Das Hafturteil gegen den scheidenden Gouverneur von Jakarta, Basuki Tjahaja Purnama „Ahok“, ist Ausdruck der „Macht der Straße“ in Indonesien – so wertet Alex Flor von der Menschenrechtsorganisation „Watch Indonesia“ im Interview mit Radio Vatikan das Urteil gegen den chinesisch-stämmigen Christen, das an diesem Dienstag verkündet wurde. Das Verbot der strengkonservativen islamischen Gruppierung „Hizbut Tahrir", die seit Monaten gegen Ahok hetzte, wertet der Beobachter als „Schaufensterpolitik“ der indonesischen Regierung: sie wolle damit lediglich die Ahok-Befürworter und die Wogen der Proteste gegen den Blasphemie-Prozess ein wenig glätten.
RV: Mit derm Hafturteil gegen Ahok von zwei Jahren war das zuständige Gericht über das von der Staatsanwaltschaft geforderte Strafmaß von zwei Jahren auf Bewährung hinausgegangen. Wie erklären Sie sich das?
„Es ist in diesem Fall nicht nur über das geforderte Strafmaß, sondern auch über die Punkte der Anklage der Staatsanwaltschaft hinausgegangen. Die hat nämlich in ihrem letzten Plädoyer den Anklagepunkt der Blasphemie eigentlich fallen lassen, weil sie ihn aufgrund der Beweislage für unhaltbar hielt und nur noch eine Bewährungsstrafe von zwei Jahren wegen der Verbreitung von religiösem Hass vorgeschlagen. Das Gericht ist eben über beides hinweggegangen, hat die Anschuldigung der Blasphemie wieder aufgenommen und den noch amtierenden Gouverneuer Ahok zu zwei Jahren Haft verurteilt. Das ist eindeutig die Umsetzung der Macht der Straße, und die Macht der Straße wiederum ist die Umsetzung der Macht bestimmter Politiker.“
RV: Die Anwälte Ahoks hatten Berufung angekündigt – wie schätzen Sie von „Watch Indonesia“ die Chancen ein, dass eine Haft doch noch abgewendet werden kann?
„Ich würde mal schätzen, die Chancen stehen 50 zu 50, da ja immerhin die eben erläuterten Punkte durchaus für den Angeklagten sprechen. Wenn selbst die Staatsanwaltschaft auf bestimmten Punkten nicht mehr beharrt, ist es schon verwunderlich, dass ein Gericht ohne Beweislage und ohne Anklage darüber hinausgeht. Ich denke, das sind schon starke Punkte, die für eine Berufung sprechen. Aber wie frei dann die Richter in der Berufungsinstanz sein werden und wie diese überhaupt zusammengesetzt sein wird – die jetzige bestand zum Beispiel aus vier Muslimen und einem Hindu -, das wissen wir noch nicht, das ist Spekulation.“
RV: Indonesische und internationale Menschenrechtsorganisationen verurteilen den Blasphemieprozess gegen Ahok als „Politjustiz". Meinen Sie, so was wird in Indonesien jetzt Schule machen?
„Ich fürchte ja. Anies Baswedan, der Wahlsieger, ist ja nun kein strenger Islamist, er ist eigentlich kein Vertreter dieser Leute, die hier auf die Straße gegangen sind. Er teilt deren Auffassung von Religion und Glaubensumsetzung nicht: Aber: Er hat das eben geduldet und hat sich von dieser Welle tragen lassen, ist darauf geschwommen. Das hat damit zu tun, dass er politisch der Kandidat von Prabowo [Subianto] ist. Der ist ein ehemaliger General und ehemaliger Schwiegersohn des Diktators Suharto und immer noch mit dessen Familie eng verbandelt. Prabowo war verantwortlich für entsprechende Aufhetzungen 1998 gegen die chinesische Minderheit, wo es zu Progromen kam, und er war verantwortlich für das Verschwindenlassen und Töten von politischen Aktivisten in der Zeit zuvor. Und er ist jetzt mitverantwortlich für die Aufhetzung der islamischen Massen gegen christliche oder chinesischstämmige Politiker, die ihm im Wege stehen. Anies Baswedan ist sein Kandidat und es kann sein, dass Prabowo, der bereits vor zwei Jahren für die Präsidentschaft kandidiert hat, möglicherweise zusammen mit Anies als Vize in den nächsten Präsidentschaftswahlkampf ziehen wird und da dann gar keine schlechten Chancen hätte.“
RV: Die Regierung hat in diesen Tagen ein Verbot gegen die strengkonservative islamische Gruppierung „Hizbut Tahrir" auf den Weg gebracht. Man wolle damit gegen eine Spaltung der indonesischen Gesellschaft angehen, hieß es. „Hizbut Tahrir“ hetzte seit Monaten gegen Ahok. Wie bewerten Sie diese Maßnahme?
