen Römischen Reiches in der Tat den
entscheidenden Schritt auf das zu, was wir heute meinen, wenn wir von Europa sprechen.
Freilich
dürfen wir nicht vergessen, daß es auch noch eine zweite Wurzel Europas, eines nicht
westlichen, nicht abendländischen Europa gibt: Das Römische Reich hatte ja, wie schon
gesagt, in Byzanz über die Stürme der Völkerwanderung und der Islamischen Invasion
hin standgehalten. Byzanz verstand sich als das wirkliche Rom; hier war das Reich
in der Tat nicht untergegangen, weshalb man auch weiterhin Anspruch auf die westliche
Reichshälfte erhob. Auch dieses östliche Römische Reich hat sich weit nach Norden,
in die slawische Welt hinein ausgedehnt und eine eigene, griechisch-römische Welt
geschaffen, die sich von dem lateinischen Europa des Westens durch die andere Liturgie,
die andere Kirchenverfassung, durch die andere Schrift und durch den Verzicht auf
das Latein als gemeinsame Bildungssprache unterscheidet. Freilich gibt es auch genug
verbindende Elemente, die die zwei Welten doch zu einem gemeinsamen Kontinent machen
können: An erster Stelle das gemeinsame Erbe der Bibel und der alten Kirche, das übrigens
in beiden Welten über sich hinausweist auf einen Ursprung, der nun außerhalb Europas,
in Palästina liegt; dazu die gemeinsame Reichsidee, das gemeinsame Grundverständnis
der Kirche und damit auch die Gemeinsamkeit grundlegender Rechtsvorstellungen und
rechtlicher Instrumente; schließlich würde ich auch das Mönchtum erwähnen, das in
den großen Erschütterungen der Geschichte der wesentliche Träger nicht nur der kulturellen
Kontinuität, sondern vor allem der grundlegenden religiösen und sittlichen Werte,
der letzten Orientierungen des Menschen geblieben ist und als vorpolitische und überpolitische
Kraft zum Träger der immer wieder nötigen Wiedergeburten wurde.
Zwischen den
beiden Europen gibt es mitten in der Gemeinsamkeit des wesentlichen kirchlichen Erbes
allerdings doch noch einen tiefreichenden Unterschied, auf dessen Bedeutung besonders
Endre von Ivanka hingewiesen hat: In Byzanz erscheinen Reich und Kirche nahezu miteinander
identifiziert; der Kaiser ist das Haupt auch der Kirche. Er versteht sich als Stellvertreter
Christi, und im Anschluß an die Gestalt des Melchisedek, der König und Priester zugleich
war (Gen 14,18), führt er seit dem 6. Jahrhundert den offiziellen Titel "König und
Priester". Dadurch daß das Kaisertum seit Konstantin aus Rom abgewandert war, konnte
sich in der alten Reichshauptstadt die selbständige Stellung des römischen Bischofs
als Nachfolger Petri und Oberhaupt der Kirche entwickeln; hier wird schon seit Beginn
der konstantinischen Ära eine Dualität der Gewalten gelehrt: Kaiser und Papst haben
je getrennte Vollmachten, keiner verfügt über das Ganze. Papst Gelasius I. (492-496)
hat die Sicht des Westens in seinem berühmten Brief an Kaiser Anastasius und noch
deutlicher in seinem vierten Traktat formuliert, wo er der byzantinischen Melchisedek-Typologie
gegenüber betont, daß die Einheit der Gewalten ausschließlich in Christus liege. "Dieser
selbst hat nämlich wegen der menschlichen Schwäche (superbia!) für spätere Zeiten
die beiden Ämter getrennt, damit sich niemand überhebe (c. 11)." Für die Dinge des
ewigen Lebens bedürfen die christlichen Kaiser der Priester (pontifices), und diese
wiederum halten sich für den zeitlichen Lauf der Dinge an die kaiserlichen Verfügungen.
Die Priester müssen in weltlichen Dingen den Gesetzen des durch göttliche Ordnung
eingesetzten Kaisers folgen, während dieser sich in göttlichen Dingen dem Priester
zu unterwerfen habe. Damit ist eine Gewaltentrennung und -unterscheidung eingeführt,
die für die folgende Entwicklung Europas von höchster Bedeutung wurde und sozusagen
das eigentlich Abendländische grundgelegt hat. Weil auf beiden Seiten entgegen solchen
Abgrenzungen immer der Totalitätsdrang, das Verlangen nach der Überordnung der eigenen
Macht über die andere lebendig blieb, ist dieses Trennungsprinzip auch zum Quell unendlicher
Leiden geworden. Wie es recht zu leben und politisch wie religiös zu gestalten ist,
bleibt ein grundlegendes Problem auch für das Europa von heute und von morgen.
Der
Umbruch in die Neuzeit hinein
Wenn wir nach dem bisher Gesagten die Entstehung
des Karolingischen Reiches einerseits, das Fortbestehen des Römischen Reiches in Byzanz
und seine Slawenmission andererseits als die eigentliche Geburt des "Kontinents" Europa
ansehen dürfen, so bedeutet für die beiden Europen der Beginn der Neuzeit einen Umbruch,
der sowohl das Wesen dieses Kontinents wie seine geographischen Umrisse betrifft.
