2016-06-13 09:53:00

Papst beim Welternährungsprogramm: Die Rede


Hier lesen Sie die Ansprache des Papstes bei der Jahresversammlung des Exekutivrats des Welternährungsprogramms (WFP) an diesem Montag, 13. Juni 2016, bei FAO-Sitz in Rom. (rv)

 

Ich danke der Exekutivdirektorin Frau Ertharin Cousin für die Einladung, die Jahreskonferenz 2016 des Exekutivrats des Welternährungsprogramms zu eröffnen, sowie für die Worte, mit denen sie mich willkommen geheißen hat. Ebenso grüße ich die Botschafterin Stephanie Hochstetter Skinner-Klée, die Vorsitzende dieser bedeutenden Versammlung, welche die Vertreter verschiedener Regierungen vereint, die aufgerufen sind, konkrete Initiativen zum Kampf gegen den Hunger zu ergreifen. Und indem ich Sie alle, die Sie hier zugegen sind, begrüße, danke ich für die vielen Anstrengungen und für das Engagement in einer Sache, die uns nicht unberührt lassen darf: im Kampf gegen den Hunger, unter dem viele unserer Brüder und Schwestern leiden.

Vor einigen Augenblicken habe ich vor der „Gedenkwand“ gebetet, einem Zeugnis für das Opfer, das die Mitglieder dieses Organismus gebracht haben, indem sie ihr Leben hingaben, damit auch in komplexen Situationen den Hungernden das Brot nicht fehlt. Es ist ein Gedenken, das wir bewahren müssen, um mit derselben Kraft für das so ersehnte Ziel des „Null Hunger“ weiterzukämpfen. Jene am Eingang dieses Hauses eingravierten Namen sind ein beredtes Zeichen dafür, dass das Welternährungsprogramm – weit davon entfernt, eine anonyme und formelle Struktur zu sein – ein wertvolles Instrument der internationalen Gemeinschaft ist, um immer kraft- und wirkungsvollere Aktivitäten zu entfalten. Die Glaubwürdigkeit einer Institution gründet sich nicht auf ihre Erklärungen, sondern auf die von ihren Mitgliedern verwirklichten Taten.

