2016-11-13 09:00:00

Menschen in der Zeit: Adriana Lettrari


Geboren 1979 in der DDR, aufgewachsen in Europa. Welche Rolle spielt die einstige Teilung des europäischen Kontinents noch heute in den deutschen Köpfen?  Diese Frage treibt die Kommunikationswissenschaftlerin Adriana Lettrari um. Mit dem von ihr gegründeten Netzwerk „Dritte Generation Ostdeutschland“ erforscht sie die Erfahrung der Wende als eine Chance und denkt die unterschiedliche Sozialisierung in Ost und West bewusst europäisch. Für ihr Engagement wird Frau Lettrari nun mit dem Preis „Frauen Europas“ ausgezeichnet, der in diesem Jahr sein 25-jähriges Jubiläum feiert. Frau Adriana Lettrari ist die bisher jüngste Preisträgerin.

*Das Datum der Preisübergabe, der 9. November, der Tag des Mauerfalls hätte symbolischer gar nicht sein können, Frau Lettrari. Als Ihnen mitgeteilt wurde, dass die Wahl zur „Frau Europas 2016“ unter elf Kandidatinnen auf Sie gefallen war, wie war da Ihre erste Reaktion?“

Adriana Lettrari: „Meine erste Reaktion, als ich von dem Preis erfuhr war in der Tat eine sehr, sehr große Überraschung. Ich bekam einen Anruf der Präsidentin der „Frauen Europas“ und Sie teilte mir in unserem Gespräch mit, dass ich ausgewählt worden bin. Ich war in der Tat wahnsinnig erfreut, aber auch wirklich sehr überrascht weil wir wirklich ganz tolle Frauen nominiert waren. Ich nehme daher auch diesen Preis nicht für mich alleine entgegen, sondern für alle die sich in den letzten fünf Jahren ganz engagiert für die Fragen, die uns bewegt haben, eingesetzt haben.“

*Mit dem Preis „Frauen Europas Deutschland“ ehrt die europäische Bewegung Deutschland seit 1991 Frauen, die sich durch ihr mutiges, kreatives oder hartnäckiges ehrenamtliches Engagement in besonderer Weise für das Zusammenwachsen und die Festigung eines vereinten Europas einsetzen. Frau Lettrari, Sie haben die deutsche Teilung und die Spaltung des Kontinents durch den eisernen Vorhang noch als Kind miterlebt. Welche Erinnerungen tragen Sie aus dieser Zeit noch in sich?“

Lettrari: „Die Zeit vor 1989 habe ich in der Tat als durchaus nicht sehr individuelle Zeit in Erinnerung. So kann ich mich erinnern, dass wir sehr als Kinder und auch zu Beginn als Jugendliche darauf organisiert waren, in Gruppen miteinander Dinge zu unternehmen und das es keine besonders große Vielfalt gegeben hat in diesen Gruppen. Als die Mauer dann fiel und ich jugendlich wurde, ich war etwa elf Jahre alt, hatten wir dann die Möglichkeit ganz unterschiedliche Dinge auszuprobieren und Entscheidungen treffen zu können. Etwa welches Musikinstrument wir erlernen möchten oder welchen Sport wir ausüben wollten, das fand ich ganz toll. Es ist aber auch dazu zu sagen, dass uns nicht nur die Zeit der DDR bewegte, also des Eisernen Vorhangs, sondern uns bewegte natürlich auch die Zeit nach 1989, den insbesondere in Ostdeutschland war es eine Zeit der unglaublichen Transformation. Uns hat wahrscheinlich am meisten geprägt , in so einer rasanten Schnelligkeit zu sehen wie sich die Dinge verändern. Nicht nur die Straßennamen sondern auch die Häuser und ihre Farben, denn es wurde unglaublich viel gebaut. Aber auch zum Teil die Berufe und die Tätigkeiten unserer Eltern veränderten sich rasch, weil sie völlig neu anfangen mussten. Ebenso war es mit dem Schulsystem, neue Lehrer waren auf einmal da oder unsere alten Lehrer erzählten uns auf einmal etwas völlig neues. Das war eine unglaubliche Besonderheit.“

*Netzwerk dritte Generation ist ja kein Verein, es wird auch nicht demokratisch gewählt und es gibt bei Ihnen keine Mitgliederversammlung. Sie stellen sozusagen ein kreatives Kommunikationsnetzwerk dar.

Lettrari: „Ja, in der Tat sind wir eine Kreativ- und Kommunikationsplattform, das heißt uns zeichnet aus, dass die Menschen zu uns kommen, die sich für dieses Thema interessieren und dazu Projekte machen wollen. Wir haben kulturelle Ausstellungen, wie Fotoausstellungen oder wissenschaftliche Untersuchungen, wie etwa die Vorstellungen von Büchern. Dazu bieten wir auch Biographie Workshops an und machen viel Pressearbeit. Wir können insbesondere viel mit den Menschen arbeiten, denen das Thema wichtig ist, dass Ost- und Westeuropa jetzt in einer neuen Art miteinander leben, natürlich unter Berücksichtigung der Besonderheiten ihrer Sozialisation. Wir befinden uns in der Generation einer neue Art des Umgangs und der Gestaltung Europas. Die Personen die sich entschieden haben, aus unserer Perspektive rückwärtsgewandt diese Sachverhalte zu betrachten, wie die Einheit Europas eben nicht mehr zukünftig betrachtet werden soll, sind letztendlich nicht unsere Zielgruppe. Wir sind aber offen für jeden, der sich mit unser pluralistischen Thematik beschäftigen möchte. Wir haben aber auch die Erfahrung gemacht, dass auch einige aus unserer Generation sich entscheiden, wie bereits gesagt aus unserer Sicht rückwärtsgewandt zu denken, dass die manchmal wirklich kein Interesse haben neues kennen zu lernen. Sie sind nicht neugierig Menschen aus anderen Ländern zu kennen und da können wir uns nur starkmachen und verstärkt dafür eintreten, dass wir das aber toll finden und dass das für uns der richtige Weg ist. Wir können aber natürlich niemanden missionieren und finden dass aber ausgesprochen schade und erschreckend, aber letztlich wollen wir eine Gegenstimme erheben.“