1453 wurde Konstantinopel von den Türken erobert. O. Hiltbrunner kommentiert dazu
lakonisch: "Die letzten… Gelehrten wanderten… nach Italien aus und vermittelten den
Humanisten der Renaissance die Kenntnis der griechischen Originale; der Osten aber
versank in Kulturlosigkeit." Das mag etwas schroff formuliert sein, weil ja auch das
Osmanische Reich seine Kultur hatte; richtig ist, daß die christlich-griechische,
"europäische" Kultur von Byzanz damit ein Ende fand. So drohte damit der eine Flügel
Europas zu verschwinden, aber das byzantinische Erbe war nicht tot: Moskau erklärt
sich zum dritten Rom, bildet nun selbst ein eigenes Patriarchat auf der Basis der
Idee einer zweiten translatio imperii und stellt sich damit als eine neue Metamorphose
des Sacrum Imperium dar - als eine eigene Form von Europa, das doch dem Westen verbunden
blieb und sich immer mehr an ihm orientierte, bis schließlich Peter der Große es zu
einem westlichen Land zu machen versuchte. Diese Nordverschiebung des byzantinischen
Europa brachte es mit sich, daß nun auch die Grenzen des Kontinents weit nach Osten
in Bewegung kamen. Die Festlegung des Ural als Grenze ist durchaus willkürlich, jedenfalls
wurde die Welt östlich davon immer mehr zu einer Art Hinterhaus Europas, weder Asien
noch Europa, vom Subjekt Europa wesentlich geformt, ohne selbst an seinem Subjektcharakter
teilzunehmen: Objekt und nicht selber Träger seiner Geschichte. Vielleicht ist damit
überhaupt das Wesen eines Kolonialstatus definiert.
Wir können also bezüglich
des byzantinischen, nicht abendländischen Europa zu Beginn der Neuzeit von einem doppelten
Vorgang sprechen: Auf der einen Seite steht das Erlöschen des alten Byzanz mit seiner
historischen Kontinuität zum Römischen Reich; auf der anderen Seite erhält dieses
zweite Europa mit Moskau eine neue Mitte und weitet seine Grenze nach Osten hin aus,
um schließlich in Sibirien eine Art kolonialen Vorbau einzurichten. Gleichzeitig können
wir im Westen ebenfalls einen doppelten Vorgang mit weitreichender historischer Bedeutung
konstatieren. Ein großer Teil der germanischen Welt reißt sich los von Rom; eine neue,
aufgeklärte Art des Christentums entsteht, so daß durch das "Abendland" von nun an
eine Trennlinie verläuft, die deutlich auch einen kulturellen Limes, eine Grenze zweier
unterschiedlicher Denk- und Verhaltensweisen bildet. Freilich gibt es auch innerhalb
der protestantischen Welt Risse, zum einen zwischen Lutheranern und Reformierten,
denen sich Methodisten und Presbyterianer zugesellen, während die Anglikanische Kirche
einen Mittelweg zwischen katholisch und evangelisch auszubilden versucht; dazu kommt
dann auch die Differenz zwischen staatskirchlich geformtem Christentum, das für Europa
kennzeichnend wird und Freikirchen, die ihren Zufluchtsraum in Nordamerika finden,
worüber noch zu sprechen sein wird. Achten wir zunächst noch auf den zweiten Vorgang,
der die neuzeitliche Situation des ehemals lateinischen Europa wesentlich umprägt:
die Entdeckung Amerikas. Der Osterweiterung Europas durch die fortschreitende Ausdehnung
von Rußland nach Asien entspricht der radikale Ausbruch Europas aus seinen geographischen
Grenzen in die Welt jenseits des Ozean, die nun den Namen Amerika empfängt; die Teilung
Europas in eine lateinisch-katholische und eine germanisch-protestantische Hälfte
überträgt sich auf diesen von Europa mit Beschlag belegten Erdteil. Auch Amerika wird
zunächst zu einem erweiterten Europa, zur "Kolonie", schafft sich aber gleichzeitig
mit der Erschütterung Europas durch die Französische Revolution seinen eigenen Subjektcharakter:
Vom 19. Jahrhundert an steht es, wenngleich tief von seiner europäischen Geburt geprägt,
Europa doch als eigenes Subjekt gegenüber.
