2017-09-03 08:51:00

Kolumbiens Opfer: Ein Psychologe erklärt


Papst Franziskus unternimmt mit seiner Kolumbienreise den Versuch, ein Land zu versöhnen - ein Land, in dem der bewaffnete Konflikt acht Millionen Opfer hervorbrachte, Opfer auf allen Seiten und Opfer aller Formen von Gewalt. Ein Sechstel der Bevölkerung: Opfer. Wie überlebt das ein Land? Was brauchen die Menschen, unter welchen Bedingungen sind sie zur Versöhnung bereit? Gudrun Sailer war auf Einladung des deutschen bischöflichen Lateinamerika-Hilfswerks Adveniat in Kolumbien unterwegs und traf dort den Psychologen Oscar Acevedo von der kirchlichen Nationalen Versöhnungskommission.

„Kolumbien ist weder darauf vorbereitet noch dazu bereit, zu verzeihen“. Es ist ein hartes Verdikt, das Acevedo da in den Raum stellt. Tausende Opfer des Konflikts in seinem Heimatland hat der Psychologe gesprochen, und er sah, wie tief sich die erlittene Gewalt den Menschen ins Gedächtnis brannte. „Der Schmerz schafft Zorn und Wut, Formen des Denkens, die gegenüber der Realität ein Gefühl der Unzufriedenheit herstellen“. Eine Befindlichkeit, die den ohnehin heiklen Friedensprozess in Kolumbien auf eine harte Probe stellt. Viele Opfer sähen die Entwicklungen auch positiv, „aber das sind diejenigen, die dazu in der Lage waren, den Schmerz zu überwinden. Jene, die den Schmerz nicht überwunden haben, können die Entwicklungen nicht positiv sehen und glauben nicht an den Friedensprozess.“

Kolumbien: Sechs Millionen Vertriebene, 200.000 Mordopfer

Glauben nicht an den Friedensprozess? Man muss sich die schiere Dimension der ausgeübten und erlebten Gewalt in Kolumbien vor Augen führen, um solche Dynamiken nachvollziehen zu können. Jeder und jede sechste im Land hat am eigenen Leib Gewalt erlebt. „Acht Millionen registrierte Opfer, und das sind nur diejenigen seit 1985“, referiert Acevedo. „Sechs Millionen der Opfer sind Vertriebene, mehr als 200.000 Ermordete, einzeln oder als Massaker, 30.000 Entführte, 50.000 Verschwundene, was viel mehr ist als die Zahl der Verschwundenen während der Militärdiktaturen in Argentinien und Chile. Außerdem: Opfer von Antipersonenminen, sexueller Gewalt, Erpressungen.“

Jetzt, wo – vielleicht – das Gröbste vorbei ist, brauchen diese Menschen Gehör und Zuspruch. Das hat auch die Regierung erkannt. 2012 richtete sie ein Büro für die Opfer des kolumbianischen Konflikts ein (die sogenannte „Unidad para las victimas“), um das getane Unrecht aufzuarbeiten und Fragen von Entschädigung zu klären. Die Menschen können anrufen, chatten, simsen, vorbeikommen. Grundsätzlich gut. Doch diese Einheit ist heillos überlastet, erzählt Acevedo.

„Diese Teams sind zu klein, um so viele Menschen anzuhören, und sie haben keine Methode oder psychologische Strategien zur Wiederherstellung der Erinnerung, sodass die Menschen sich wirklich angehört und symbolisch entschädigt fühlen könnten. Denn das ist einer der schlimmsten Schmerzpunkte bei den Opfern: das Fehlen von Anerkennung. Das Anerkennen dessen, was sie erlebt haben und erinnern, als sei es gestern gewesen, wie die Entführung ihrer Kinder oder die Rekrutierung ihrer Kinder oder der Mord an ihren Kindern.“

Den Opfern zuhören: eine heilsame Erfahrung für das Land

Wie heilsam es sein kann, nicht nur für die Opfer selbst, sondern auch für das ganze Land, den Geschichten der Leidtragenden zuzuhören, zeigte sich eindrucksvoll bei den Friedensgesprächen für Kolumbien in Havanna. 60 Opfer erzählten dort ganz einfach auf dem Podium, was ihnen geschehen war, und formulierten ihre Vorstellungen von Gerechtigkeit und Versöhnung. Oscar Acevedo war dabei, er begleitete sie als Psychologe.

