2016-10-09 10:00:00

Aktenzeichen: Hirntod – Grenzbereich zwischen Leben und Tod


Kann der Hirntod mit Sicherheit festgestellt werden? Was versteht ein Mediziner unter dem Begriff Hirntod? Wie stellt ein Arzt den Hirntod eines Patienten fest? Kann ein Hirntoter wieder ins bewusste Leben zurückgerufen werden? Diese Fragen stehen heute im Vordergrund des Gesprächs mit Manfred Lütz, Diplom Theologe, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Chefarzt des Alexianer-Krankenhauses in Köln. Lütz ist auch Mitglied der Päpstlichen Akademie für das Leben.

 

RV: Vielen Dank, Herr Manfred Lütz, dass Sie zu uns gekommen sind. Zunächst herzlichen Glückwunsch zu Ihrem neuen Buch mit dem Titel „Wie Sie unvermeidlich glücklich werden“. Das ist natürlich ein viel versprechender Titel. Doch heute werden wir uns mit einem ganz anderen Thema befassen, das Ihrem neuen Werk sozusagen entgegengesetzt scheint – nämlich mit dem Hirntod, einem Zustand an der Grenze zwischen Leben und Tod. Herr Lütz, was versteht ein Mediziner unter dem Begriff „Hirntod“?

 

Lütz: Der Hirntod ist das Ende der Hirnfunktionen – der Funktionen von Großhirn, Kleinhirn und Hirnstamm –, das durch entsprechende Untersuchungen festgestellt werden kann.

 

RV: Wie stellt ein Arzt den Hirntod eines Patienten fest?

 

Lütz: Es gibt unterschiedliche Methoden. Es gibt technische Methoden und es gibt bestimmte neurologische Untersuchungen zum Beispiel der Hirnstammreflexe, die ausgefallen sein müssen, um den Hirntod festzustellen. Die Hirntodfeststellung ist eine der sichersten medizinischen Diagnosen, die es gibt.

 

RV: Kann denn ein hirntoter Mensch wieder ins bewusste Leben zurückgerufen werden oder ist das unmöglich?

 

Lütz: Nein, das ist völlig unmöglich. Manchmal wird in den Medien nicht streng unterschieden zwischen Wachkoma und Hirntod. Wachkoma ist kein Hirntod. Das sind Menschen, die manchmal jahrelang im Koma liegen, also ohne Bewusstsein sind, dabei aber manchmal die Augen geöffnet haben. Es sind Fälle beschrieben, da konnten solche Menschen sogar noch nach 16 Jahren ins bewusste Leben zurückkehren, in der Regel mit gewissen Einschränkungen. Aber bei jemandem, bei dem der Hirntod festgestellt ist, ist das völlig ausgeschlossen.

 

RV: Kann der Hirntod denn nicht mit anderen Symptomen verwechselt werden?

 

Lütz: Natürlich gibt es bei menschlichen Erkenntnissen immer auch mal Fehler. Das ist beim Hirntod aber außerordentlich selten und es müsste wirklich sehr dilettantisch zugehen, wenn jemand da eine falsche Diagnose stellt.

 

RV: Dr. Lütz, ich habe einmal gelesen, dass es keine Anästhesie gibt bei einem Hirntoten. Ist das richtig?

 

Lütz: Also man muss das auch nochmal unterschieden. Anästhesie heißt ja, dass man ein Mittel gibt, damit jemand nichts mehr spürt. Das ist beim Hirntoten unsinnig, weil der ohnehin nichts mehr spürt. Was man aber beim Hirntoten macht, ist, dass man ihm bei der Entnahme von Organen ein Muskelrelaxans gibt. Das ist etwas anderes. Muskelrelaxantien verhindern die Bewegung der Muskulatur. Und es ist in der Tat so, dass ein Hirntoter noch Reflexe hat, die über das Rückenmark gesteuert werden. Das ist natürlich für den Laien irritierend, dass jemand, bei dem man festgestellt hat, er ist hirntot und kann nicht mehr zum bewussten Leben zurückkehren, noch plötzlich scheinbar koordinierte Reflexe zeigt. Der kann also zum Beispiel noch den Arm heben, wenn man einen bestimmten Reflex auslöst.

 

RV: Wenn die Diagnostik so eindeutig scheint, warum wird das Thema Hirntod dann in der Öffentlichkeit immer wieder kontrovers diskutiert? Es herrscht unter den Wissenschaftlern eigentlich keine Einigkeit, ob der Hirntod wirklich der Punkt ist, an dem das Leben endet. Ist das nicht eher eine beunruhigende Sachlage?

