2016-02-11 14:52:00

Reliquienkult: Sensationslust oder tiefe Frömmigkeit?


Die Heiligen Patres Pio und Leopold, deren Särge bis Donnerstagmorgen am Konfessionsaltar im Petersdom ausgestellt waren, sind nun wieder in ihren Heimatdiözesen. Der Ansturm der Pilger war beeindruckend, insgesamt 500.000 Menschen standen bis zu fünf Stunden in der Schlange, um den Heiligen nahe zu kommen. Sogar die Rückführung selbst wurde um einige Stunden verschoben, um noch mehr Menschen die Gelegenheit zu einem Besuch zu geben. Jozef Niewiadomski ist polnischer Priester und Professor für Dogmatik an der katholischen Fakultät der Universität Innsbruck. Er hat sich eingehend mit dem für den katholischen Glauben zentralen Phänomen der Reliquienverehrung beschäftigt und versucht, uns eine kurze Einordnung dieses bislang größten „Events“ des Heiligen Jahres der Barmherzigkeit zu geben. Die Fragen stellte Christine Seuß.

RV: Wieso war die Ausstellung der beiden Heiligen im Petersdom bislang DAS Event des Heiligen Jahres der Barmherzigkeit?

„Man kann es sich leicht machen und sehr schnell zwei oberflächliche Antworten geben. Zum ersten ist es ein hochmodernes Phänomen, das medial verstärkt wird und der Souvenirmentalität und der Sensationslust entspringt. Frei nach dem Motto, wenn es ein Event gibt, das vor allem skurril anmutet, dann muss man unbedingt dabei sein. Die zweite Möglichkeit ist zu sagen, es handelt sich hier um einen Auflauf von Traditionalisten, die seit eh und je diese Dinge ins Zentrum ihres Glaubens rücken, also der Sieg des vormodernen Katholizismus. Wenn man beide oberflächlichen Erklärungen miteinander verbindet, merkt man deutlich, dass sie zueinander in Spannung stehen. Einerseits ein hochmodernes, andererseits ein traditionalistisches und ins Mittelalter weisendes Phänomen. Und da würde ich sagen, dass das daran liegt, dass beide Antworten ein Stück weit ins Schwarze treffen. Der Grund liegt natürlich in der Natur des Menschen, der doch trotz allen Wandels dieselben Bedürfnisse und Sehnsüchte hat; aber eben auch dieselben Möglichkeiten, diese zu befriedigen. Aber das würde schon eine tiefer gehende Analyse erfordern.“

RV: Papst Franziskus wird ja sicherlich nicht der Sensationslust Vorschub leisten wollen. Warum hat er also entschieden, diese beiden Heiligen an so einer zentralen Stelle des Heiligen Jahres wie dem Aschermittwoch auszustellen?

„Das ist wirklich auf den ersten Blick voll überraschend, aber doch auch wieder nicht. Man muss sich in Erinnerung rufen, dass Gestalten wie die Patres Leopold und Pio, wie übrigens auch Schwester Faustina, für Menschen stehen, die im Katholizismus lange bevor die Barmherzigkeit so populär wurde, für diese Theologie und Spiritualität einstanden. Beide Kapuziner stehen für ein so zentrales katholisches Element wie die Beichterfahrung. Zu Zeiten, in denen viele den Beichtstuhl als Folterinstrument empfunden haben, personifizieren sie eine andere Erfahrung der Beichtpraxis, ansonsten würden die Menschen nicht zu ihnen pilgern und stundenlang anstehen. Das heißt, sie müssen etwas vermittelt haben, was den Menschen zutiefst berührt, eben die Erfahrung eines barmherzigen Gottes.

