2016-04-14 10:00:00

Was Papst Franziskus über die Flüchtlingskrise denkt


Zur Frage der Flüchtlinge in Europa hat sich Papst Franziskus bereits einmal umfasssend geäußert: am 11. Januar 2016 beim Neujahrsempfang für die beim Heiligen Stuhl akkreditierten Diplomaten. Rund ein Drittel seiner Ansprache widmete er der brennend aktuellen Frage. Hier die entsprechende Passage: 

[Ich möchte] Europa einen speziellen Gedanken widmen. Tatsächlich ist dieser Kontinent im Laufe des letzten Jahres von einem gewaltigen Strom von Flüchtlingen heimgesucht worden – von denen viele bei dem Versuch, ihn zu erreichen, den Tod gefunden haben –, von einem Flüchtlingsstrom, der in der jüngeren Geschichte Europas keinen Vergleich kennt, nicht einmal am Ende des Zweiten Weltkriegs. Viele Migranten aus Asien und aus Afrika sehen in Europa einen Anhaltspunkt für Grundsätze wie die Gleichheit vor dem Recht und die in die Natur jedes Menschen selbst eingeschriebenen Werte, z. B. die Unveräußerlichkeit der Würde und die Gleichheit aller Menschen, die Nächstenliebe ohne Unterscheidung der Herkunft und Zugehörigkeit, die Gewissensfreiheit und die Solidarität gegenüber den Mitmenschen.

Die massenhaften Landungen an den Küsten des Alten Kontinents scheinen jedoch das System der Aufnahme ins Wanken zu bringen, das auf den Trümmern des Zweiten Weltkriegs mühsam aufgebaut wurde und immer noch ein Leuchtfeuer der Menschlichkeit darstellt, auf das man sich beziehen kann. Angesichts des gewaltigen Ausmaßes der Ströme und der unvermeidlich damit verbundenen Probleme sind nicht wenige Fragen aufgetaucht nach den realen Möglichkeiten des Empfangs und der Anpassung der Menschen, nach der Veränderung des kulturellen und sozialen Gefüges der Aufnahmeländer wie auch nach einer Umgestaltung einiger regionaler geopolitischer Gleichgewichte. Ebenso relevant sind die Befürchtungen um die Sicherheit, die durch die überhand nehmende Bedrohung durch den internationalen Terrorismus über alle Maßen verschärft werden. Die augenblickliche Migrationswelle scheint die Fundamente jenes „humanistischen Geistes“ zu untergraben, den Europa von jeher liebt und verteidigt. 

Dennoch darf man sich nicht erlauben, die Werte und die Prinzipien der Menschlichkeit, der Achtung der Würde eines jeden Menschen, der Subsidiarität und der gegenseitigen Solidarität aufzugeben, auch wenn sie in einigen Momenten der Geschichte eine schwer zu tragende Bürde sein können. Ich möchte daher meine Überzeugung bekräftigen, dass Europa, unterstützt durch sein großes kulturelles und religiöses Erbe, die Mittel besitzt, um die Zentralität der Person zu verteidigen und um das rechte Gleichgewicht zu finden in seiner zweifachen moralischen Pflicht, einerseits die Rechte der eigenen Bürger zu schützen und andererseits die Betreuung und die Aufnahme der Migranten zu garantieren.

Zugleich empfinde ich die Notwendigkeit, Dankbarkeit auszudrücken für all die Initiativen, die ergriffen wurden, um eine würdige Aufnahme der Menschen zu fördern, darunter z. B. der Migranten- und Flüchtlingsfonds der Entwicklungsbank des Europarates. Ebenso danke ich für das Engagement jener Länder, die eine großherzige Haltung des Miteinander-Teilens gezeigt haben. Ich beziehe mich vor allem auf die Nationen in der Nachbarschaft Syriens, die unverzüglich mit Hilfe und Aufnahme reagiert haben, vor allem auf den Libanon, wo die Flüchtlinge ein Viertel der Gesamtbevölkerung ausmachen, und auf Jordanien, das seine Grenzen nicht geschlossen hat, obwohl es bereits Hunderttausende von Flüchtlingen beherbergt. In gleicher Weise dürfen die Anstrengungen anderer an vorderster Front engagierter Länder nicht vergessen werden, darunter besonders Türkei und Griechenland.