 

Lütz: Nein, das ist eine Sachlage, wie es sie ja vielfach in der Wissenschaft gibt, dass man bestimmte Punkte mit guten Argumenten unterschiedlich sehen kann. Als im Deutschen Bundestag 1997 diese Debatte sehr intensiv geführt wurde, habe ich mich intensiv mit der wissenschaftlichen Literatur befasst und meine Meinung geändert. Einigkeit besteht darüber, dass der Tod des Menschen, wie die Bundesärztekammer das mal definiert hat, das Ende des Organismus in seiner funktionellen Ganzheit ist. Das heißt: Natürlich sind bei der Beerdigung noch irgendwelche Magenzellen lebendig und die Haare wachsen noch usw. Wenn man tatsächlich warten müsste mit der Beerdigung, bis all diese einzelnen Lebensaspekte weg sind, dann könnte man im Grunde nie beerdigen. Dennoch ist das eine Leiche, das ist nicht mehr ein Ganzes oder – genauer – ein ganzer Mensch. Die Definition der Bundesärztekammer kommt aus der aristotelisch-christlichen Tradition. Die Christen glauben, dass die Seele keinen Ort hat, wo sie sitzt, sie sitzt also nicht im Gehirn, nicht im Herzen oder sonst wo. Das sind eher poetische Darstellungen. Die Seele ist die „forma corporis“, so hat es das Konzil von Vienne in der Folge von Thomas von Aquin definiert. So hat es auch schon Aristoteles gesehen. Das heißt: Die Seele gibt dem Körper eine Form, macht aus ihm sozusagen eine Ganzheit. Wenn der Leib entseelt ist, dann besteht er nur noch aus einzelnen Teilen, ist eben nicht mehr ein Ganzes und genau wenn das eintritt, ist ein Mensch tot. Die Debatte ist dann sehr schwierig gewesen. Als Katholik muss man jedenfalls zwei Prinzipien aufrecht erhalten: Zum einen darf man den Menschen nicht über seine Hirnfunktionen definieren, sonst müsste man am Ende dem zynischen australischen Bioethiker Peter Singer recht geben, für den ein Schimpanse schützenswerter ist als ein später Alzheimer-Patient, weil der Affe bessere Hirnfunktionen hat. Wenn ein Mensch noch ein Organismus in seiner funktionellen Ganzheit ist, dann ist er ein lebender Mensch mit seiner ganzen Würde, ob er nun schwer behindert ist, ob er an Alzheimer-Demenz erkrankt ist oder ob er sonst wie eingeschränkt ist. Ob das auch für einen Hirntoten gilt, da gibt es allerdings unter Katholiken unterschiedliche Auffassungen. Papst Johannes Paul II. hatte im Jahr 2000 in einer Ansprache gesagt: „Der Hirntod scheint der Tod des Menschen zu sein.“ Kardinal Ratzinger hat mir aber daraufhin gesagt – wir hatten in der Päpstlichen Akademie für das Leben darüber Diskussionen – das sei keine lehramtliche Entscheidung gewesen. Das heißt: Katholiken können in der Frage, ob der Hirntod der Tod des Menschen ist, unterschiedlicher Auffassung sein. Es gibt katholische Wissenschaftler und auch nicht katholische Wissenschaftler natürlich, die darauf hinweisen, dass wenn ein Mensch hirntot ist, trotzdem noch bestimmte ganzheitliche Funktionen des Menschen erhalten sind. So wächst ein hirntoter Mensch noch. Der bekannte amerikanische Neurologe Alan Shewmon hat einen Fall beschrieben, wo ein Junge mit vier Jahren als hirntot diagnostiziert wurde und dann bis über das 20. Lebensjahr hinaus proportional gewachsen ist. Ein Hirntoter ist zeugungsfähig. Eine hirntote Frau kann noch ein Kind austragen und eine Schwangerschaft ist ein so komplizierter Prozess, dass man da aus meiner Sicht nicht einfach sagen kann: Diese Frau, das ist jetzt nur noch eine Addition von Organen. Aus meiner Sicht ist diese Frau noch ein Organismus in seiner funktionellen Ganzheit. Andere bestreiten aber genau das. Es kann also unter Katholiken durchaus unterschiedliche Auffassungen zur Frage geben, ob der Hirntod der Tod des Menschen ist.

 

RV: Daran hängt aber dann doch die Antwort auf die Frage, ob man aus hirntoten Menschen Organe zur Transplantation entnehmen darf....