*Heißt das, dass Sie sich langsam vom Fokus das Wendekind und richten jetzt das Netzwerk vermehrt auf das Migrationskind?“

Lettrari: „Wir haben im vergangenen Jahr ein Memorandum veröffentlicht mit einundzwanzig Statements für das 21. Jahrhundert. Von der gleichen Anzahl an Autorinnen waren sieben Wendekinder, sieben hatten einen Migrationshintergrund. Unser Weg führt uns nach fünf Jahren der Auseinandersetzung mit den Wendekindern, also mit Kindern die in einer doppelten Sozialisation aufgewachsen sind, zu der Frage „Was heißt es in Europa für unsere Generation mit unseren unterschiedlichen Biografien in Verantwortung zu gehen und Entscheidungen zu treffen?“ Viele von uns sind jetzt noch am Anfang oder in der Mitte unserer Berufsbiografie und kommen jetzt auch in Führungsverantwortung. Für uns hat sich daher also die Frage gestellt, auf welche gemeinsamen Werte wir uns von nun an verständigen möchten. Ich möchte insofern gerne die gesamte Generation der zwischen 30- 40-järhigen in Europa mitansprechen. Sie sollen sich ihrer Erfahrung bewusst werden, dass sie den Eisernen Vorhang erlebt haben und das wir in friedvoll überwunden haben. Ich denke, dass ist eines der größten und wichtigsten historischen Erfahrungen in unserem Leben, dass wir es also nicht als kriegerische Auseinandersetzung sondern als friedliche Revolution erleben durften. Ich sagte es bereits zu Beginn, aber dass wir diesen rasanten Wechsel und diese Entwicklungen mitbegleitet haben und ich glaube, dass wir aus diesem Fund auch ganz viel historische Verantwortung für die Zukunft tragen.“

*Der Populismus bereitet Papst Franziskus Sorge. Kirche und Gesellschaft müssen sich gegen die wachsende Fremdenfeindlichkeit in Europa stemmen. Das war der Tenor einer Audienz des Papstes für den Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein Torsten Albig am vergangenen 10. Oktober im Vatikan. Bei der Begegnung sei der Papst von sich aus auf ausländerfeindliche Tendenzen in Deutschland zu sprechen gekommen. Der Papst nehme die Xenophobie in Europa wahr und sie bereite ihm große Sorge. Was denken Sie über diese Aussage?

Lettrari: „Ost- und Westeuropa wurden meines Erachtens nicht als gleichwertig erachtet sondern es gibt das eine oder andere Vorurteil, aus meiner Perspektive, nach wie vor. Das gilt es letztendlich zu überwinden. Meine Antwort auf die Entwicklungen derzeit ist, dass ich es ganz relevant finde, dass sich die Pluralistische Seite noch stärker macht und noch öffentlicher wirksam macht und sichtbar wird. Das deutlich wird das Xenophobie etwas ist, was die Mehrheitsgesellschaft nicht vertritt und was auch eigentlich nicht die Vision Europas ist. Im Gegenteil sie steht letztendlich diametral zu dem was die Gründungsväter und Gründermütter sich bei der Vision Europa überlegt haben. Das ist auch nicht das Erbe was wir antreten wollen.“

*Die Einigung Deutschlands wird allgemein als ein politisches Wunder bezeichnet. Seither sind nur wenige Jahre vergangen und durch die Arbeitslosigkeit, durch die Flüchtlingsfrage und durch den sichtlichen Abfall politischer Verantwortung in Europa  und anderswo scheinen solche Wunder nicht mehr möglich zu sein. Was ist es, was die Menschheit in diesen Rückfall treibt? Ist es die Angst, ist es der Neid, ist es die Unzufriedenheit, die Unsicherheit, die Korruption? Wie geht es weiter in Deutschland, in Europa? Eine große Frage, gestellt an eine junge Frau, die in diesem Jahr „Frau Europas“ geworden ist.

Lettrari: „Die Zukunft der Europäischen Union und der Vision Europas liegt letztendlich in der Mittleren Generation, also der 30 bis 40jährigen. Sie werden im Zuge des demografischen Wandelns nun die Entscheidungsträger und Entscheidungsträgerinnen sein. Es ist daher hochrelevant, dass sie sich darüber im Klaren werden welches historische Erbe sie antreten. In der Tat ist es ein Erbe einer friedlichen Revolution und es ist ein Erbe einer Generation die in sich so pluralistisch ist und daher eine so großen Schatz verbirgt, der noch längst nicht gehoben ist. Wenn es diese Generation schafft sich darüber im Klaren zu werden welchen Schatz sie in sich trägt und diesen nach außen zu tragen und damit wertschätzend umzugehen dann steht Europa eine wunderbare Zukunft bevor.“

ap








All the contents on this site are copyrighted ©.