2016-04-08 12:00:00

Liebe, Bibel, Regeln: Amoris Laetitia - eine Einführung


Man kann gar nicht anders, als beim Titel des Schreibens an den zu Recht berühmtesten und grundlegendsten Text von Papst Franziskus zu denken, Evangelii Gaudium. Wieder steckt bei Amoris Laetitia (AL) das Wort „Freude“ im Titel. Das ist mehr als nur die Ouvertüre, das gibt Grundton und Farbe für all das, was folgt. Später im Text zitiert der Papst zum Wort ‚Freude‘ einen großen Theologen: „Darum sagte der heilige Thomas, dass das Wort „Freude“ gebraucht wird, um von der Ausweitung des Herzens zu sprechen“ (AL126).

Papst Franziskus beginnt sein Schreiben damit, dass er die richtige Perspektive auf das Thema gewinnt. Wie er später sagen wird, geht es nicht um das Verteidigen von etwas verloren Geglaubtem, es geht auch nicht um die Anpassung an die Welt um uns, er schaut erst einmal auf Gott und die Menschen. Es ist ein theologischer und geistlicher Blick, mit dem er sein Schreiben beginnt. Diese theologische Dimension des Sprechens über Ehe und Familie ist wichtig, „um nicht zu einer bloßen Verteidigung einer kalten und leblosen Doktrin zu werden“ (AL 59).

 

Charakter und Quellen

Papst Franziskus legt mit AL einen eigenen Text vor. Wer den Verlauf des synodalen Prozesses verfolgt hat und die beiden Abschlusstexte kennt, vor allem den letzten von 2015, wird vieles wieder finden, und doch ist der Ton und der Charakter ein eigener. Der Papst greift Dinge auf, er übernimmt ganze Abschnitte, aber er ordnet sie in seinen eigenen Gedankengang ein. AL geht aus den Beratungen der Synode hervor, ist aber ein Text von Papst Franziskus.

Den Charakter des Textes kann man schnell erkennen, wenn man auf seine Quellen schaut. Allein 46 Mal zitiert der Papst seine eigenen Katechesen zum Thema Familie aus dem Jahr 2015. Da sind viele eigene Gedanken eingeflossen. Daneben werden aber auch die beiden Abschlusstexte der Bischofssynoden ausführlich zitiert und ganze Absätze übernommen, auch der synodale Prozess findet also Eingang. Als theologische Quelle ragt Thomas von Aquin heraus, immer wieder bezieht sich der Papst auf diesen großen Denker. Papst Johannes Paul II. und seine Meditationen zur „Theologie des Leibes“ aus den frühen 1980er Jahren spielen eine nicht unwesentliche Rolle, und dann sind es eine ganze Reihe von Dichtern und Denkern, bis hin zu einem langen Zitat aus einer Predigt von Martin Luther King.

 

Der Papst entscheidet nicht alles

Gleich zu Beginn eine Einschränkung: „Indem ich daran erinnere, dass die Zeit mehr wert ist als der Raum, möchte ich erneut darauf hinweisen, dass nicht alle doktrinellen, moralischen oder pastoralen Diskussionen durch ein lehramtliches Eingreifen entschieden werden müssen“ (AL 3). Auch dieser Text ist also - wie schon Evangelii Gaudium - ein offener Text. Er schließt Debatten nicht ab, im Gegenteil, er will sie öffnen. Öffnen vor allem für das, was der Papst mit der christlichen Tradition ‚Unterscheidung‘ nennt: Unterscheidung dessen, was der Wille Gottes in ganz konkreten Situationen, nicht in allgemeinen Regeln, ist. Und später im Text: „Wenn man die zahllosen Unterschiede der konkreten Situationen ... berücksichtigt, kann man verstehen, dass man von der Synode oder von diesem Schreiben keine neue, auf alle Fälle anzuwendende generelle gesetzliche Regelung kanonischer Art erwarten durfte. Man kann nur eine neue Ermutigung ausdrücken zu einer verantwortungsvollen persönlichen und pastoralen Unterscheidung der besonderen Fälle“ (AL 299).

Diese konkreten Situationen sind nicht nur Anwendungsräume für die Lehre, „es ist heilsam, auf die konkrete Wirklichkeit zu achten, denn die Forderungen und Anrufe des göttlichen Geistes sprechen auch aus den Ereignissen der Geschichte“ (AL 31): Aus der Wirklichkeit spricht Gottes Geist.

