2016-05-06 12:00:00

Karlspreis-Ansprachen: Europa – ein Glaubensgrundsatz


Ein „Ordnungsruf“ für Europa sei die Verleihung des Karlspreises an Papst Franziskus: so drückte es in seiner Ansprache zur Karlspreisverleihung an den Papst der Aachener Oberbürgermeister Marcel Philipp aus. Die diesjährige Verleihung des Karlspreises falle zusammen mit einer tiefen Krise Europas, das gar drohe, auseinanderzubrechen. „An nationalen Egoismen, an Fagen der Integration, der Sicherheit, der Werte", zählte der Bürgermeister die Gefahren für die europäische Einigung auf. Der Papst selbst wecke auf, rüttle an den Gewissen, weise auf diese Gefahren hin, das betonten ausnahmslos alle Redner. Neben Philipp sprachen in der Sala Regia im Vatikan auch der Präsident des Europäischen Parlaments Martin Schulz, der Präsident der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, und der Präsident des Europäischen Rates Donald Tusk. Auf dieses Wecken und Rütteln durch den Papst antworte man nun mit der Verleihung des prestigeträchtigen Preises: „Diese Karlspreisverleihung ist ein gemeinsamer Ordnungsruf, der zu geistiger Orientierung aufruft und die Leitlinien des politischen Handelns in Europa zum Thema macht, weil diese Basis brüchig geworden ist“, so der Bürgermeister wörtlich.

Und damit gab er die Grundfärbung aller Reden an. Es war viel von Krise die Rede, von Sorge und von Zusammenhalt und gemeinsamer Basis. „Die Erosion des kulturellen und moralischen Fundamentes in Europa ist beängstigend“, so Bürgermeister Philipp. „Schon lange hätten wir es erkennen können: Rechtsextreme Parolen und Strukturen der Renationalisierung dringen in die Mitte der Gesellschaft vor, der veränderte Umgang mit Medien blendet in weiten Teilen die Wirklichkeit aus. Das Konsumverhalten des reichen Europas ist beschämend, in Teilen zerstörerisch“. Und mit den Flüchtlingen käme nun die Globalisierung in einer neuen, unerwarteten Form nach Europa, sie habe ein Gesicht: „Es schaut uns an und berichtet von Furcht, Vertreibung, Armut, Hunger, von Krankheit, Krieg und Tod. Es ist das Gesicht eines Menschen, es sind die Gesichter vieler Menschen.“ Wegschauen ginge nicht mehr, so Philipp, Europa brauche eine Hinwendung zum Menschen.

Selbstkritik und schwindendes Vertrauen

Dabei legte Philipp den Finger in die Wunde eines Europas, das einen Verfall von Moral und Kultur zu beklagen habe. Dies habe unter anderem eine Tendenz zur Abschottung zur Folge, „sowohl einzelner Nationen als auch Europas insgesamt.“ Mauern und Zäune aber lösten keine Probleme.

Martin Schulz nahm diese Krisenbeschreibung auf und nannte sie „stürmische Zeiten“ und eine „Zerreißprobe“. Die Krise sei jetzt ein Anlass, sich selbst zu finden, hatte Bürgermeister Philipp gesagt, und genau diesen Weg leuchtete Schulz in seiner kurzen Ansprache aus. Worum geht es in Europa, was ist das eigentlich, das Projekt Europa? „Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfreiheit und grenzüberschreitenden Zusammenarbeit zwischen Völkern“, zählte Schulz die gemeinsamen Werte auf, gewonnen aus den Trümmern eines Krieges und der Erinnerung an die Gräueltaten des vergangenen Jahrhunderts. „Doch heute laufen wir Gefahr, dieses Erbe zu verspielen. Denn die Fliehkräfte der Krisen treiben uns auseinander, anstatt uns enger aneinander zu binden. Nationale Egoismen, Renationalisierung, Kleinstaaterei sind auf dem Vormarsch. Ohne Frage, Europa steht in der Flüchtlingsfrage vor einer epochalen Herausforderung. Seit dem Zeiten Weltkrieg waren zu keinem Zeitpunkt weltweit mehr Menschen auf der Flucht als heute. Doch Populisten treiben ihr böses Spiel; sie suchen nicht nach Lösungen, sondern schüren Ängste.“ Die Betonung der Nationalstaaten auf Kosten der Gemeinsamkeit Europas bezeichnete er als „Realitätsverweigerung“, Europa durchlebe eine „Solidaritätskrise“. „Deshalb: Jetzt ist es an der Zeit für Europa zu kämpfen. Jetzt müssen alle Europäerinnen und Europäer aufstehen und sich zu Europa bekennen“, so Schulz. Der Papst mache Hoffnung, dass dies gelingen könne, um dann mit einer politischen Spitze auszuführen: „Er zeigt uns – und besonders jenen Regierungschefs, die sich weigern, muslimische Flüchtlinge aufzunehmen mit der Begründung, man sei ein christliches Land – was gelebte Solidarität, was Menschlichkeit heißt.”

Rückzug in eigene Behaglichkeitszone

Jean-Claude Juncker ging in seiner Ansprache dann noch genauer auf dieses Besinnen auf sich selbst ein: „Europa ist das gelebte Bekenntnis zur Würde des Menschen, zu Miteinander und sozialem Frieden“. Ein Rückzug in die „eigene Behaglichkeitszone“ sei keine Option, auch wenn das Projekt Europa unter Druck stehe. „Das europäische Projekt hat sich nicht überholt, es ist aktueller denn je”, so der Präsident der Europäischen Kommission.

„Pope of Hope“

„Pope of Hope“ – der Papst der Hoffnung für Europa: so nannte ein Europapolitiker aus Polen den Papst aus Argentinien. EU-Ratspräsident Donald Tusk schloss mit dieser eingängigen Formulierung seine Rede vor dem Papst zur Verleihung des Karlspreises. Tusk, der vor seinem Engagement in Brüssel zwei Legislaturperioden als polnischer Regierungschef bestritten hatte, hielt seine Rede großteils auf Polnisch und wechselte am Ende zu Englisch. Der Präsident des Europäischen Rates bezog sich ausddrücklich auf die Bedeutung und den Beitrag der Kirche für Europa und zitierte den Begriff des Papstes vom „Feldlazarett“: „Ich bin zutiefst überzeugt, dass heute in diesen unsicheren Zeiten tiefgreifender Veränderungen und dramatischer Herausforderungen alle Gläubigen und Nichtgläubigen eine Kirche brauchen, die niemanden ausschließt, sondern vielmehr alle einschließt.“

Der Papst stelle von dort aus ganz Europa die Frage, was es sein wolle, so Tusk. „Mitfühlend und hilfsbereit oder abweisend und egoistisch? Gegründet auf die zutiefst christlichen Grundsätze der Menschenrechte, der bürgerlichen Freiheiten und der Achtung eines jedes Menschen oder auf den heidnischen Kult von Gewalt und Verachtung?“ „Wir sind und bleiben Europäer“, betonte er. Europa sei „gewissermaßen ein Glaubensgrundsatz“, um den alle Sorge tragen sollten. Andernfalls bleibe von Europa lediglich eine „leere Worthülse“ übrig, so Tusk. Europa solle sein wie Papst Franziskus, ein Hoffnungsträger, wünschte er sich.  „You are the Pope of the Hope“, schloss Tusk mit einem aufmunternden Lächeln an den Papst seine kurze und letzte der vier Ansprachen vor der Papstrede ab.

(rv 06.05.2016 ord)

 








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