2017-04-18 13:28:00

Türkei: Überraschend viele Kurden für Erdogan


Die vielleicht einzige Überraschung an dem Referendum, das an diesem Sonntag in der Türkei durchgeführt wurde, war die Tatsache, dass doch relativ viele Kurden für die von Präsident Erdogan angestrebte Verfassungsänderung gestimmt haben. Das sagt im Gespräch mit Radio Vatikan der Türkei-Experte Günter Seufert. Er arbeitet als Forscher für die Stiftung Wissenschaft und Politik und hat selbst lange Zeit in Istanbul gelebt. Wir haben ihn gefragt, was der knappe Sieg des Ja-Lagers und des Präsidenten Erdogan beim Referendum in der Türkei nun für die Situation im Land bedeutet.

Seufert: „Es bedeutet, dass Präsident Erdogan ein System installiert hat, in dem er praktisch unbegrenzte Vollmachten hat. Gleichzeitig bedeutet es aber auch, dass er die politische und gesellschaftliche Legitimation dazu nicht hat. Es ist schließlich kein Referendum gewesen, wo es um irgendeine Parteifrage geht. Es ist ein Referendum darüber gewesen, wie letzten Endes langfristig politische Entscheidungen gefällt werden und da sehen wir, dass das nicht von der breiten Mehrheit der Bevölkerung getragen worden ist, sondern wirklich von einer sehr knappen Mehrheit; wenn es denn überhaupt eine Mehrheit war, sofern man die Berichte über Wahlfälschungen hinzunimmt.“

RV: Die OSZE-Beobachter beim Referendum hatten ja schon von Anfang an kritisiert, dass der Ablauf dieser Wahl den internationalen Standards nicht genügt hat. Die Oppositionspartei CHP will eine Annullierung des Referendums erreichen. Hat sie da eine Chance?

Seufert: „Meines Erachtens hat sie keine Chance, weil die Institution, die für diese Annullierung zuständig wäre, der hohe Wahlrat ist. Und dieser hat sich bereits während der Wahl für die Regierungspartei entschieden und sich mit dieser Entscheidung auch über bestehende Gesetze hinweg gesetzt. Schon im Vorfeld hatte er auch Entscheidungen getroffen, die im Sinne der Regierung waren, indem er z.B. in mehreren Fällen Wahlbeobachter der Opposition ausgeschlossen hat. Von daher sehe ich nicht, woher eine Änderung der Politik des Wahlrats kommen sollte. Gegen die Entscheidungen des Wahlrats gibt es auch keine Berufungsmöglichkeiten vor den Gerichten.“

RV: Kann man jetzt von einem Abgesang der Demokratie in der Türkei sprechen?

Seufert: „Man kann sicher sagen, dass sich ein undemokratisches System jetzt abgesichert hat oder abgesichert worden ist. Man muss aber auch sehen, dass doch ein großer Teil der Bevölkerung, fast die Hälfte, mit dieser Veränderung nicht einverstanden ist, dass vor allen Dingen in den Städten, die politisch am regsamsten und entscheidendsten sind und wo es politisch immer besonders heiß hergeht wie Ankara oder Izmir, überall mit der knappen Mehrheit mit „Nein“ gestimmt worden ist. Das heißt, es wird viel demokratische Unruhe im Land geben.“

RV: Ein besonderer Blick gilt natürlich jetzt auch den Minderheiten. Wie wird sich das Referendum z.B. auf die Situation der Kurden auswirken, die auch schon im Vorfeld unter großen Repressalien zu leiden hatten?