In der Welt hochgradiger Vernetzung und überbordender Kommunikation, in der wir leben, scheinen die geographischen Entfernungen zusammenzuschrumpfen. Wir haben die Möglichkeit, fast zeitgleich in Kontakt zu treten mit dem, was auf der anderen Seite des Planeten geschieht. Durch die Kommunikationstechnologien kommen wir vielen schmerzlichen Situationen näher, und diese Mittel können dazu beitragen (und haben es bereits getan), Gesten des Mitgefühls und der Solidarität auszulösen. Dennoch scheint diese durch die Information geschaffene augenscheinliche Nähe paradoxerweise jeden Tag rissiger zu werden. Das Übermaß an Information, über das wir verfügen, erzeugt allmählich eine „Naturalisierung“ des Elends. Das heißt, Schritt für Schritt werden wir immun gegen die Tragödien der anderen und bewerten sie als „natürlich“. Es sind so viele Bilder, die auf uns eindringen, dass wir den Schmerz sehen, ihn aber nicht berühren; dass wir das Weinen hören, ihm aber keinen Trost spenden; dass wir den Durst sehen, ihn aber nicht löschen. Auf diese Weise werden viele Leben zu einem Teil einer Nachricht, die alsbald durch eine andere abgelöst wird. Und während die Nachrichten sich ändern, ändern sich nicht der Schmerz, der Hunger und der Durst, sondern sie bleiben bestehen. Diese Tendenz – oder Versuchung – verlangt von uns einen weiteren Schritt und offenbart ihrerseits die grundlegende Rolle, die Institutionen wie die Ihre auf der Weltbühne spielen. Heute können wir uns nicht damit zufrieden geben, die Situation vieler unserer Brüder und Schwestern nur zu kennen; es reicht nicht, weitläufige Überlegungen zu entwickeln oder uns in endlose Diskussionen darüber zu vertiefen, indem wir ständig Klischees wiederholen, die alle bereits kennen. Es ist notwendig, das Elend zu „entnaturalisieren“ und aufzuhören, es als eine der vielen Gegebenheiten der Realität anzunehmen. Warum? Weil das Elend ein Gesicht hat. Es hat das Gesicht eines Kindes, es hat das Gesicht einer Familie, es hat das Gesicht von Jugendlichen und von alten Menschen. Es nimmt Gestalt an im Mangel an Möglichkeiten und Arbeit für viele Menschen, es nimmt Gestalt an in Zwangsmigrationen, verlassenen oder zerstörten Häusern. Wir dürfen den Hunger so vieler nicht „naturalisieren“; es ist uns nicht erlaubt zu sagen, dass ihre Situation das Ergebnis eines blinden Schicksals ist, angesichts dessen wir nichts tun können. Wenn das Elend aufhört, ein Gesicht zu haben, können wir der Versuchung erliegen, dass wir anfangen, über „den Hunger“, „die Ernährung“, „die Gewalt“ zu sprechen und zu diskutieren und dabei das konkrete, wirkliche Subjekt auszublenden, das weiter an unsere Türen Klopft. Wenn die Gesichter und die Geschichten fehlen, beginnen die Leben, sich in Zahlen zu verwandeln, und so laufen wir allmählich Gefahr, den Schmerz der anderen zu bürokratisieren. Die Bürokratien beschäftigen sich mit Akten; das Mitgefühl hingegen setzt sich persönlich ein für die Menschen. Ich glaube, dass wir in dieser Hinsicht noch viel zu tun haben. Zusammen mit allen Aktivitäten, die bereits entfaltet werden, ist es notwendig, dafür zu arbeiten, das Elend und den Hunger unserer Mitmenschen zu „entnaturalisieren“ und zu entbürokratisieren. Das verlangt von uns ein Eingreifen in Abstufungen und auf verschiedenen Ebenen, wo als Ziel unserer Bemühungen der konkrete Mensch steht, der leidet und Hunger hat, der aber auch einen unermesslichen Reichtum an Energien und Möglichkeiten in sich trägt, denen wir dazu verhelfen müssen, sich herauszukristallisieren.

Das Elend „entnaturalisieren“

Als ich anlässlich der 2. Welternährungskonferenz bei der FAO war, habe ich gesagt, dass eine der eklatanten Ungereimtheiten, die wir bedenken müssen, die Tatsache ist, dass genügend Nahrung für alle vorhanden ist, » aber nicht alle essen können, während die Verschwendung, die Vernichtung, der exzessive Konsum und der Gebrauch von Lebensmitteln zu anderen Zwecken uns allen vor Augen stehen « (Ansprache an die Vollversammlung der Konferenz [20. November 2014], 3).