 

Lütz: Die Situation ist auch da kompliziert. Natürlich kann man aus Leichen transplantieren, wenn man das zu einem guten Zweck tut. Das gilt zum Beispiel für die Hornhaut des Auges, die kann man Leichen entnehmen und dann Menschen transplantieren. Aber andere Organe müssen zur Transplantation „lebensfrisch“ sein, wie man sagt. Da gibt es dann aber ein Problem, wenn man sagt: Der Hirntod des Menschen ist nicht der Tod des Menschen. Einige Wissenschaftler vertreten diese Auffassung. Dazu gibt es gute wissenschaftliche Literatur. Und daraus schließen einige: Dann darf man eben keine Organe aus Hirntoten entnehmen, weil man die ja dann töte. Schaut man genauer hin, dann kann das natürlich nicht für eine Niere gelten, denn die Niere ist ein paariges Organ. Wenn man eine Niere sachgerecht entnimmt – der deutsche Außenminister Steinmeier hat sich zum Beispiel eine Niere entnehmen lassen, die er dann seiner Frau gespendet hat –, dann tötet man damit nicht. Das könnte man also auch bei einem Hirntoten tun. Aber, so hört man dann, das könne ja nicht für lebenswichtige Organe gelten. Meine persönliche Auffassung dazu ist: Im Grunde gibt es keine lebenswichtigen Organe mehr. Das ist ein historischer Begriff. Wenn man vor 80 Jahren jemandem das Herz herausgenommen hat, dann hat man ihn natürlich getötet. Aber heute muss man auch jemandem, der ein Herz transplantiert bekommt, erst sein eigenes Herz herausnehmen und man hängt ihn dann an eine Herz-Lungen-Maschine, hat ihn also auf diese Weise natürlich nicht getötet. Das heißt: Wir können heute technisch alle Funktionen von sogenannten lebenswichtigen Organen technisch substituieren. Wenn ich also der Auffassung bin, dass der Hirntod des Menschen nicht der Tod des Menschen ist, so stellt er dennoch eine Situation dar, die nach Pius XII. dazu berechtigt, die Apparate abzustellen. Denn Pius XII. erklärte in den 50-er Jahren, dass man die Apparate abstellen könne, wenn ganz sicher sei, dass ein Mensch nicht  mehr zu Bewusstsein kommen könne, und er fügte ausdrücklich hinzu, das sei keine Euthanasie. Wenn der Hirntod also eindeutig festgestellt ist – und den kann man klar feststellen –, dann kann man die Apparate abstellen und kann jemanden sterben lassen. Aber wenn jemand vorher gesagt hat, er sei bereit seine Organe zu spenden, könnte man ihm theoretisch eine Niere herausnehmen, aber man könnte ihm theoretisch auch das Herz herausnehmen in dieser Situation und ihn dann an eine Herz-Lungen-Maschine anschließen. Dann hat man ihn ja nicht getötet. Dann aber könnte man nach den Richtlinien Papst Pius XII. die Herz-Lungen-Maschine abstellen. Das heißt: Selbst wenn man den Hirntod nicht für den Tod des Menschen hält, wäre Organtransplantation möglich. Ich selbst habe deswegen trotzdem einen Spenderausweis, obwohl ich eben skeptisch bin, ob man den Hirntod des Menschen als Tod ansehen kann.

 

RV: Warum um die Frage des Hirntodes so intensiv gerungen wird, hat gewiss damit zu tun, dass es hier einerseits um die Unantastbarkeit des Lebens jedes Menschen geht, andererseits aber auch um die mögliche Hilfe für Menschen, die ein Spenderorgan dringend brauchen. Kann man sagen, dass man als Katholik die Transplantationsmedizin aktiv unterstützen soll und muss, selbst wenn noch alle letzten Fragen offen sind?

 

Lütz: Ich würde ich nicht sagen, dass man das muss. Und ich würde auch sagen, dass beide Aspekte, die Sie genannt haben, nicht gegenläufig sind. Es ist beides zu respektieren. Es ist ganz richtig, was Sie gesagt haben, dass das Leben unbedingt schützenswert ist und dass man unter keinen Umständen einen Menschen zu einem noch so guten Zweck töten darf. Und natürlich muss man einem Menschen auch helfen, aber nicht mit allen Mitteln. Das heißt, man muss schon auch kritisch sagen: Die Transplantationsmedizin ist eine technische Form der Medizin, die auch eine Art Luxus darstellt. Transplantationen, die wir uns in unseren Breiten leisten können, kosten sehr viel Geld. Mit dem Geld könnte man beispielsweise Hunderten von Leprakranken in Indien helfen. Und das ist ein ethisches Problem. Also alles, was man technisch kann, muss man nicht unbedingt tun. Aber wenn man die Möglichkeit hat zu helfen und wenn das ethisch vertretbar ist, dann soll man es tun. Doch wenn ein Katholik der begründeten Auffassung ist, der Hirntod des Menschen sei nicht der Tod des Menschen und er die von mir oben genannte, etwas komplizierte Argumentation nicht für überzeugend hält, dann muss man ihm zubilligen, gegen die Transplantation von so genannten lebenswichtigen Organen zu sein. Es ist also für Katholiken möglich, hier durchaus ein Spektrum an Auffassungen zu haben. Es gibt keine lehramtliche Entscheidung dazu. Die Prinzipien müssen allerdings klar sein: Der Mensch darf nicht über seine Hirnfunktionen definiert werden und man darf nicht töten.

(rv 09.10.2016 ap )








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