Bei dem Versuch, durch den Blick
auf die Geschichte die innere Identität Europas zu erkennen, haben wir jetzt zwei
grundlegende geschichtliche Umbrüche anvisiert: als erstes die Ablösung des alten
mediteranen Kontinents durch den weiter nördlich angesetzten Kontinent des Sacrum
Imperium, in dem sich seit der Karolingischen Epoche "Europa" als westlich-lateinische
Welt bildet; daneben das Fortbestehen des alten Rom in Byzanz mit seinem Ausgriff
in die slawische Welt. Wir hatten als zweiten Schritt den Fall von Byzanz und die
damit erfolgende Nord- und Ost-Verschiebung des christlichen Reichsgedankens auf der
einen Seite Europas beobachtet, auf der anderen Seite die innere Teilung Europas in
germanisch-protestantische und lateinisch-katholische Welt, dazu den Ausgriff nach
Amerika, auf das sich diese Teilung überträgt und das sich schließlich als eigenes,
Europa gegenüberstehendes geschichtliches Subjekt konstituiert. Nun müssen wir einen
dritten Umbruch ins Auge fassen, dessen weithin sichtbares Fanal die Französische
Revolution bildete. Zwar war das Sacrum Imperium schon seit dem späten Mittelalter
als politische Realität in Auflösung begriffen und auch als tragende Geschichtsdeutung
immer brüchiger geworden, aber jetzt erst zerbricht auch formell dieser geistige Rahmen,
ohne den sich Europa nicht hätte bilden können. Dies ist sowohl in realpolitischer
wie in ideeller Hinsicht ein Vorgang von erheblicher Tragweite. In ideeller Hinsicht
bedeutet dies, daß die sakrale Fundierung der Geschichte und der staatlichen Existenz
abgeworfen wird: Die Geschichte mißt sich nicht mehr an einer ihr vorausliegenden
und sie formenden Idee Gottes; der Staat wird nunmehr rein säkular betrachtet, auf
Rationalität und Bürgerwillen gegründet. Erstmals in der Geschichte überhaupt entsteht
der rein säkulare Staat, der die göttliche Verbürgung und Normierung des Politischen
als mythische Weltansicht ablegt und Gott selbst zur Privatsache erklärt, die nicht
ins Öffentliche der gemeinsamen Willensbildung gehört. Die wird nun allein als Sache
der Vernunft angesehen, für die Gott nicht eindeutig erkennbar erscheint: Religion
und Glaube an Gott gehören dem Bereich des Fühlens, nicht der Vernunft zu. Gott und
sein Wille hören auf, öffentlich relevant zu sein.
Auf diese Weise entsteht
mit dem ausgehenden 18. und dem beginnenden 19. Jahrhundert eine neue Art von Glaubensspaltung,
deren Ernst wir zusehends zu fühlen bekommen. Sie hat im Deutschen keinen Namen, weil
sie hier sich langsamer ausgewirkt hat. In den lateinischen Sprachen wird sie als
Spaltung zwischen "Christen" und "Laien" bezeichnet. Diese Spannung ist in den letzten
zwei Jahrhunderten als ein tiefer Riß durch die lateinischen Nationen gegangen, während
das protestantische Christentum es zunächst leichter hatte, liberalen und aufgeklärten
Ideen in seinem Inneren Raum zu geben, ohne daß der Rahmen eines weitläufigen christlichen
Grundkonsenses dabei hätte gesprengt werden müssen. Die realpolitische Seite der Ablösung
der alten Reichsidee besteht darin, daß nun definitiv die Nationen, die durch die
Ausbildung einheitlicher Sprachräume als solche identifizierbar geworden waren, als
die eigentlichen und einzigen Träger der Geschichte erscheinen, also einen Rang erhalten,
der ihnen vorher so nicht zugekommen war. Die explosive Dramatik dieses nun pluralen
Geschichtssubjekts zeigt sich darin, daß sich doch die großen europäischen Nationen
mit einer universalen Sendung betraut wußten, die notwendig zum Konflikt zwischen
ihnen führen mußte, dessen tödliche Wucht wir in dem nun verflossenen Jahrhundert
leidvoll erfahren haben.
Die Universalisierung der europäischen Kultur
und ihre Krise
Schließlich ist da aber noch ein weiterer Vorgang zu bemerken,
mit dem sich die Geschichte der letzten Jahrhunderte deutlich in ein neues hinein
überschreitet. Hatte das alte vorneuzeitliche Europa in seinen beiden Hälften wesentlich
nur ein Gegenüber gekannt, mit dem es sich auf Leben und Tod auseinanderzusetzen hatte,
nämlich die islamische Welt; hatte die neuzeitliche Wende die Ausweitung nach Amerika
und in Teile Asiens ohne eigene große Kultursubjekte gebracht, so erfolgt nun der
Ausgriff auf die beiden bisher nur marginal berührten Kontinente: Afrika und Asien,
die man jetzt ebenfalls zu Ablegern Europas, zu "Kolonien" umzugestalten versuchte.
Bis zu einem gewissen Grad ist das auch gelungen, insofern jetzt auch Asien und Afrika
dem Ideal der technisch geprägten Welt und ihres Wohlstands nacheifern, so daß auch
dort die alten religiösen Überlieferungen in eine Situation der Krise eintreten und
rein säkular denkende Schichten immer mehr das öffentliche Leben beherrschen. Aber
es gibt auch eine Gegenwirkung: Die Renaissance des Islam ist nicht nur mit dem neuen
materiellen Reichtum islamischer Länder verbunden, sondern auch von dem Bewußtsein
gespeist, daß der Islam eine tragfähige geistige Grundlage für das Leben der Völker
zu bieten vermöge, die dem alten Europa abhanden gekommen zu sein scheint, das so
trotz seiner noch währenden politischen und wirtschaftlichen Macht immer mehr zum
Abstieg und zum Untergang verurteilt angesehen wird. Auch die großen religiösen Traditionen
Asiens, vor allem seine im Buddhismus ausgedrückte mystische Komponente erheben sich
als geistige Kräfte gegen ein Europa, das seine religiösen und sittlichen Grundlagen
verneint. Der Optimismus über den Sieg des Europäischen, den Arnold Toynbee noch zu
Beginn der sechziger Jahre vertreten konnte, erscheint heute seltsam überholt: "Von
28 Kulturen, die wir identifiziert haben… sind 18 tot und neun von den verbliebenen
zehn - alle in der Tat außer unserer - zeigen, daß sie bereits niedergebrochen sind."