Eines sei klargestellt: Der Mangel an Lebensmitteln ist nichts Natürliches; er ist weder ein einsichtiges noch ein selbstverständliches Faktum. Dass heute, mitten im einundzwanzigsten Jahrhundert viele Menschen unter dieser Geißel leiden, ist auf eine egoistische und schlechte Verteilung der Ressourcen zurückzuführen, auf eine „Kommerzialisierung“ der Lebensmittel. Die schlecht behandelte und ausgebeutete Erde gibt uns in vielen Teilen der Welt weiter ihre Früchte, bietet uns immer noch ihr Bestes; die hungrigen Gesichter erinnern uns aber daran, dass wir diese Früchte zweckentfremdet haben. Eine Gabe, die eine universale Bestimmung hat, haben wir zu einem Privileg weniger gemacht. Aus den Früchten der Erde – eine Gabe für die Menschheit – haben wir commodities für einige gemacht und auf diese Weise Ausschließung erzeugt. Der Konsumismus, der unsere Gesellschaften durchdringt, hat uns dazu geführt, uns an den Überfluss und die tägliche Verschwendung von Lebensmitteln zu gewöhnen, und manchmal sind wir nicht einmal mehr fähig, ihren eigentlichen Wert zu schätzen, der über ihre bloß wirtschaftlichen Parameter hinausgeht. Dennoch wird es uns gut tun, uns daran zu erinnern, dass die Nahrung, die man verschwendet, gleichsam vom Tisch des Armen, von dem, der Hunger hat, gestohlen ist. Diese Realität verlangt von uns, über den Verlust und die Verschwendung von Lebensmitteln nachzudenken, um Mittel und Wege zu finden, die das Problem ernsthaft in Angriff nehmen und so ein Ausdruck der Solidarität und des Teilens mit den am meisten Bedürftigen sind (vgl. Generalaudienz [5. Juni 2013]: L’Osservatore Romano [dt.] Jg. 43, Nr. 24 [14. Juni 2013], S. 2).

Den Hunger entbürokratisieren

Wir müssen in aller Ehrlichkeit eingestehen: Es gibt Fragen, die bürokratisiert worden sind. Es gibt Handlungen, die gleichsam „in Kisten verpackt“ sind. Die weltweite Instabilität, die wir erleben, ist allen wohlbekannt. In letzter Zeit sind die Kriege und die drohenden Konflikte das, was in unseren Interessen und Debatten den Vorrang hat. Und so scheint es, dass angesichts des breiten Spektrums existierender Konflikte die Waffen ein so ungewöhnliches Übergewicht erhalten haben, dass sie andere Weisen, Fragen über Streitpunkte zu lösen, völlig zurückgedrängt haben. Diese Präferenz ist mittlerweile so verwurzelt und akzeptiert, dass sie die Verteilung von Lebensmitteln in Kriegsgebieten behindert und damit sogar gegen die Prinzipien und die grundlegendsten Richtlinien des internationalen Rechtes verstößt, das seit vielen Jahrhunderten in Kraft ist. So stehen wir einem eigenartigen und widersinnigen Phänomen gegenüber: Während Hilfen und Entwicklungspläne von verwickelten und unverständlichen politischen Entscheidungen, abwegigen ideologischen Ansichten oder unüberwindlichen Zollschranken behindert werden, gilt das nicht für die Waffen. Ihre Herkunft ist gleichgültig; sie kursieren mit einer großspurigen und nahezu absoluten Freiheit in vielen Teilen der Welt. Und auf diese Weise sind es die Kriege, die ernährt werden, und nicht die Menschen. In einigen Fällen wird der Hunger selbst als Kriegswaffe benutzt. Und die Opfer vervielfachen sich, denn die Anzahl der Menschen, die vor Hunger oder Erschöpfung sterben, kommt zu jener der Kämpfer, die auf dem Schlachtfeld ihr Leben lassen, und jener der vielen Zivilisten, die in den Gefechten und Anschlägen umkommen, hinzu. Wir sind uns dessen vollkommen bewusst, lassen aber zu, dass unser Gewissen sich betäubt, und so machen wir es unsensibel. Auf diese Weise wird die Gewalt unsere einzige Handlungsweise und die Macht das endgültige zu erreichende Ziel. Die schwächsten Bevölkerungsschichten leiden nicht nur unter den kriegerischen Konflikten, sondern sehen zugleich jede Art von Hilfe behindert. Darum ist es dringend, alles zu entbürokratisieren, was verhindert, dass die Pläne für humanitäre Hilfen ihre Ziele erreichen. Darin haben Sie eine grundlegende Rolle, denn wir brauchen wirkliche Helden, die fähig sind, Wege zu öffnen, Brücken zu spannen und Prozeduren zu vereinfachen, bei denen es in erster Linie um das Gesicht des Leidenden geht. Auf dieses Ziel müssen ebenso die Initiativen der internationalen Gemeinschaft ausgerichtet werden.