 

Inkulturation

„Außerdem können in jedem Land oder jeder Region besser inkulturierte Lösungen gesucht werden, welche die örtlichen Traditionen und Herausforderungen berücksichtigen“: Ein Satz zu Beginn (AL 3), der eine wichtige Frage des Textes angibt. Wie kann das, was wir von Jesus Christus als froh machende Botschaft erhalten haben, heute inkulturiert werden? Inkulturiert, auch dazu hatte der Papst bereits ausführlich in Evangelii Gaudium nachgedacht. Es geht darum, Glaube und Lehre im konkreten Leben wirklich werden zu lassen, unter den Bedingungen von Sprache, Geschichte, Kultur, ohne aber diese Kultur die Botschaft verdrängen zu lassen. Deswegen braucht es auch immer wieder eine Vergewisserung dessen, was die Kirche zum Thema Familie zu sagen hat, wie etwa durch Amoris Laetitia: „Unsere Lehre über Ehe und Familie darf nicht aufhören, aus dem Licht der Verkündigung von Liebe und Zärtlichkeit Anregung zu schöpfen und sich dadurch zu verwandeln“ (AL 59).

 

Liebe

Auffällig ist die ausführliche Auslegung der Heiligen Schrift. Der Papst beginnt mit einem Psalm, später ist es der Hymnus auf die Liebe aus dem Ersten Korintherbrief, den er meditiert. Überhaupt ist dieses Liebes-Kapitel das Zentralkapitel im gesamten Text. Voller psychologischer Klugheit geht er auf die verschiedenen Dimensionen der Liebe ein, beginnend mit der Schrift.

Diese biblische Betrachtung ist nicht nur geistliche Umrandung, sie bezeichnet den Kern der Überlegungen. Hier geht es nicht um Soziologie und auch nicht um Moral, hier geht es um die Beziehung Gottes zu den Menschen in den Beziehungen der Menschen untereinander. Biblisch gesehen ist die Familie nichts, was sich „als Folge abstrakter Thesen“ erweist (AL 22), sondern ein Weg, ein Prozess. Ganz wie das Leben eben.

Der Papst zitiert ausführlich Martin Luther King, um die Grenzenlosigkeit der Liebe auszulegen, ohne sie aber jemals in ein romantisiertes Ideal zu verwandeln. Über die Schrift hinaus spricht er auch über die Körperlichkeit, die Emotionen, die Erotik und den Wandel der Liebe im Alter, bis hin zum Verlust, den Liebe ertragen muss.

All seine Auslegungen kreisen um das Verhältnis zum Anderen, das sich im Verhältnis zu sich selbst ausdrückt, und umgekehrt.

 

Menschenkenner

Der Papst erweist sich einmal mehr als ein Menschenkenner, er weiß um das komplexe Innenleben. Man muss auch kein praktizierender Experte in Sachen Ehe sein, um die inneren Windungen der Seele kennen zu lernen. Papst Franziskus erweist sich als kundig in all dem, was sich in uns Menschen regt und bewegt, ohne abstrakt, psychologisierend, herablassend oder moralisierend zu sein. Ein Beispiel: „Zu glauben, dass wir gut sind, nur weil wir „Gefühle haben“, ist eine gewaltige Täuschung. Es gibt Menschen, die sich zu großer Liebe fähig fühlen, nur weil sie ein starkes Bedürfnis nach Zuneigung haben, aber sie verstehen nicht, für das Glück der anderen zu kämpfen, sondern leben in ihre eigenen Wünsche eingeschlossen“ (AL 145).

Deswegen kann der Papst auch über Sexualität und Intimität sprechen, ohne dass es peinlich wirkt oder nach medizinischen oder psychologischen Fachbüchern klingt. Er überhöht sie nicht oder tut so, also ob es bei Sexualität um etwas vermeintlich „Höheres“ gehe, als um Leidenschaft und Körperlichkeit. „Die Sexualität ist nicht ein Mittel zur Befriedigung oder Vergnügung, denn es ist eine zwischenmenschliche Sprache, bei der der andere ernst genommen wird in seinem heiligen und unantastbaren Wert“ (AL 151). Sexualität ist auch Teilhabe an der Fülle des Lebens in Christi Auferstehung (AL 316).

 

Was ist christliche Ehe?

