2017-08-04 11:38:00

Naher Osten: Christen in Bedrängnis - eine Bestandsaufnahme


Das Leiden der christlichen Bevölkerung im Irak hat nun auch eine präzise Zahl: Während in den 1990er Jahren über eine Million Christen im Land lebten, sind es heute nur noch 300.000. Vertreibungen und Verfolgungen durch den selbst ernannten „Islamischen Staat” haben viele christliche Familien in die Flucht getrieben.

Minutiöse Auswertung von Daten

Die Zahlen stehen im jüngsten Bericht der CNEWA (Catholic Near East Welfare Association), der die Lage der Christen im gesamten Nahen Osten ablichtet. 14,5 Millionen Gläubige sind es demnach, die in den Gebieten zwischen Zypern, Ägypten, Israel, Irak, Jordanien, Libanon, Westjordanland, Gazastreifen, Syrien und der Türkei leben. Die 1926 durch Papst Pius XI. gegründete Vereinigung CNEWA hat für ihren Bericht verschiedene Quellen minutiös ausgewertet: Das Päpstliche Jahrbuch, das „World Fact Book“ der amerikanischen CIA, Daten der Vereinten Nationen und der Weltbank sowie Einwohnerstatistiken aus den USA.

Vergleicht man diese Zahlen mit dem Bericht aus dem Jahr 2010, in dem 14,7 Millionen Christen gezählt wurden, so ergibt sich ein Schwund in der Region von 200.000 Gläubigen. Doch auch innerhalb des betrachteten Gebiets hat es aufgrund politischer Unruhen schwere Verwerfungen gegeben. Erst an diesem Donnerstag hatte Papst Franziskus in einer Botschaft den Kolumbusrittern dafür gedankt, dass sie sich für den Verbleib der Christen im Nahen Osten einsetzen.

Exodus von Christen aus dem Irak 

Der massive Wegzug von Christen aus dem eingangs erwähnten Gebiet des Irak begann 2006 und hat sich zwischen 2010 und 2014 nochmals gesteigert. Der Grund: Fortwährende Attentate in christlichen Kirchen und Vierteln, die Tausende von Menschenleben forderten, aber auch das Vorrücken des Islamischen Staates in christliche Gebiete.

Ähnlich stellt sich die Situation im Bürgerkriegsland Syrien dar: Seit 2010 hat sich die christliche Bevölkerung dort halbiert, von 2,2 Millionen auf 1,1 Millionen Gläubige. Zur Erinnerung: Im Jahr 2011 brach dort der Bürgerkrieg aus, der zu einer nie dagewesenen Flüchtlingswelle aus dem wirtschaftlich einst stabilen Syrien geführt hat.

Ägypten nimmt nach wie vor den Spitzenplatz ein

Bestätigt hat sich den Angaben der CNEWA zufolge Ägypten als Spitzenreiter: dort lebt nach wie vor die größte christliche Gemeinschaft des Nahen Ostens. Die Kopten zählen rund zehn Prozent der Gesamtbevölkerung, also etwa 9,4 Millionen Gläubige. Doch auch in Ägypten, so betont der Bericht, sehen sich Christen zunehmendem Druck durch die prekäre wirtschaftliche Situation sowie Anschläge islamistischer Prägung ausgesetzt. 76 Kirchen wurden in den vergangenen Jahren zum Ziel von Anschlägen, führt die CNEWA auf.

In Israel hingegen leben heutzutage nur noch 170.000 Christen vor allem arabischen Ursprungs, also 2,4 Prozent der Bevölkerung, während der Prozentsatz an Christen zur Geburtsstunde des Landes 1948 noch 20 Prozent betrug. Im Westjordanland gibt es 59.000, im Gazastreifen hingegen nur 1.300 Christen auf 2 Millionen Einwohner. In Jerusalem stellen die Christen 15.800 von 870.000 Bewohnern.

Jordanien und Libanon nehmen christliche Flüchtlinge auf

In Jordanien leben aktuell etwa 250.000 Christen, etwas mehr als 2,2 Prozent der Bevölkerung. Viele christliche Familien sind in den vergangenen Jahren als Flüchtlinge ins Land gekommen, insbesondere aus Krisengebieten wie dem nahen Irak. Ähnlich stellt sich die Situation im Libanon dar, wo im Jahr 1932 die Hälfte der Bevölkerung christlichen Glaubens war. Durch vor allem wirtschaftlich bedingte Migration ist die christliche Bevölkerung allerdings auf heute 40 Prozent geschrumpft.

Weltgemeinschaft muss Christen im Nahen Osten helfen

Angesichts dieser Bestandsaufnahme der Situation der Christen im Nahen Osten haben wir den chaldäischen Patriarch Louis Raphael Sako I. um eine Einschätzung gebeten. Er sagte uns: „Ich denke, dass die gesamte Weltgemeinschaft den Christen im Nahen Osten helfen muss, in diesen Ländern zu bleiben. Wir haben jetzt viele Probleme, es spielt sich eine Tragödie ab, eine Verfolgung findet statt. Aber wir haben eine Berufung und eine Mission, die sehr wichtig ist: auch wenn wir draußen sind, müssen wir von unserer Öffnung und unseren Werten sprechen, die auch für die muslimische Welt sehr wichtig sind. Deshalb können wir auch unseren extremistischeren muslimischen Geschwistern helfen, sich ein wenig mehr zu öffnen und zu sehen, dass auf der Welt alle respektiert werden müssen. Ich denke, dass die Christen in diesem Sinn viel zu geben und zu tun haben.“

Doch gerade in seiner Heimat, dem Irak, geht die Rückkehr der vertriebenen Christen nur schleppend voran. Die Situation sei noch lange nicht befriedet, erklärt der Patriarch der mit der katholischen Kirche unierten Glaubensgemeinschaft der Chaldäer. „Die Situation hat sich etwas verbessert im Vergleich zu vorher, aber es herrscht Angst vor der Zukunft, denn es gibt nach wie vor Konflikte, Daesh (der arabische Name für den Islamischen Staat) ist noch nicht besiegt und die Menschen haben Angst vor dieser Ideologie, die nach wie vor stark ist, eine Ideologie, die sich gegen die Nicht-Muslime richtet.“

Auch die Häuser und Infrastrukturen in den christlichen Dörfern, die in der Ninive-Ebene durch den IS überrannt worden seien, seien noch lange nicht vollständig wieder aufgebaut. Unübersichtlich stellt sich auch die Situation unter den Befreiern der Dörfer dar. Einige seien durch Kurdenkämpfer besetzt, andere durch die irakische Armee, wieder andere durch mit der Armee verbündete Milizen. Die Kirche helfe beim Wiederaufbau nach Kräften, einige Familien seien auch schon zurückgekehrt. „Leider, der irakische Staat hat kein Geld. Die Christen wollen aber zurückkehren, auch um zu verhindern, dass andere ihre Häuser besetzen.“  

(rv 04.08.2017 cs)








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