Es geht nicht darum, Interessen in Einklang zu bringen, die in zentripetalen nationalen Ansichten oder in schändlichen Egoismen verankert bleiben. Es geht vielmehr darum, dass die Mitgliedsstaaten ihren wirklichen Willen zur Zusammenarbeit für diese Ziele entscheidend steigern. Wie wichtig wäre es aus diesem Grund, wenn die Politiker aller Mitgliedsländer beim Welternährungsprogramm an einem Strang zögen. Wie wichtig wäre es, wenn sie den effektiven Willen zur Zusammenarbeit entschieden steigerten, damit das Welternährungsprogramm nicht nur den Dringlichkeiten nachkommen, sondern auch gesichert nachhaltige Projekte verwirklichen sowie langfristige Entwicklungsprogramme fördern kann, entsprechend den Anträgen einer jeden Regierung und in Übereinstimmung mit den Bedürfnissen der Völker.

Das Welternährungsprogramm zeigt mit seinem Weg und seiner Aktivität, dass es möglich ist, wissenschaftliche Kenntnisse, technische Entscheidungen und praktisches Handeln mit den Bemühungen zu koordinieren, Mittel zu sammeln und sie gerecht zu verteilen, das heißt unter Berücksichtigung der Bedürfnisse der Empfänger und des Willens der Geber. Diese Methode kann und muss in den am stärksten unterentwickelten und ärmsten Gegenden die angemessene Entwicklung des örtlichen Potenzials gewährleisten und nach und nach die externe Abhängigkeit beseitigen; zugleich gestattet sie, den Verlust von Lebensmitteln zu reduzieren, so dass nichts verschwendet wird. Kurz gesagt: Das Welternährungsprogramm ist ein wertvolles Beispiel dafür, wie man in der ganzen Welt arbeiten kann, um durch eine bessere Zuteilung der menschlichen und materiellen Ressourcen den Hunger auszurotten und zugleich die örtliche Gemeinschaft zu stärken. In diesem Sinn ermutige ich Sie voranzugehen. Lassen Sie sich nicht von der Ermüdung überwältigen und erlauben Sie nicht, dass die Schwierigkeiten Sie dazu bewegen, aufzugeben. Glauben Sie an das, was Sie tun, und tun Sie es weiterhin mit Begeisterung: Das ist die Art und Weise, wie der Same der Großherzigkeit kraftvoll aufkeimt.

Die katholische Kirche möchte in Treue zu ihrem Auftrag mit allen Initiativen einvernehmlich zusammenarbeiten, die für den Schutz der Menschenwürde – besonders derer, die in ihren Rechten verletzt sind – kämpfen. Damit diese dringende Priorität des „Null Hunger“ Wirklichkeit wird, versichere ich Sie unserer vollen Hilfe und Unterstützung, um alle unternommenen Anstrengungen zu fördern.

„Ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir zu trinken gegeben.“ In diesen Worten liegt eine der Maximen des Christentums. Es ist ein Satz, der jenseits der religiösen Bekenntnisse und der Überzeugungen als goldene Regel für unsere Völker angeboten werden könnte. In der Fähigkeit, sich des Hungers und des Durstes der Mitmenschen anzunehmen, bringt ein Volk die eigene Zukunft ins Spiel. An dieser Fähigkeit, dem Hungrigen und dem Durstigen zu helfen, können wir den Puls unserer Menschlichkeit messen. Darum hoffe ich, dass der Kampf gegen den Hunger und den Durst unserer Brüder und Schwestern – und den wollen wir gemeinsam mit ihnen ausfechten – uns weiter Anstoß gibt, damit wir kreativ nach Lösungen der Veränderung und Verwandlung suchen. Möge der allmächtige Gott die Arbeit Ihrer Hände mit seinem Segen unterstützen. Danke.








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