Eine spezielle Anerkennung möchte ich Italien aussprechen, dessen entschiedener Einsatz viele Leben im Mittelmeer gerettet hat und das sich auf seinem Territorium immer noch einer gewaltigen Zahl von Flüchtlingen annimmt. Ich hoffe, dass der traditionelle Sinn für Gastfreundschaft, der das italienische Volk auszeichnet, durch die unvermeidlichen Schwierigkeiten des Augenblicks nicht geschwächt werde, sondern dass es im Licht seiner vieltausendjährigen Tradition fähig sei, den gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Beitrag, den die Migranten bieten können, aufzunehmen und zu integrieren.

Es ist wichtig, dass die Nationen an vorderster Front bei ihrer Auseinandersetzung mit dem aktuellen Notstand nicht allein gelassen werden, und es ist ebenso unerlässlich, einen freimütigen und respektvollen Dialog unter allen von dem Problem betroffenen Nationen – sowohl den Herkunfts- als auch den Durchgangs- oder den Aufnahmeländern – einzuleiten, um mit größerem kreativen Wagemut nach neuen und nachhaltigen Lösungen zu suchen. Tatsächlich ist unter den gegebenen Umständen nicht an Lösungen zu denken, die von den einzelnen Staaten im Alleingang angestrebt werden, denn die Konsequenzen der Entscheidungen eines jeden fallen unvermeidlich auf die gesamte internationale Gemeinschaft zurück.

Es ist ja bekannt, dass die Migrationen mehr, als das bisher der Fall war, ein grundlegendes Element der Zukunft der Welt darstellen werden und dass die Antworten nur das Ergebnis einer gemeinsamen Arbeit sein können, die die Menschenwürde und die Menschrechte achtet. Die von den Vereinten Nationen im vergangenen September angenommene Entwicklungs-Agenda für die nächsten 15 Jahre, die viele der Probleme ins Auge fasst, die in die Migration treiben, wie auch andere Dokumente der internationalen Gemeinschaft zur Handhabung der Migrationsfrage werden eine den Erwartungen entsprechende Anwendung finden können, wenn es gelingt, den Menschen wieder in den Mittelpunkt der politischen Entscheidungen auf allen Ebenen zu stellen und dabei die Menschheit als eine einzige Familie und die Menschen als Geschwister zu betrachten, in der Achtung gegenüber den jeweiligen Unterschieden und Gewissensüberzeugungen.

Wenn man sich mit der Migrationsfrage auseinandersetzt, dürfen nämlich die damit zusammenhängenden kulturellen Hintergründe nicht vernachlässigt werden, angefangen bei denen, die mit der Religionszugehörigkeit verbunden sind. Der Extremismus und der Fundamentalismus finden einen fruchtbaren Boden nicht nur in der Instrumentalisierung der Religion für Ziele der Macht, sondern auch in der Leere der fehlenden Ideale und im Verlust der – auch religiösen – Identität, die den sogenannten Westen dramatisch kennzeichnet. Aus dieser Leere erwächst die Angst, die dazu treibt, den anderen als eine Gefahr und einen Feind anzusehen, sich in sich selbst zu verschließen und sich in vorgefassten Meinungen zu verschanzen.

Das Phänomen der Migration wirft also eine ernste kulturelle Frage auf, deren Beantwortung man sich nicht entziehen kann. Die Aufnahme kann daher eine günstige Gelegenheit sein für eine neue Einsicht und Öffnung des Horizontes – sowohl für den Aufgenommenen, der die Pflicht hat, die Werte, Traditionen und Gesetze der gastgebenden Gemeinschaft zu respektieren, als auch für diese Letztere, die aufgefordert ist, alles zum Tragen kommen zu lassen, was jeder Einwanderer zum Nutzen der gesamten Gemeinschaft beisteuern kann. Auf diesem Gebiet erneuert der Heilige Stuhl seinen Einsatz im ökumenischen und interreligiösen Bereich, um einen aufrichtigen und fairen Dialog einzuleiten, der dadurch, dass er die Besonderheiten und die persönliche Identität eines jeden zur Geltung bringt, ein harmonisches Zusammenleben aller sozialen Komponenten fördert.

(rv 14.04.2016 gs)








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