2016-11-19 07:00:00

Buchtipp: Solange wir leben, müssen wir uns entscheiden. Leben nach Auschwitz


Ein Auschwitz-Überlebender, der über das Gute und das Böse im Menschen nachdenkt - und mit fast unfassbarer menschlicher Güte überzeugt. Jehuda Bacon heißt der Mann, dem der katholische Psychiater und Bestsellerautor Manfred Lütz mit seinem neuen Buch ein Denkmal besonderer Art gesetzt hat. Es ist ein langes Interview über Gott und die Welt, das Lütz mit dem 1929 in Ostrava geborenen Künstler in Israel aufgezeichnet hat. „Er ist vielleicht der eindrucksvollste Mensch, den ich in meinem Leben erlebt habe“, sagt Lütz über Bacon.

„Er ist ein Auschwitz-Überlebender, den ich im letzten Jahr in Israel erlebt habe, wo wir mit 40 Jugendlichen waren. Er hat mit ihnen geredet und das war so berührend – er hat Auschwitz erlebt, erlitten, als Jude und auch als Gläubiger Jude. Sein Glaube wurde zwar sehr dünn in Auschwitz, aber er hat ihn nicht verloren. Und hat aus diesem Erlebnis von Auschwitz heraus so beeindruckende humane, auch gläubige Konsequenzen gezogen, dass mich das zutiefst berührt hat. Und die Jugendlichen hatten Tränen in den Augen. Und es gab nichts auf Deutsch. Dann habe ich meinen Verleger aus Jerusalem angerufen und gesagt, da müssen wir ein Buch machen. Dann bin ich im Januar hingefahren und habe 15 Stunden mit dem alten Mann geredet, er war voller Vitalität und sehr präsent.

RV: Für Sie als Psychiater war ja vielleicht auch faszinierend zu sehen, mit welch ungeheurer seelischer Widerstandskraft da ein Mensch ausgestattet sein kann. Woran liegt das aus Ihrer Einschätzung im Fall von Jehuda Bacon?

Lütz: „Ich glaube, dass dieser Mensch eine solche Liebenswürdigkeit in sich hat, dass er selbst durch das Grauen von Auschwitz in dieser Liebenswürdigkeit nicht zerstört worden ist. Er wurde sehr misstrauisch nach Auschwitz. Er ist mit 14 nach Auschwitz gekommen, as hat ihn schon sehr tief erschüttert. Aber er hatte etwas in sich, das ihn gehalten hat. Ein Lehrer, der nach Auschwitz deportiert und dort auch vergast wurde, hat den Schülern vorher noch gesagt, denkt dran, in jedem Menschen ist ein Funken Gottes. Und der ist unzerstörbar. Den kann niemand zerstören. Dieser Gedanke, sagt Jehuda Bacon, hat ihn dann aufrecht erhalten.“

RV: Sie fragen Jehuda Bacon ja auch etwa, ob es einen solchen Funken Gottes auch bei den SS-Leuten gab…

Lütz: „Und er sagt, ja. Im Buch erzählt er da eine Geschichte. Dass ein ganz brutaler SS-Mann, der die Leute fast zu Tode schlug, plötzlich zehn Jungs herausholte, darunter auch er, die mussten abmarschieren und dachten, jetzt kommen sie in die Gaskammer, und dabei kamen sie in einen Raum, da lag auf einem Tisch eine Wurst, und der Mann hat die Wurst in zehn Stücke geschnitten und gesagt, Esst. Und dann hat er gesagt, haut ab. Und das, sagte Jehuda Bacon, das ist dieser Funke. Das hat er auch bei anderen erlebt. Ich habe ihn dann gefragt: war auch in Hitler ein Funke Gottes? Und er sagte, das ist eine sehr spezielle Frage - und er erzählte die Geschichte, das Hitler im Ersten Weltkrieg einen Kriegskameraden hatte, der Jude war, und der Hitler schrieb, als die großen Verfolgungen ansetzten, ob er ihn ausreisen lassen könnte, in Erinnerung an die alte Kameradschaft. Und Hitler hat ihn ausreisen lassen. Dann sagte Jehuda Bacon, sehen Sie – auch da ist dieser Funke. Das ist schon sehr beeindruckend, wenn Sie das von einem Auschwitz-Überlebenden hören."