Wer würde das heute so noch sagen mögen? Und überhaupt - was ist das, "unsere" Kultur,
die noch geblieben ist? Ist die siegreich über die Welt ausgebreitete Zivilisation
der Technik und des Kommerzes die europäische Kultur? Oder ist sie nicht eher posteuropäisch
aus dem Ende der alten europäischen Kulturen geboren? Ich sehe da eine paradoxe Synchronie:
Mit dem Sieg der posteuropäischen technisch-säkularen Welt, mit der Universalisierung
ihres Lebensmusters und ihrer Denkweise verbindet sich weltweit, besonders aber in
den streng nicht-europäischen Welten Asiens und Afrikas der Eindruck, daß die Wertewelt
Europas, seine Kultur und sein Glaube, worauf seine Identität beruhten, am Ende und
eigentlich schon abgetreten sei; daß nun die Stunde der Wertesysteme anderer Welten,
des präkolumbianischen Amerika, des Islam, der asiatischen Mystik gekommen sei. Europa
scheint in dieser Stunde seines äußersten Erfolgs von innen her leer geworden, gleichsam
von einer lebensbedrohenden Kreislaufkrise gelähmt, sozusagen auf Transplantate angewiesen,
die dann aber doch seine Identität aufheben müssen. Diesem inneren Absterben der tragenden
seelischen Kräfte entspricht es, daß auch ethnisch Europa auf dem Weg der Verabschiedung
begriffen erscheint. Es gibt eine seltsame Unlust an der Zukunft. Kinder, die Zukunft
sind, werden als Bedrohung der Gegenwart angesehen; sie nehmen uns etwas von unserem
Leben weg, so meint man. Sie werden weithin nicht als Hoffnung, sondern als Grenze
der Gegenwart empfunden. Der Vergleich mit dem untergehenden Römischen Reich drängt
sich auf, das als großer geschichtlicher Rahmen noch funktionierte, aber praktisch
schon von denen lebte, die es auflösen sollten, weil es selbst keine Lebenskraft mehr
hatte.
Damit sind wir bei den Problemen der Gegenwart angelangt. Über die mögliche
Zukunft Europas gibt es zwei gegensätzliche Diagnosen. Da ist auf der einen Seite
die These von Oswald Spengler, der für die großen Kulturgestalten eine Art von naturgesetzlichem
Verlauf glaubte feststellen zu können: Es gibt den Augenblick der Geburt, den allmählichen
Aufstieg, die Blütezeit einer Kultur, ihr langsames Ermüden, Altern und Tod. Spengler
belegt seine These eindrucksvoll aus der Geschichte der Kulturen, in der man dieses
Verlaufsgesetz nachzeichnen kann. Seine These war, daß das Abendland in seiner Spätphase
angelangt sei, die allen Beschwörungen zum Trotz unausweichlich auf den Tod dieses
kulturellen Kontinents hinausläuft. Natürlich kann er seine Gaben an eine neu aufsteigende
Kultur weiterreichen, wie es in früheren Untergängen geschehen ist, aber als dieses
Subjekt habe er seine Lebenszeit hinter sich. Diese als biologistisch gebrandmarkte
These hat zwischen den beiden Weltkriegen besonders im katholischen Raum leidenschaftliche
Bestreiter gefunden; eindrucksvoll ist ihr auch Arnold Toynbee entgegengetreten, freilich
mit Postulaten, die heute wenig Gehör finden. Toynbee stellt die Differenz zwischen
materiellem-technischem Fortschritt einerseits, wirklichem Fortschritt andererseits
heraus, den er als Vergeistigung definiert. Er räumt ein, daß sich das Abendland -
die "westliche Welt" - in einer Krise befindet, deren Ursache er im Abfall von der
Religion zum Kult der Technik, der Nation und des Militarismus sieht. Die Krise heißt
für ihn letztlich: Säkularismus. Wenn man die Ursache der Krise kennt, kann man auch
den Weg der Heilung angeben: Das religiöse Moment muß neu eingeführt werden, wozu
für ihn das religiöse Erbe aller Kulturen gehört, besonders aber das, "was vom abendländischen
Christentum übriggeblieben ist." Der biologistischen tritt hier eine voluntaristische
Sicht entgegen, die auf die Kraft schöpferischer Minderheiten und herausragender Einzelpersönlichkeiten
setzt. Es stellt sich die Frage: Ist die Diagnose richtig? Und wenn - liegt es in
unserer Macht, das religiöse Moment neu einzuführen, in einer Synthese aus Restchristentum
und religiösem Menschheitserbe? Letztlich bleibt die Frage zwischen Spengler und Toynbee
offen, weil wir nicht in die Zukunft schauen können. Aber unabhängig davon stellt
sich die Aufgabe, nach dem zu fragen, was Zukunft gewähren kann und was die innere
Identität Europas in allen geschichtlichen Metamorphosen weiterzuführen vermag. Oder
noch einfacher: was auch heute und morgen die Menschenwürde und ein ihr gemäßes Dasein
zu schenken verspricht.