Wenn Franziskus nun diese beiden Reliquien in den Petersdom zurück holt, wo er auch ganz stark die Botschaft vom Bußsakrament ins Zentrum rücken wollte, dann würde ich sagen, hat das etwas mit seiner Auffassung vom Katholizismus zu tun. Katholizismus ist eine sehr vielfältige Religion, sozusagen ein bunter katholischer Gemüsegarten, wie ich es nenne. Dazu gehört eben die Erfahrung der Barmherzigkeit, für die die beiden Männer verantwortlich zeichnen, nämlich nicht nur der Zuspruch, sondern auch durch körperlichen Einsatz beglaubigter Zuspruch der Barmherzigkeit Gottes an den Einzelnen, der unter den Ängsten vor Gott leidet. Das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite hat Franziskus in wirklich revolutionärerer Weise die Pforten der Barmherzigkeit auch woanders aufgemacht, beispielsweise sprach er in seinem Schreiben davon, dass jede Tür einer Gefängniszelle eine Pforte der Barmherzigkeit sein könnte. Das sind Erfahrungen einerseits im sakramentalen Kontext, andererseits im mitmenschlichen Kontext. Beide Erfahrungen sind nach Franziskus‘ Auffassung gleichwertig, wir können beide gewissermaßen ausbalancieren. Ich würde also sagen, wenn die Frucht des Heiligen Jahres wäre, dass die beiden Pforten näher zusammen rückten, dann wäre das ein enormer Erfolg. Warum aber diese starke Betonung beider Seiten? Das menschliche Leben spielt sich einerseits in der Gegenwart, in der zwischenmenschlichen Begegnung ab, und andererseits ist es aber auch belastet durch die Erfahrungen der Vergangenheit. Dafür steht, wenn man so will, das Bußsakrament, oder dafür steht auch die Verehrung der Barmherzigkeit Gottes, die sowohl die beiden Kapuzinerpater als auch Schwester Faustina versinnbildlichen. Und beides gehört meiner Meinung nach zusammen.“

RV: Warum verehren wir Katholiken denn überhaupt Reliquien?

„Das ist natürlich eine Gretchenfrage. Franziskus würde das wohl so sehen, dass das wirklich das Qualitätsmerkmal der katholischen Religion ist. Die moderne Verengung der Religion auf eine intellektuelle Erfahrung einerseits oder auf eine ethische Erfahrung andererseits ist etwas, das den Menschen beschneidet. Der Mensch ist ein sinnliches Wesen und er möchte das Göttliche mit allen Sinnen erfahren – das ist übrigens in allen Religionen so. Von daher würde ich sagen, das Bedürfnis, dass wir in der Religion etwas schmecken, tasten, oder anschauen möchten, ist menschlich und selbstverständlich. In der katholischen Kirche kommt aber dogmatisch noch ein sehr wichtiger Punkt hinzu, nämlich: Gott wird Mensch. Und Menschsein geht nicht nur durch die Zeiten in Form der Erinnerung, sondern auch in Formen von materiell verfassten Erinnerungen. Wir behalten beispielsweise Briefe eines geliebten Menschen oder besuchen sein Grab auf dem Friedhof, um dort sogar mit ihm zu sprechen. Gott wurde Mensch und das heißt, der menschliche Leib ist nicht nur Symbol, sondern auch ein Medium der Kommunikation mit dem Göttlichen.

Jene Menschen, die derart in Verbindung mit Christus standen und die wir als Heilige verehren, kommen uns auch durch ihre Reliquien näher. Natürlich sagen die Kulturkritiker, dass das heidnisch ist. Ich sage aber, der Katholizismus ist am stärksten dort, wo er diese heidnischen Elemente aufnimmt und zurechtbiegt. Und wenn wir die Reliquie anschauen und verehren, dann soll uns das dazu befähigen, dass wir ihnen in der Nachfolge Christi ähnlich werden. Das würde heißen, dass wir Menschen, die in seelischen Notlagen sind, so begegnen, wie diese Heiligen ihnen begegnet wären. Natürlich gibt es Missbrauch oder Missverständnisse, dennoch haben Zweitausend Jahre lang Puristen und Kritiker aller Lager, auch die Reformationskritik an den Reliquien, das Bedürfnis des Menschen danach nicht abschaffen können. Und wenn die Menschen dann aus der Kirche ausgetreten sind, finden dieselben Bedürfnisse ihre Befriedigung ganz woanders, man braucht sich nur den normalen Starkult anzuschauen.“

(rv 11.02.2016 cs)








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