2017-04-22 11:04:00

Tschad-See: Besser nicht von Kindersoldaten sprechen


Es sind nicht die Champs-Elysées – diese Attentate finden fast jenseits der öffentlichen Aufmerksamkeit statt. Trotzdem, die Sache ist verstörend: Seit Jahresbeginn haben schon 27 Kinder in der Region des Tschad-Sees in Afrika Selbstmordattentate durchgeführt. Kinder mit Sprenggürteln, von der Islamistensekte Boko Haram in den Tod geschickt: Darüber ist Unicef alarmiert.

Etwa 600 Jungen und Mädchen hat Boko Haram derzeit in seiner Gewalt – die Mädchen sind übrigens in der Mehrzahl. „Die Medien sprechen ja oft von Kindersoldaten“, erklärt uns Patrick Rose, UNICEF-Verantwortlicher für Mittel- und Westafrika. „Aber in unserem Bereich vermeiden wir diesen Begriff. Denn er trifft überhaupt nicht die Lage dieser Kinder, die wirklich sehr viel komplizierter ist. Oft sind diese Kinder eher eine Art Sklaven: Sie holen Wasser, sie sammeln Feuerholz, sie übernehmen Aufgaben im Haushalt. Das sind also häufig Rollen, die viel weniger verantwortlich – in Anführungszeichen! – sind als die eines Kindersoldaten oder Kämpfers. Eine Mehrzahl der Mädchen wird sexuell missbraucht und dazu gezwungen, die Kinder von Boko-Haram-Kämpfern auszutragen. Geboren werden diese Kinder natürlich in der Regel irgendwo im Wald, ohne ärztliche Hilfe in der Nähe.“

Das alles unter dem Begriff „Kindersoldaten“ zu subsumieren, geht für Unicef also an der Wirklichkeit vorbei, es klänge fast verharmlosend.

Auch über eine andere Zahl ist die UNO-Behörde für die Rechte von Kindern und Jugendlichen alarmiert: Mehr als 1,3 Millionen Kinder sind in der Region des Tschad-Sees auf der Flucht oder vertrieben. Wir reden hier nicht nur von Nigeria, sondern auch von Niger, Tschad und Kamerun.

„Es sind nicht weniger als vier staatliche Armeen, die einen Feldzug gegen Boko Haram durchführen. Diese Armeen haben Ausrüstung und Logistik – das hat Boko Haram nicht. Genau darum benutzt die Gruppe Kinder, um ihre Rebellion fortzusetzen.“

„Diese Kinder sind unschuldig! Das sind Opfer“

Zurück zu den Selbstmordattentätern. Auch das ist so ein Begriff, den Unicef im Zusammenhang mit den entführten Kindern nicht gerne hört und nicht gerne verwendet, sagt Patrick Rose. „Wenn man von Selbstmordattentaten spricht, dann macht man sich überhaupt nicht klar, inwiefern die Kinder das wirklich bewusst tun oder inwiefern man sie dazu gezwungen hat. Nach drei oder vier Jahren der Gefangenschaft, der Gewalt kann man nicht davon ausgehen, dass diesen Kindern noch wirklich klar ist, was sie da tun.“

Werden die Kinder einmal befreit oder können weglaufen, sind sie in der Regel trotzdem für eine – wie man so sagt – Wiedereingliederung in die Gesellschaft verloren. Nicht nur, weil sie einfach zuviel durchgemacht haben. Sondern auch, weil es dafür kaum Programme und Projekte gibt. Solche Programme kosten ja Geld. Unicef hat letztes Jahr dafür eine Spendenkampagne durchgezogen, aber der Erfolg war kümmerlich.

„Ja, das ist für uns bei Unicef wirklich eine große Sorge. Tatsächlich kommen immer wieder Kinder in ihre Gemeinschaften zurück. Aber jetzt, wo es immer wieder zu diesen Attentaten kommt, werden sie sehr misstrauisch betrachtet; die Leute haben Angst vor diesen Kindern. Wir versuchen, mit den Leitern dieser Gemeinschaften – auch mit den religiösen Führern – zusammenzuarbeiten und ihnen begreiflich zu machen: Diese Kinder sind unschuldig! Das sind Opfer. Die brauchen eine Wiederaufnahme in ihre Gemeinschaft, um wieder neu mit ihrer Kindheit anfangen zu können...“

(rv 22.04.2017 sk)








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