Um darauf Antwort zu finden, müssen wir noch einmal
in unsere Gegenwart hineinblicken und zugleich ihre geschichtlichen Wurzeln gegenwärtig
halten. Wir waren vorhin ja bei der Französischen Revolution und dem 19. Jahrhundert
stehen geblieben. In dieser Zeit haben sich vor allem zwei neue "europäische" Modelle
entwickelt. Da steht bei den lateinischen Nationen das laizistische Modell: Der Staat
ist streng geschieden von den religiösen Körperschaften, die in den privaten Bereich
verwiesen sind. Er selber lehnt ein religiöses Fundament ab und weiß sich allein auf
die Vernunft und ihre Einsichten gegründet. Angesichts der Fragilität der Vernunft
haben sich diese Systeme als brüchig und diktaturanfällig erwiesen; sie überleben
eigentlich nur, weil Teile des alten moralischen Bewußtseins auch ohne die vorigen
Grundlagen weiterbestehen und einen moralischen Basiskonsens ermöglichen. Auf der
anderen Seite stehen im germanischen Raum in unterschiedlicher Weise die staatskirchlichen
Modelle des liberalen Protestantismus, in denen eine aufgeklärte, wesentlich als Moral
gefaßte christliche Religion - auch mit staatlich verbürgten Kultformen - den moralischen
Konsens und eine weit gespannte religiöse Grundlage verbürgt, der sich die einzelnen
nicht staatlichen Religionen anzupassen haben. Dieses Modell hat in Groß-Britannien,
in den skandinavischen Staaten und zunächst auch im preußisch dominierten Deutschland
staatlichen und gesellschaftlichen Zusammenhalt über lange Zeit hin verbürgt. In Deutschland
allerdings hat der Zusammenbruch des preußischen Staatskirchentums ein Vakuum geschaffen,
das sich dann ebenfalls als Leerraum für eine Diktatur anbot. Heute sind die Staatskirchen
überall von der Auszehrung befallen: Von religiösen Körpern, die Derivate des Staates
sind, geht keine moralische Kraft aus, und der Staat selbst kann moralische Kraft
nicht schaffen, sondern muß sie voraussetzen und auf ihr aufbauen. Zwischen den beiden
Modellen stehen die Vereinigten Staaten von Nordamerika, die einerseits - auf freikirchlicher
Grundlage geformt - von einem strikten Trennungsdogma ausgehen, andererseits über
die einzelnen Denominationen hinweg doch tief von einem nicht konfessionell geprägten
protestantisch-christlichen Grundkonsens geprägt wurden, der sich mit einem besonderen
Sendungsbewußtsein religiöser Art der übrigen Welt gegenüber verband und so dem religiösen
Moment ein bedeutendes öffentliches Gewicht gab, das als vorpolitische und überpolitische
Kraft für das politische Leben bestimmend sein konnte. Freilich darf man sich nicht
verbergen, daß auch in den Vereinigten Staaten die Auflösung des christlichen Erbes
unablässig voranschreitet, während gleichzeitig die schnelle Zunahme des spanischen
Elements und die Anwesenheit religiöser Traditionen aus aller Welt das Bild verändert.
Vielleicht muß man hier doch auch anmerken, daß die Vereinigten Staaten die Protestantisierung
Lateinamerikas, also die Ablösung der katholischen Kirche durch freikirchliche Formen
unübersehbar fördern, aus der Überzeugung heraus, daß die katholische Kirche keine
stabilen Wirtschafts- und politischen Systeme gewährleisten könne, insofern also als
Erzieherin der Nationen versage, während man erwartet, daß das freikirchliche Modell
einen ähnlichen moralischen Konsens und demokratische Willensbildung ermöglichen werde,
wie sie für die Vereinigten Staaten charakteristisch sind. Um das Bild weiter zu komplizieren,
muß man hinzunehmen, daß heute die katholische Kirche die größte Religionsgemeinschaft
in den Vereinigten Staaten bildet, daß sie in ihrem Glaubensleben ganz entschieden
zur katholischen Identität steht, daß aber die Katholiken hinsichtlich des Verhältnisses
von Kirche und Politik die freikirchlichen Traditionen in dem Sinn aufgenommen haben,
daß gerade eine nicht dem Staat verschmolzene Kirche die moralischen Grundlagen des
Ganzen besser gewährleistet, so daß die Förderung des demokratischen Ideals als eine
tief dem Glauben gemäße moralische Verpflichtung erscheint. Man kann in einer solchen
Position mit gutem Recht eine zeitgemäße Fortführung des Modells von Papst Gelasius
sehen, von dem ich oben gesprochen hatte. Kehren wir nach Europa zurück. Zu den
zwei Modellen, von denen wir vorher sprachen, hat sich noch im 19. Jahrhundert ein
drittes gesellt, nämlich der Sozialismus, der sich alsbald in zwei unterschiedliche
Wege aufteilte, den totalitären und den demokratischen. Der demokratische Sozialismus
hat sich von seinem Ausgangspunkt her als ein heilsames Gegengewicht gegenüber den
radikal liberalen Positionen in die beiden bestehenden Modelle einzufügen vermocht,