„Wir kritisieren eigentlich dieses Verbot, denn wenn schon Organisationen verboten werden wegen ihrer Radikalität, dann wären mir da andere eingefallen, die vor „Hizbut Tahrir“ verboten hätten werden müssen. „Hizbut Tahrir“ ist in der Tat extrem islamistisch, sie treten ein für ein Kalifat, erkennen keinen Staat der Welt an, und wenn überhaupt, sehen sie in einem Staat nur das Mittel zur Umsetzung der Scharia, die sie als oberstes religiöses Gebot anerkennen. Nichtsdestotrotz hat „Hizbut Tahrir“ noch nie Gewalttaten ausgeübt. Das heißt, so radikal sie sich verbal äußern, so friedlich sind sie in der Anwendung ihrer Mittel. Da gibt es ganz andere Gruppen, ich nenne bloß die berühmt-berüchtigte Front Pembela Islam (FPI) in Indonesien, die gewaltbereit ist und die sich sehr oft durch gewalttätige Razzien, Schlägereien und Plünderungen hervorgetan hat. Also wenn es einen Unruhefaktor gibt und wenn Leute Grund haben, vor angewandtem Islamismus Angst zu haben, dann hätte man als allererstes die FPI verbieten müssen. Die aber wiederum steht einigen Mächtigen zu nahe, unter anderem genannten Prabowo, als dass mit einem Verbot in näherer Zukunft zu rechnen wäre.“
RV: Also war die Maßnahme nur ein vorgeblicher Schritt, um die Kritiker des Blasphemieprozesses zu besänftigen, die für Ahok auf die Straße gingen?
„Das ist eine kosmetische Maßnahme, das ist Schaufensterpolitik, wenn jetzt sich die Leute über den zunehmenden Islamismus und seine politischen, auch gesellschaftlichen Folgen ereifern, dann zeigen die …? Jetzt: Seht her, wir greifen doch durch gegen die Islamisten durch dieses Verbot. Aber das ist eben eine Maßnahme für die Notizbücher oder für die Fotoapparate, das ist keine Maßnahme, die geeignet ist, um den radikalen Islamismus in Indonesien tatkräftig Einhalt zu gebieten.“
RV: Der Islam galt in Indonesien lange Zeit als moderat. Was sind die tieferen Ursachen der jüngsten Radikalisierung?
„Ich denke, es gibt viele Ursachen, die ineinander spielen, das eine ist eine Zunahme des Islamismus, den wir wahrscheinlich weltweit in den letzten 20, 30 Jahren erleben. Das hat in vielen Regionen, aber auch in Indonesien, etwas zu tun mit einer bestimmten Enttäuschung über den Gang der Welt, mit der Globalisierung, mit den Gewinnern und Verlierern der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung. Und es hat in Indonesien insbesondere auch etwas mit dem Verfall des alten Systems und der neuen Ordnung nach der Diktatur. Eine unreife Gesellschaft, eine unreife Schicht von Politikern konnte dem auch nicht von dem einen auf den anderen Tag eine funktionierende Demokratie entgegensetzen. Das heißt, da blieben viele Werte auf der Strecke, denen keine neuen Werte gefolgt sind, und dann haben sich sehr viele Leute eben auf ihre alte Religion oder auf ihre ethnische Herkunft zurückorientiert, und wir haben das Anfang des Jahrhunderts in blutigen Konflikten auf den Molukken und in Sulawesi in Extremform erlebt. Aber solche Tendenzen leben jetzt eben in anderer Form weiter fort. Und ein weiterer Einflussfaktor ist sicherlich auch eine zunehmende finanzielle und logistische Unterstützung aus bestimmten Staaten des Mittleren Ostens.“
Hintergrund
Der Blasphemieprozess war nach Ansicht politischer Beobachter in Indonesien der wesentliche Faktor für die Niederlage Ahoks bei der Gouverneurswahl Mitte April. Mit 42 Prozent der Stimmen musste sich der Christ seinem muslimischen Herausforderer Anies Baswedan geschlagen geben, für den bei der Stickwahl 58 Prozent der Wähler stimmten. Indonesische und internationale Menschenrechtsorganisationen verurteilten den Blasphemieprozess als „Politjustiz".
Ahok hatte bei einer Wahlkampfveranstaltung im vergangenen Herbst Rizieq Shihab, Chef der salafistischen Islamischen Verteidigungsfront (FPI), dafür kritisiert, Muslime mit einem Koranvers an der Wahl eines Christen hindern zu wollen. Daraufhin erstattete Shihab Anzeige gegen Ahok wegen Blasphemie. Gegen Shihab läuft inzwischen allerdings nach einer Anzeige durch Angelo Wako, Präsident des katholischen Studentenverbands Indonesien, ebenfalls ein polizeiliches Ermittlungsverfahren wegen Blasphemie.
Indonesien war lange Jahre ein Land mit einem ausgeprägt moderaten Islam. Beobachter bewerten die aktuelle Entwicklung als Zeichen für eine Radikalisierung im bevölkerungsreichsten muslimischen Land der Welt.
(rv /kap 11.05.2017 pr)
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