Viel war während der Synoden und im Vorfeld der Veröffentlichung des Textes von Ängsten die Rede, der Papst ‚würde die Lehre verändern’, was auch immer damit gemeint war. Was eine christliche Ehe ist, geht er kapitellang durch, um dann gleich zu Beginn von Kapitel 8 eine kurze Zusammenfassung zu geben: „Die christliche Ehe, ein Abglanz der Vereinigung Christi und seiner Kirche, wird voll verwirklicht in der Vereinigung zwischen einem Mann und einer Frau, die sich in ausschließlicher Liebe und freier Treue einander schenken, einander gehören bis zum Tod, sich öffnen für die Weitergabe des Lebens und geheiligt sind durch das Sakrament“. Und was ist, wenn in einer konkreten Ehe das so nicht gelingt? „Die Synodenväter haben betont, dass die Kirche nicht unterlässt, die konstitutiven Elemente in jenen Situationen zu würdigen, die noch nicht oder nicht mehr in Übereinstimmung mit ihrer Lehre von der Ehe sind“ (AL 292). Das heißt, nach Ehe darf man nicht nur in ihrer gelingenden Vollform Ausschau halten, sondern auch in „konstitutiven Elementen“, also den einzelnen Dingen, die er weiter oben genannt hat.

 

Trennung, Scheidung

Eine nicht gelingende Ehe ist immer der schwierigste Punkt einer Pastoral. ‚Komplexe Situationen‘ hatte die Synode das genannt, weil man Scheidungen, Trennungen, Zerbrechen nicht über einen Kamm scheren kann und die komplexe Vielgestaltigkeit jeweils genau betrachtet werden muss. Trennung kann zum Beispiel unvermeidlich sein, es kann Gründe dazu geben (AL ab 240). Aber es gilt auch, dass Scheidung ein Übel ist, „es ist sehr beunruhigend, dass die Anzahl der Scheidungen zunimmt“ (AL 246). Der Papst will hier einen Einsatz zum „Heilen der Wunden“, nicht nur ein Nachvollziehen des Faktischen.

 

Dynamik

Die eheliche Liebe pflegt man nicht vor allem, indem man von der Unauflöslichkeit als einer Pflicht spricht oder die Doktrin wiederholt, sondern indem man sie durch ein ständiges Wachstum unter dem Antrieb der Gnade festigt. Die Liebe, die nicht wächst, beginnt, in Gefahr zu kommen, und wir können nur wachsen, wenn wir auf die göttliche Gnade mit mehr Taten der Liebe, mit häufigeren, eindringlicheren, großherzigeren, zärtlicheren und fröhlicheren Gesten der Zuneigung antworten (AL 134/135). Wenig hilfreich sind manche Fantasien von einer idyllischen und vollkommenen Liebe, der so jeder Ansporn zum Wachsen genommen ist. Eine himmlische Vorstellung von der irdischen Liebe vergisst, dass das Beste das ist, was noch nicht erreicht wurde, der mit der Zeit gereifte Wein.

 

Methode Franziskus: Energien der Hoffnung

Der Papst gibt einen Weg an, nicht die Ergebnisse. Wieder ist es der dynamische Prozessgedanke, welcher den Text prägt.

Es geht dem Papst außerdem um eine innere Haltung. Es braucht Regeln, aber diese Regeln können nichts einfordern, was nicht innen drin steckt. Ohne eine christliche Überzeugung helfen auch die Regeln nichts. Und diese Überzeugung zeigt sich nicht in Abstraktion oder niedergeschriebenen Regeln, sondern in der Unterscheidung.

Und wie sich diese christliche Haltung und Überzeugung ausdrückt, das muss jede Generation neu sagen, denn die Welt und die Sprache ändern sich ja ständig. Genau das macht der vorliegende Text. Und Papst Franziskus wäre nicht Papst Franziskus, wenn die Umsetzung all dessen nicht in jeder Ortskirche, in jeder Pfarrei, jeder Familie und in jedem einzelnen Christen zu suchen wäre.

„Wir gehen nicht in die Falle, uns in Wehklagen der Selbstverteidigung zu verschleißen, anstatt eine missionarische Kreativität wachzurufen. … Wenn wir viele Schwierigkeiten feststellen, sind diese (..) ein Aufruf, in uns die Energien der Hoffnung freizusetzen und sie in prophetischen Träumen, verwandelnden Handlungen und Fantasie der Liebe zum Ausdruck zu bringen“ (AL 57).

 

(rv 08.04.2016 ord)








All the contents on this site are copyrighted ©.