sie bereichert und auch korrigiert. Er erwies sich dabei auch als die Konfessionen
übergreifend: In England war er die Partei der Katholiken, die sich weder im protestantisch-konservativen
noch im liberalen Lager zu Hause fühlen konnten. Auch im wilhelminischen Deutschland
konnte sich das katholische Zentrum weithin dem demokratischen Sozialismus näher fühlen
als den streng preußisch protestantischen konservativen Kräften. In vielem stand und
steht der demokratische Sozialismus der katholischen Soziallehre nahe, jedenfalls
hat er zur sozialen Bewußtseinsbildung erheblich beigetragen. Das totalitäre Modell
hingegen verband sich mit einer streng materialistischen und atheistischen Geschichtsphilosophie:
Die Geschichte wird deterministisch als ein Prozeß des Fortschritts über die religiöse
und die liberale Phase hin zur absoluten und endgültigen Gesellschaft verstanden,
in der Religion als Relikt der Vergangenheit überwunden sein und das Funktionieren
der materiellen Bedingungen das Glück aller gewährleisten wird. Die scheinbare Wissenschaftlichkeit
verbirgt einen intoleranten Dogmatismus: Der Geist ist Produkt der Materie; die Moral
ist Produkt der Umstände und muß je nach den Zwecken der Gesellschaft definiert und
praktiziert werden; alles, was der Herbeiführung des glücklichen Endzustandes dient,
ist moralisch. Hier ist die Umwertung der Werte, die Europa gebaut hatten, vollständig.
Mehr, hier vollzieht sich ein Bruch mit der gesamten moralischen Tradition der Menschheit:
Es gibt keine von den Zwecken des Fortschritts unabhängigen Werte mehr, alles kann
im gegebenen Augenblick erlaubt oder sogar notwendig, im neuen Sinn moralisch sein.
Auch der Mensch kann zum Mittel werden; nicht der einzelne zählt, sondern einzig die
Zukunft wird zur grausamen Gottheit, die über alle und alles verfügt.
Die kommunistischen
Systeme sind inzwischen zunächst an ihrer falschen ökonomischen Dogmatik gescheitert.
Aber man übersieht allzu gern, daß sie tieferhin an ihrer Menschenverachtung, an ihrer
Unterordnung der Moral unter die Bedürfnisse des Systems und seine Zukunftsverheißungen
zugrunde gegangen sind. Die eigentliche Katastrophe, die sie hinterlassen haben, ist
nicht wirtschaftlicher Natur; sie besteht in der Verwüstung der Seelen, in der Zerstörung
des moralischen Bewußtseins. Ich sehe ein wesentliches Problem unserer Stunde für
Europa und für die Welt darin, daß zwar nirgends das wirtschaftliche Scheitern bestritten
wird und daher Altkommunisten ohne Zögern zu Wirtschaftsliberalen geworden sind; hingegen
wird die moralische und religiöse Problematik, um die es eigentlich ging, fast völlig
verdrängt. Insofern besteht die vom Marxismus hinterlassene Problematik auch heute
fort: Die Auflösung der Urgewißheiten des Menschen über Gott, über sich selbst und
über das Universum - die Auflösung des Bewußtseins moralischer Werte, die nie zur
Disposition stehen, ist noch immer und gerade jetzt wieder unser Problem und kann
zur Selbstzerstörung des europäischen Bewußtseins führen, die wir - unabhängig von
Spenglers Untergangsvision - als eine reale Gefahr ins Auge fassen müssen.
Wo
stehen wir heute?
So stehen wir vor der Frage: Wie soll es weitergehen? Gibt
es in den gewaltigen Umbrüchen unserer Zeit eine Identität Europas, die Zukunft hat
und zu der wir von innen her stehen können? Für die Väter der europäischen Einigung
nach den Verwüstungen des Zweiten Weltkriegs - Adenauer, Schumann, de Gasperi - war
es klar, daß es eine solche Grundlage gibt und daß sie im christlichen Erbe unseres
durch das Christentum gewordenen Kontinents besteht. Für sie war klar, daß die Zerstörungen,
mit denen uns die Nazidiktatur und die Diktatur Stalins konfrontierten, gerade auf
der Abstoßung dieser Grundlage beruhten - auf einer Hybris, die sich dem Schöpfer
nicht mehr unterwarf, sondern beanspruchte, selbst den besseren, den neuen Menschen
zu schaffen und die schlechte Welt des Schöpfers umzumontieren in die gute Welt, die
aus dem Dogmatismus der eigenen Ideologie entstehen sollte. Für sie war klar, daß
diese Diktaturen, die eine ganz neue Qualität des Bösen hervorbrachten, weit über
alle Greuel des Krieges hinaus, auf der gewollten Abschaffung Europas beruhten und
daß man wieder zu dem zurückkehren müsse, was diesem Kontinent in allen Leiden und
Verfehlungen seine Würde gegeben hatte. Der anfängliche Enthusiasmus der neuen Zuwendung
zu den großen Konstanten des christlichen Erbes ist schnell verflogen, und die europäische
Einigung hat sich dann zunächst fast ausschließlich unter wirtschaftlichen Aspekten
vollzogen, unter weitgehender Ausklammerung der Frage nach den geistigen Grundlagen
einer solchen Gemeinschaft.
