2017-08-30 15:00:00

„Beim Pariser Flüchtlingsgipfel blieb vieles offen“


Das Gipfeltreffen in Paris am Dienstag zur europäischen Flüchtlingspolitik hatte vor allem ein Ziel: Das Leid von Schutzbedürftigen und Migranten soll aus dem Blickfeld der Europäer verschwinden, indem die europäischen Außengrenzen de facto vollends nach Afrika verlagert werden. Das ist das kritische Fazit von Amnesty International. In der Tat will die Europäische Union die Ansprüche auf Asyl oder einen Flüchtlingsstatus künftig bereits in afrikanischen Staaten wie Niger oder Tschad prüfen lassen, wie auf dem Pariser Flüchtlingsgipfel bekannt wurde. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel deutete an, sie könne sich vorstellen, mit afrikanischen Ländern Kontingente über die Übernahme von Flüchtlingen zu vereinbaren. Radio Vatikan hat mit dem Flüchtlingsexperten Christopher Hein gesprochen und ihn zunächst gefragt, ob die Linie, wie sie die Bundeskanzlerin andeutete, die richtige Richtung sei.

Hein: „In den Vereinbarungen, die in Paris getroffen wurden, bleibt sehr vieles offen. Es wird da nicht klar, wie viele Flüchtlinge, die irgendwo in Drittländern in Afrika als solche anerkannt würden, dann tatsächlich die Möglichkeit haben, auf legale Weise in die EU einzureisen: Ob das über Kontingente passiert wie in den klassischen Settlement-Programmen, die es seit vielen Jahren gibt, wenn auch in sehr kleinem quantitativen Maßstab. Oder ob über diesen beschlossenen Mechanismus automatisch jeder, der seine Anerkennung als Flüchtling in einem afrikanischen Land bekommt, dann eine Einreisemöglichkeit in ein europäisches Land hat. Diese und viele andere Fragen sind ungeklärt; es ist auch ungeklärt, in welcher Weise dieses Verfahren zur Anerkennung von Flüchtlingen oder zur Unterscheidung zwischen Flüchtlingen und Arbeitsmigranten aussehen soll.

Ich habe da große Bedenken, denn ich will nicht, dass wir in eine Art „australisches Modell“ hereinschlittern, wo einfach die ganze Frage des Asyls auf andere Staaten ausgebootet wird, in diesem Fall auf Länder wie Niger, Tschad oder sogar Libyen, damit die Menschen nicht mehr hier hereinkommen können.“

RV: Es kommen ja aufgrund der Zusammenarbeit der libyschen Küstenwache mit der EU seit Juni weniger Flüchtlinge in Italien an, heißt es. Wie aber ist die Lage dieser „abgehaltenen“ Menschen in Libyen?

Hein: „Die Lage ist nach wie vor schrecklich. Die Menschen, die in libyschen Gewässern von der libyschen Küstenwache gestoppt werden auf der Reise Richtung Sizilien und Europa, werden nach Libyen zurückgebracht. Sie werden dort der Polizei übergeben und kommen sofort in geschlossene Abschiebezentren, von denen auch noch jüngste Berichte sagen – und ich kann das aus eigener Anschauung bestätigen – dass dort absolut menschenunwürdige Zustände herrschen. Daran hat sich bisher nichts wesentlich geändert; es gibt natürlich die Hoffnung, dass über den Einsatz der internationalen Organisationen wie dem UNHCR oder der internationalen Migrationsorganisation, zusammen auch mit nichtstaatlichen Agenten, in der Zukunft eine Verbesserung eintritt. Im Augenblick muss man aber konstatieren, dass ungefähr 15.000 Flüchtlinge und Migranten von der libyschen Küstenwache zurückgebracht worden und in diesen Zentren auf unbestimmte Zeit eingesperrt sind.“

RV: Die beiden Entscheider in Libyen, Ministerpräsident al-Sarradsch und General Haftar, markierten vor Macron zuletzt Eintracht. Werden sie aber in den Flüchtlingsfragen auch tatsächlich zusammenarbeiten?

Hein: „Das ist alles in der Praxis zu sehen. Natürlich wäre es gut, wenn es zu einer politischen  Einigung der verschiedenen Regierungen und Exponenten zwischen dem östlichen Teil des Landes Kyrenaika und dem westlichen Teil Tripolitana gäbe und damit ein Auseinanderfallen dieses komplexen Landes verhindert würde. Aber das sind bisher nur Wunschvorstellungen, wo man sehen muss, wie sich das in der Praxis dann auswirkt. Für den Augenblick kann man sagen, dass es keine wirkliche Zentralregierung gibt, die eine Kontrolle über das gesamte libysche Territorium hätte.“

RV: Die UN soll in Libyen für eine Verbesserung der humanitären Lage der Migranten sorgen, wurde vorgeschlagen - wie realistisch ist das?

Hein: „Man kann nur hoffen, dass sich die Lage irgendwie verbessern wird. Man kann auch seine Bedenken haben. Bisher operieren die meisten internationalen Organisationen, wie auch die meisten westlichen Botschaften für Libyen aus Tunis; die sind aus Sicherheitsgründen nicht mal physisch anwesend im libyschen Raum. Bisher können wir nur hoffen, auf sehr geringer Stufenleiter zumindest einen Überblick über die Lage in diesen Abschiebezentren zu bekommen und einen ersten Schritt zur humanitären Hilfe hin zu tun. Man darf aber nicht vergessen, dass die Menschen in diesen Zentren ohne irgendwelche Rechte sind; dass sie keinen Rechtsbeistand haben, keinen Rechtsanwalt anrufen können, dass es keinen richterlichen Beschluss gibt, dass die Zeit der Inhaftierung unbestimmt ist. 

Es geht nicht nur darum, die Qualität von Wasser und Ernährung zu verändern und zumindest die Gewalt, die in diesen Zentren ausgeübt wird, zu kontrollieren. Es geht auch darum, dass diese Menschen tatsächlich Rechte bekommen. Davon sind wir weit entfernt, aber sicherlich muss dafür gearbeitet werden, dass das passiert. Das hängt alles miteinander zusammen: Weil die politische Lage in Libyen so konfus ist, ist es natürlich auch schwierig, Kontrolle über den Respekt und die Einhaltung von grundlegenden Menschenrechten zu garantieren.“

RV: Wie läuft es derzeit, Ihrer Beobachtung nach, mit der Lebensrettung auf dem Mittelmeer - nach Einführung des Verhaltenskodex für NGOs und der Übereinkunft mit der libyschen Küstenwache?

Hein: „Da gibt es große Bedenken. Die Libyer haben jetzt ihren sogenannten SAR-Bereich – Search and Rescue – erheblich ausgeweitet, auf etwa 40 Seemeilen. Das ist weit mehr, als die libyschen Territorialgewässer wären, das sind 12 Seemeilen. Die NGO-Schiffe haben Angst, in diesen Bereich einzufahren, weil sie fürchten, dass die libysche Marine tatsächlich direkte Gewalt anwenden könnte, weil sie das als ihren Bereich erklärt, obwohl es sich nach wie vor natürlich um internationale Gewässer handelt. Das ist zwar nicht direkt in den Katalog der Verhaltensmaßregeln eingeschrieben, aber die Konsequenz ist, dass der Operationsbereich für die humanitären Schiffe erheblich eingeschränkt wird.“

(rv/pm 30.08.2017 mg/pr)








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