Seufert: „Eigentlich ist die einzige Überraschung im Wahlergebnis, dass mehr Kurden als gedacht, in den kurdischen Provinzen, aber auch in den großen Städten selbst, für die Annahme des Referendums gestimmt haben. Das hat zwei Gründe: Zum einem ist ein großer Teil der Bevölkerung mit der Kriegsstrategie der PKK nicht einverstanden und andererseits muss man sehen, dass es natürlich Erdogan war, der damals überhaupt die Verhandlungen mit der PKK begonnen hat, auch wenn er sie später abgebrochen hat. Außer der AKP und Erdogan hat keine politische Kraft, weder das Militär noch die sonstigen Oppositionsparteien in der Türkei, überhaupt Verhandlungen geführt. Von daher herrscht wohl bei einer gewissen Anzahl von Kurden die Hoffnung, dass, wenn Erdogan erst einmal sicher im Sattel sitzt, er dann zur Befriedung der Kurdenfrage erneut Verhandlungen aufnimmt.“

RV: Das ist jetzt natürlich schon ein gewisser Widerspruch zur Politik Erdogans, die er in den letzten Monaten ganz offen durchgeführt hat, unter anderem auch mit der Aufhebung der Immunität von Oppositionsabgeordneten, vor allem auch der kurdischen Partei. Wie kann man sich das erklären, dass die Kurden das trotzdem nicht als Bedrohung gesehen haben?

„Ich denke, dass man da unterscheiden muss. Es gibt bei den Kurden insgesamt schon das Bedürfnis, als nationale Gruppe anerkannt zu werden, stärkere Selbstverwaltungsrechte für die eigenen Gebiete aber auch uneingeschränkte, kulturelle Rechte zu bekommen. Das heißt aber nicht, dass alle Kurden die PKK als ihre Vertretung ansehen. Von Beginn an der Verhandlungen mit der PKK war es Erdogans Strategie, in einem begrenzten Umfang kulturelle Rechte zu gewähren. Er hat immer auch ein bisschen mit stärkeren Selbstverwaltungsrechten gespielt; seine Strategie war aber immer die PKK und die ihr nahestehende Parteien aus dem politischen Spiel auszugrenzen.“

RV: Es wurde in den vergangenen Wochen auch über die Wiedereinführung der Todesstrafe diskutiert. Meinen Sie, die wird jetzt, nach dieser Zementierung der Macht, auch kommen?

Seufert: „Erdogan hatte es angekündigt – aber ich gehe nicht davon aus, weil die Einführung der Todesstrafe eigentlich keinen direkten, politischen Gewinn bedeutet, aber viel politischen Schaden anrichtet. Wir wissen, wie fragil die Beziehungen zur europäischen Union sind, und wir wissen, wie wichtig der gemeinsame Markt für die türkische Wirtschaft ist. Auch die beiden stellvertretenden Ministerpräsidenten sagen, wir müssen versuchen, wieder rational und mit der EU zusammen zu arbeiten und uns auf gemeinsame Interessen besinnen. Da würde die Wiedereinführung der Todesstrafe einfach keinen Sinn machen und Erdogan braucht sie politisch auch nicht mehr, da es vor allem Mobilisierungsinstrument für das Referendum gewesen ist, weil die Todesstrafe sehr viele Anhänger in der Türkei hat. Von daher denke ich, dass das eher ein Nachklang ist, um die Leute bei Stange zu halten und dass das dann letzten Endes im Hintergrund verschwindet.“

RV: Was sind denn jetzt die ersten Schritte, die Erdogan und - soweit das von ihm zu Rate gezogen wird - auch das Parlament durchsetzen werden?

Seufert: „Die ersten Schritte sind, dass der Staatspräsident erneut Parteimitglied und damit Parteiführer werden wird, dass er praktisch die Zusammensetzung des hohen Richterrats bestimmt und damit sehr viel Einfluss auf die Justiz gewinnt und dass die hohe Militärgerichtbarkeit abgesetzt wird. Im Augenblick geht es darum, Erdogan auch im Parlament bestimmend zu machen. Über seine erneute Mitgliedschaft bei der AKP und die erneute Führung der stärksten Partei im Parlament wird er also auch im Parlament in der Legislative bestimmend sein und das ist der Hintergrund dafür, dass man sagt: Es wird eine Ein-Mann-Herrschaft errichtet.“

 

(rv 18.04.2017 cs)

(rv 18.04.2017 cs)

 

 








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