In den letzten Jahren ist das Bewußtsein dafür
wieder gewachsen, daß die wirtschaftliche Gemeinschaft der europäischen Staaten auch
einer Grundlage gemeinsamer Werte bedarf: Das Anwachsen der Gewalt, die Flucht in
die Droge, das Zunehmen der Korruption läßt uns sehr fühlbar werden, daß der Werteverfall
durchaus auch materielle Folgen hat und daß Gegensteuerung notwendig ist.Die zu
erhoffende künftige europäische Verfassung wird zu den Grundlagen europäischer Identität
Stellung nehmen müssen. Ich möchte hier nicht in die Diskussionen um diesen Text eintreten,
sondern nur drei wesentliche Elemente benennen, die meiner Überzeugung nach nicht
fehlen dürfen. Das erste ist die Unbedingtheit,mit der Menschenwürde und Menschenrecht
als Werteerscheinen müssen, die jeder staatlichen Rechtssetzung vorangehen.
Günter Hirsch hat mit Recht betont, daß diese Grundrechte nicht vom Gesetzgeber geschaffen
noch den Bürgern verliehen werden, "vielmehr existieren sie aus eigenem Recht, sie
sind seit je vom Gesetzgeber zu respektieren, ihm vorgegeben als übergeordnete Werte."
Diese allem politischen Handeln und Entscheiden vorangehende Gültigkeit der Menschenwürde
verweist letztlich auf den Schöpfer: Nur er kann Rechte setzen, die im Wesen des Menschen
gründen und für niemanden zur Disposition stehen. Insofern ist hier wesentlich christliches
Erbe in seiner besonderen Art von Gültigkeit kodifiziert. Daß es Werte gibt, die für
niemanden manipulierbar sind, ist die eigentliche Gewähr unserer Freiheit und menschlicher
Größe; der Glaube sieht darin das Geheimnis des Schöpfers und der von ihm dem Menschen
verliehenen Gottebenbildlichkeit. So schützt dieser Satz ein Wesenselement der christlichen
Identität Europas in einer auch dem Ungläubigen verstehbaren Formulierung.
Nun
wird heute kaum jemand direkt die Vorgängigkeit der Menschenwürde und der grundlegenden
Menschenrechte vor allen politischen Entscheiden verleugnen; zu kurz liegen noch die
Schrecknisse des Nazismus und seiner Rassenlehre zurück. Aber im konkreten Bereich
des sogenannten medizinischen Fortschritts gibt es sehr reale Bedrohungen dieser Werte:
Ob wir an die Klonation, an die Vorratshaltung menschlicher Föten zum Zweck der Forschung
und der Organspende, an den ganzen Bereich der genetischen Manipulation denken - die
stille Auszehrung der Menschenwürde, die hier droht, kann niemand übersehen. Dazu
kommen in wachsendem Maß der Menschenhandel, neue Formen der Sklaverei, das Geschäft
mit menschlichen Organen zum Zweck der Transplantation. Immer werdennatürlich"gute
Zwecke" vorgebracht, um das zu rechtfertigen, was nicht zu rechtfertigen ist.
Fassen
wir zusammen: Die Festschreibung von Wert und Würde des Menschen, von Freiheit, Gleichheit
und Solidarität mit den Grundsätzen der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit schließt
ein Menschenbild, eine moralische Option und eine Idee des Rechts ein, die sich keineswegs
von selbst verstehen, aber in der Tat grundlegende Identitätsfaktoren Europas sind,
die auch in ihren konkreten Konsequenzen verbürgt werden müßten und freilich nur verteidigt
werden können, wenn sich ein entsprechendes moralisches Bewußtsein immer neu bildet. Ich
komme zu einem zweiten Punkt, der für die europäische Identität wesentlich ist:Ehe
und Familie. Die monogame Ehe ist als grundlegende Ordnungsgestalt des Verhältnisses
von Mann und Frau und zugleich als Zelle staatlicher Gemeinschaftsbildung vom biblischen
Glauben her geformt worden. Sie hat Europa, dem abendländischen wie dem östlichen,
sein besonderes Gesicht und seine besondere Menschlichkeit gegeben, auch und gerade
weil die damit vorgezeichnete Form von Treue und von Verzicht immer wieder neu leidvoll
errungen werden mußte. Europa wäre nicht mehr Europa, wenn diese Grundzelle seines
sozialen Aufbaus verschwände oder wesentlich verändert würde.Wir alle wissen,
wie sehr Ehe und Familieheute gefährdet sind - zum einen durch die Aushöhlung
ihrer Unauflöslichkeit durch immer leichtere Formen der Scheidung, zum anderen durch
ein sich immer mehr ausbreitendes neues Verhalten, das Zusammenleben von Mann und
Frau ohne die rechtliche Form der Ehe. In krassem Gegensatz dazu steht das Verlangen
homosexueller Lebensgemeinschaften, die nun paradoxerweise eine Rechtsform verlangen,
die mehr oder weniger der Ehe gleichgestellt werden soll. Mit dieser Tendenz tritt
man aus der gesamten moralischen Geschichte der Menschheit heraus, die bei aller Verschiedenheit
der Rechtsformen der Ehe doch immer wußte, daß diese ihrem Wesen nach das besondere
Miteinander von Mann und Frau ist, das sich auf Kinder hin und so auf die Familie
hin öffnet. Hier geht es nicht um Diskriminierung, sondern um die Frage, was der Mensch
als Mann und Frau ist und wie das Miteinander von Mann und Frau recht geformt werden
kann. Wenn einerseits ihr Miteinander sich immer mehr von rechtlichen Formen löst,
wenn andererseits homosexuelle Gemeinschaft immer mehr der Ehe gleichrangig angesehen
wird, stehen wir vor einer Auflösung des Menschenbildes, deren Folgen nur äußerst
gravierend sein können. Dazu fehlt leider ein klares Wort in der Charta.
