2016-01-11 11:36:00

Große politische Grundsatzrede des Papstes


Alle Jahre wieder, immer kurz nach Neujahr, empfängt der Papst das beim Heiligen Stuhl akkreditierte Diplomatische Corps, also Botschafter aus aller Welt. Und dabei holt er traditionell aus zu einer ausführlichen Analyse der Weltlage. So auch an diesem Montag: Franziskus machte schon in den ersten Worten seiner Rede klar, dass die Welt aus seiner Sicht derzeit „von so vielen Übeln geplagt und bedrückt“ ist. Dennoch fand er bei seiner Tour d’horizon durchs Internationale auch einiges Positive. Hier sind die grundlegenden Gedanken aus der Papstrede.

Nein zur Gewalt im Namen Gottes

„Niemals kann man im Namen Gottes töten“: Das war der Ausgangspunkt des Papstes. Das Weihnachtsfest habe uns gerade daran erinnert, dass „jede authentisch gelebte religiöse Erfahrung nur den Frieden fördern“ könne. „Das Geheimnis der Menschwerdung zeigt uns das wahre Gesicht Gottes, für den Macht nicht Gewalt und Zerstörung bedeutet, sondern Liebe, und für den Gerechtigkeit nicht Rache bedeutet, sondern Barmherzigkeit.“

Damit war auch schon das Stichwort Barmherzigkeit gefallen, das für den Papst grundlegend ist; man denke nur an das derzeit laufende „Heilige Jahr der Barmherzigkeit“. Er habe es, so sagte Franziskus, absichtlich in Zentralafrika beginnen lassen, also in einem von Gewalt tief verwundeten Land. „Dort, wo der Name Gottes missbraucht worden ist, um Unrecht zu verüben, wollte ich gemeinsam mit der muslimischen Gemeinschaft der Zentralafrikanischen Republik bekräftigen: „Wer behauptet, an Gott zu glauben, muss auch ein Mensch des Friedens sein“ und folglich ein Mensch der Barmherzigkeit... Nur eine ideologische und irregeleitete Form von Religion kann daran denken, durch vorsätzlichen Mord an wehrlosen Menschen im Namen Gottes Gerechtigkeit zu erweisen, wie es in den blutigen Terroranschlägen der vergangenen Monate in Afrika, Europa und im Nahen Osten geschehen ist.“

Hauptakzente des letzten Jahres aus Vatikansicht: Barmherzigkeit und Familie

Barmherzigkeit war, so stellte es Franziskus an diesem Montag dar, sozusagen der Leitfaden seiner Reisen im vergangenen Jahr: nach Sri Lanka und auf die Philippinen, nach Bosnien, Lateinamerika, Kuba und in die USA. Ein weiterer Schwerpunkt seiner Reisen und überhaupt seines Handelns (vor allem der von ihm geleiteten Bischofssynode) sei der Einsatz für die Familie gewesen, die ja „die erste und wichtigste Schule der Barmherzigkeit“ sei – eine Formel, mit der der Papst die zwei Hauptakzente verklammerte.

„Leider wissen wir um die zahlreichen Herausforderungen, mit denen sich die Familie auseinandersetzen muss in dieser Zeit, in der sie bedroht ist durch zunehmende Bemühungen einiger, die Institution der Ehe selbst neu zu definieren, durch Relativismus, durch die Kultur der Kurzlebigkeit und durch mangelnde Offenheit für das Leben.“

Franziskus zeigte sich besorgt über die „individualistische Mentalität“ in vielen Gesellschaften. Sie sei der „Nährboden“, auf dem ein „Gefühl der Gleichgültigkeit gegenüber dem Nächsten“ reife. Das führe letztlich dazu, dass man mit Mitmenschen so umgehe, als seien sie „bloße Handelsware“; „zynisch“ werde man dadurch und „feige“. „Sind das denn nicht die Gefühle, die wir oft gegenüber den Armen, den Ausgegrenzten, den Letzten der Gesellschaft hegen? Und wie viele Letzte haben wir in unseren Gesellschaften!“ Damit war der Papst beim Thema Migration.