„Die Opfer waren so ausgewählt, dass sie repräsentativ waren: für alle Arten von Gewalt, erlitten durch alle Gruppen von Tätern, repräsentativ auch nach Region und Bevölkerungsgruppen. Das war sehr gut. Denn keine Seite am Verhandlungstisch konnte sagen, seht her, was diese Menschen erleiden mussten - durch eure Schuld. Das wichtigste für viele war der Effekt der Humanisierung, den die Opfer bei den Verhandlern auslösten. Das waren Politiker, die hatten ihre rationalen Techniken zur Lösung des Konflikts. Den Schmerz der Leute zu sehen führte dazu, dass die Verhandler mehr Elemente zur Verfügung hatten über das Leben und die Anliegen der Opfer, die sie nicht hatten, ehe sie ihnen zuhörten. Das war entscheidend.“

Die Landpfarrer: eine Schlüsselrolle

Massiv unterstützt wurde die Aktion, die Opfer nach Havanna zu bringen, von kirchlichen Enrichtungen wie dem deutschen Hilfswerk Adveniat. Und die Kirche bleibt weiter dran bei der großen, grundlegenden Arbeit der Versöhnung. Wieder setzt sie bei den Opfern an – über den Weg der Priester, Laien und Ordensleute, weit verstreut in den dünn besiedelten Regionen des Landes. 1995 rief die Bischofskonferenz die Nationale Versöhnungskommission ins Leben, eine Einrichtung, die auf der breitesten denkbaren Basis – und unabhängig von der Bischofskonferenz selbst – politische Lösungen des blutigen Konflikts suchte und nun, im Jahr eins nach dem Friedensvertrag zwischen Regierung und der größten Guerillagruppe FARC, Himmel und ein wenig auch Hölle in Bewegung setzt, um aus einem Vertrag wirklich Frieden entstehen zu lassen. Wie? Mit Ausbildung.

„Wir investieren in die Ausbildung von Ordensleuten und Priestern, geben ihnen Werkzeuge an die Hand, damit sie den Opfern zuhören können, die sie in ihren Pfarreien und Gemeinden haben. Die Kirchenleute brauchen eine besondere Aufmerksamkeit für den Schmerz, den diese Menschen in ihrem Leben tragen. Das ist wichtig, weil es Anzeichen für neue Formen von Gewalt gibt, die leider und paradoxerweise mit dem Fortschreiten des Friedensprozesses auftauchen.“

Acevedo meint Gewalt in der Familie, aber auch weiterhin sozial und politisch motivierte Gewalt. Dutzenden Morde an Menschenrechtlern und Aktivisten, die für eine gerechtere Umverteilung von Landbesitz kämpften, wurden in den letzten Monaten verzeichneten. Verantwortlich dafür sind mutmaßlich Neo-Paramilitärs, die sich auf eine Sonderform der Selbstverteidigung zurückführen lassen, oder Narcos, also Drogenkartelle.

„Das Land ist gespalten: die einen wollen Frieden, die anderen lehnen ihn ab“

„Es gibt hier leider eine Tradition der Gewalt“, erklärt Acevedo, und mit einem Seitenblick auf die gesellschaftliche Großwetterlage Kolumbiens fügt er hinzu: Mancherorts besteht Interesse daran, dass der Frieden scheitert und der Krieg bleibt.

„Dieses Land ist gespalten zwischen denen, die den Frieden wollen und denen, die den Frieden nicht wollen. Letztere fürchten, dass der Friede die Machtverhältnisse ändert und damit das System der Verteilung von Grundbesitz. Kolumbien ist ein Land, das nach wie vor stark von Landwirtschaft lebt. Ein Land, wo die Grundbesitzer eine zentrale Rolle spielen in der Entstehung von Gewalt. Sie könnten eine ebenso zentrale Rolle spielen beim Beenden dieser Gewalt, wenn sie das Entwicklungsmodell anders verstünden. Letztlich ist das, was wir hier erleben, kein Bürgerkrieg, sondern ein sozialer Krieg. Wir sehen, dass das geltende Modell der wirtschaftlichen Entwicklung es nicht geschafft hat, Bedingungen der Gleichheit, der Gerechtigkeit und des Respekts vor dem Gesetz herzustellen. Es ist ein selbstzerstörerischer Krieg.“

Opfer und Nicht-Opfer denken anders über Gerechtigkeit und Strafe

Der Konflikt in Kolumbien kommt vom Land her, und vom Land her muss er sich auflösen, ist Acevedo überzeugt. Auch die Opfer sitzen auf dem Land, nicht in der Stadt. Deshalb überraschte ihn ein Befund seiner Arbeit als Psychologe wenig: Landleute und Stadtleute, also grob: Opfer und Nicht-Opfer, denken unterschiedlich über Gerechtigkeit.

„Die Städter, jene, die nicht so sehr von dem Konflikt berührt wurden, denken, die Lösung liegt in der Bestrafung. Eine große Bevölkerungsschicht in Kolumbien denkt, die Guerilleros muss man bestrafen, ins Gefängnis werfen oder sie militärisch ausschalten. Anders die Opfer. Bei ihnen kommt selten eine Forderung nach Gerechtigkeit im Sinn von Bestrafung. Die meisten wollen zunächst Wahrheit und Entschädigung als Basis der Versöhnung. Die Opfer sind zugleich diejenigen, die sich am meisten nach Frieden sehnen. Denn sie erleben die Folgeschäden des bewaffneten Konflikts, und sie wissen, dass andere nicht dasselbe durchmachen sollten. Deshalb bestehen sie sehr auf dem Abbau der Faktoren, die den Konflikt hervorbringen.“

 

(rv 01.09.2017 gs)








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