RV: Was sich in diesen Erzählungen von Jehuda Bacon zeigt, ist aber auch, wie sehr der Holocaust, das Böse im Großen, sich spiegelt im täglichen kleinen. Die Monstruosität des Bösen, die dieser Mann dank seines Glaubens und seiner Güte überwinden konnte. Ist das für Sie das eigentlich Erstaunliche an dieser Biografie?

Lütz: „Ja das glaube ich. Er hat sich überlegt, diese SS-Leute waren 20 Jahre alt, er hat sich überlegt, wie wird man so? und hat sehr verständnisvoll über sie geredet: die waren noch jung, die wollten nicht an die Front, die haben überlegt, als sie ihre Pflicht taten. Die Frage, die ich heute als Psychiater häufig gestellt bekomme zu den Terroristen zB, was haben die für eine psychische Störung, was sind das für psychische Mechanismen? Da muss ich oft sagen, das ist keine psychische Störung, psychisch Kranke tun so etwas nicht. Das ist das Böse. Der Mensch hat die Möglichkeit, böse zu sein, aber auch gut zu sein. Und diese Entscheidung hat man jeden Tag. Ich glaube, dass Jehuda Bacon jemand ist, der sehr existenziell gelebt hat. Wenn man so etwas wie Auschwitz erlebt, dann plätschert das Leben nicht mehr so vor einem hin, sondern dann bemerkt man jeden Menschen – das merkt man ihm auch an, jeden Menschen, der ihm gegenübertritt, den nimmt er wirklich wahr.“

RV: Jedes Mal neu entscheiden, ob man das Gute tut oder das Böse, der Versuchung zum Bösen widerstehen: dazu gibt es diese eindrückliche Stelle in dem Buch - Ihr Gesprächspartner erzählt, wie das war damals, als Hungernder in einem Lager, mit der Suppe, die für die anderen bestimmt war.

Lütz: „Diese Geschichte mit der verschütteten Suppe, da hat er selbst gesagt, das sei die größte Versuchung seines Lebens gewesen. Er musste für seine Gruppe eine Suppe tragen, die sie heimlich sich durch Tricks besorgt hatten, aber ganz alleine. Er hätte jetzt behaupten können, er habe die Suppe verschüttet oder jemand hätte sie ihm wahrgenommen. Und er hatte so starken Hunger. Und dann hat er nicht einmal davon gekostet, weil er wusste, dann hätte ich sie ganz aufgegessen. Das sei eine große Versuchung gewesen, die er mit Ach und Krach bestanden hat. Das sind so Beschreibungen, die von außen klein wirken, aber die jeden von uns betreffen. Dass wir Versuchungen haben, denen wir standhalten können, aber nicht notwendigerweise standhalten. Das macht ja die Freiheit des Menschen aus. Heute wird vieles erklärt über psychologische Mechanismus, schlimme Kindheit, soziale Verhältnisse, stimmt ja auch. Viele Dinge sind dadurch beeinflusst, durch Erziehung, kulturelle Phänomene. Aber im letzten ist der Mensch frei und kann zwischen Gut und Böse unterscheiden. Und das ist ein bisschen das Thema des Buches, dass man es bei einem Menschen erlebt, der ganz authentisch ist. Ich habe viel gelernt von Jehuda Bacon und bin dankbar, dass er für dieses Buch zur Verfügung stand.“

 

Jehuda Bacon, Manfred Lütz: Solange wir leben, müssen wir uns entscheiden. Leben nach Auschwitz. Gütersloh, 17 Euro.

(rv 19.11.2016 gs) 








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