Mein
letzter Punkt betrifft den religiösen Bereich. Es würde den Rahmen dieser Konferenz
überschreiten, die großen Fragen zu diskutieren, um die in diesem Bereich gerungen
wird. So beschränke ich mich auf einen Punkt, der für alle Kulturen grundlegend ist:die
Ehrfurcht vor dem, was dem anderen heilig ist und die Ehrfurcht vor dem Heiligen überhaupt,
vor Gott, die sehr wohl auch demjenigen zumutbar ist, der selbst nicht an Gott zu
glauben bereit ist. Wo diese Ehrfurcht zerbrochen wird, geht in einer Gesellschaft
Wesentliches zugrunde. In unserer gegenwärtigen Gesellschaft wird gottlob jemand bestraft,
der den Glauben Israels, sein Gottesbild, seine großen Gestalten verhöhnt. Es wird
auch jemand bestraft, der den Koran und die Grundüberzeugungen des Islam herabsetzt.
Wo es dagegen um Christus und um das Heilige der Christen geht, erscheint die Meinungsfreiheit
als das höchste Gut, das einzuschränken die Toleranz und die Freiheit überhaupt gefährden
oder gar zerstören würde. Meinungsfreiheit findet aber ihre Grenze darin, daß sie
Ehre und Würde des anderen nicht zerstören darf; sie ist nicht Freiheit zur Lüge oder
zur Zerstörung von Menschenrechten. Hier gibt es einen merkwürdigen und nur als pathologisch
zu bezeichnenden Selbsthaß des Abendlandes, das sich zwar lobenswerterweise fremden
Werten verstehend zu öffnen versucht, aber sich selbst nicht mehr mag, von seiner
eigenen Geschichte nur noch das Grausame und Zerstörerische sieht, das Große und Reine
aber nicht mehr wahrzunehmen vermag. Europa braucht, um zu überleben, eine neue -
gewiß kritische und demütige - Annahme seiner selbst, wenn es überleben will. Die
immer wieder leidenschaftlich geforderte Multikulturalität ist manchmal vor allem
Absage an das Eigene, Flucht vor dem Eigenen. Aber Multikulturalität kann ohne gemeinsame
Konstanten, ohne Richtpunkte des Eigenen nicht bestehen. Sie kann ganz sicher nicht
ohne Ehrfurcht vor dem Heiligen bestehen. Zu ihr gehört es, dem Heiligen des anderen
ehrfürchtig zu begegnen, aber dies können wir nur, wenn uns das Heilige, Gott, selbst
nicht fremd ist. Gewiß, wir können und sollen vom Heiligen der anderen lernen, aber
es ist gerade vor den anderen und für die anderen unsere Pflicht, selbst in uns die
Ehrfurcht vor dem Heiligen zu nähren und das Gesicht des Gottes zu zeigen, der uns
erschienen ist - des Gottes, der sich der Armen und Schwachen, der Witwen und Waisen,
des Fremden annimmt; des Gottes, der so menschlich ist, daß er selbst ein Mensch werden
wollte, ein leidender Mensch, der mit uns mitleidend dem Leiden Würde und Hoffnung
gibt. Wenn wir dies nicht tun, verleugnen wir nicht nur die Identität Europas, sondern
versagen auch den anderen einen Dienst, auf den sie Anspruch haben. Den Kulturen der
Welt ist die absolute Profanität, die sich im Abendland herausgebildet hat, zutiefst
fremd. Sie sind überzeugt, daß eine Welt ohne Gott keine Zukunft hat. Insofern ruft
uns gerade die Multikulturalität wieder zu uns selber zurück.
Wie es mit Europa
weitergehen wird, wissen wir nicht. Die Charta der Grundrechte kann ein erster Schritt
sein, daß es wieder bewußt seine Seele sucht. Toynbee ist darin Recht zu geben, daß
das Schicksal einer Gesellschaft immer wieder von schöpferischen Minderheiten abhängt.
Die gläubigen Christen sollten sich als eine solche schöpferische Minderheit verstehen
und dazu beitragen, daß Europa das Beste seines Erbes neu gewinnt und damit der ganzen
Menschheit dient. (Vortrag gehalten vor italienischen Politikern im Frühjahr 2004.
Die deutsche Fassung im November 2004 als Radioakademie für Radio Vatikan.)