Migrations-Notstand und Flüchtlingsströme

„Massives, gewaltiges Phänomen“, „unvermeidliche Angst“, die es begleitet – so blickte Franziskus auf die Migrationsströme „vor allem in Europa“, aber auch in anderen Teilen der Welt. Er rückte das Geschehen in eine biblische Perspektive. „Tatsächlich erzählt uns die ganze Bibel die Geschichte einer Menschheit auf dem Wege, denn das In-Bewegung-Sein ist dem Menschen wesenseigen... Von der Vertreibung aus dem irdischen Paradies bis zu Abraham, der unterwegs ist zum Land der Verheißung; von der Erzählung des Exodus bis zur Deportation nach Babylonien schildert die Heilige Schrift Mühen und Leiden, Wünsche und Hoffnungen, die denen von Hunderttausenden von Menschen gleichen, die in unseren Tagen unterwegs sind.“

Wie einst Mose suchten die Migranten von heute – unter ihnen viele verfolgte Christen – ein Land, „in dem Milch und Honig fließen (Ex 3,17), wo man in Freiheit und Frieden leben kann“, so der Papst. Häufig sei es „extremes Elend“, das sie zur Migration zwinge. „Leider ist bekanntlich der Hunger noch eine der schwersten Plagen unserer Welt, mit Millionen von Kindern, die jedes Jahr verhungern. Es schmerzt jedoch festzustellen, dass diese Migranten häufig von keinem der internationalen Schutzsysteme aufgefangen werden, die auf den internationalen Verträgen basieren.“

Das sei eine Frucht der – von ihm häufig beklagten – „Wegwerfkultur“, urteilte der Papst. Sie bringe Menschen in Gefahr, indem sie sie „den Götzen des Gewinns und des Konsums opfert“. Arme, Behinderte, Ungeborene oder alte Menschen würden aussortiert; die „Arroganz der Mächtigen“ mache die Schwachen „zu Objekten für egoistische Ziele“.

Nein zum Menschenhandel

Auch so ein Thema, das diesem Papst besonders am Herzen liegt: der Kampf gegen Schlepper und Menschenhändler. Dass viele Staaten oder Staatenbündnisse „reguläre Migration“ unmöglich machen, treibt Migranten solchen zwielichtigen Geschäftemachern in die Hände, beklagte Franziskus. „Aus dieser Sicht erneuere ich noch einmal meinen Appell, dem Menschenhandel Einhalt zu gebieten, der die Menschen vermarktet, besonders die schwächsten und schutzlosesten. Immer werden unserer Erinnerung und unseren Herzen die Bilder von Kindern, die im Meer ums Leben kamen, unvergesslich eingeprägt bleiben – Opfer der Skrupellosigkeit der Menschen und der Erbarmungslosigkeit der Natur.“

Das war Franziskus’ Verbeugung vor dem kleinen Aylan Kurdi. Das Foto des Dreijährigen, der auf der Überfahrt von der Türkei nach Griechenland ertrunken ist, hat im September des letzten Jahres viele Menschen bewegt.

Ursachen der Migration beheben

„Einen großen Teil der Ursachen für die Migrationen hätte man schon vor Zeiten in Angriff nehmen können“, stellte der Papst fest. „So hätte man vielen Unglücken zuvorkommen oder zumindest ihre grausamsten Folgen abmildern können.“ Es sei dringend nötig, alles zu tun, „um den Tragödien Einhalt zu gebieten und den Frieden herzustellen“.

„Das würde aber bedeuten, eingefahrene Gewohnheiten und Gepflogenheiten wieder zur Diskussion zu stellen, vom mit dem Waffenhandel verbundenen Fragenkomplex über das Problem der Rohstoff- und Energieversorgung, über die Investitionen, die Finanzpolitik und die politischen Programme für Entwicklungshilfe bis zu der schweren Plage der Korruption.“

Nötig seien „mittel- und langfristige Pläne, die über den Notbehelf hinausgehen“. Das Ziel dabei sei ein Doppeltes: Integration der Migranten in den Aufnahmeländern einerseits, „solidarische Programme“ zur Entwicklung ihrer Herkunftsländer andererseits.

Europa

Vielleicht ist es auch seiner Auszeichnung mit dem Aachener Karlspreis 2016 geschuldet, dass der Papst an diesem Montag ausdrücklich auf die Lage in Europa einging. Es sei mit einem „Flüchtlingsstrom“ konfrontiert, wie es ihn in der jüngeren Geschichte noch nie gegeben habe.

„Die massenhaften Landungen an den Küsten des Alten Kontinents scheinen jedoch das System der Aufnahme ins Wanken zu bringen, das auf den Trümmern des Zweiten Weltkriegs mühsam aufgebaut wurde und immer noch ein Leuchtfeuer der Menschlichkeit darstellt, auf das man sich beziehen kann.“

Die Herausforderung für Europa sei gewaltig, nicht zuletzt angesichts von „Befürchtungen um die Sicherheit“. „Die augenblickliche Migrationswelle scheint die Fundamente jenes „humanistischen Geistes“ zu untergraben, den Europa von jeher liebt und verteidigt. Dennoch darf man sich nicht erlauben, die Werte und die Prinzipien der Menschlichkeit ... und der gegenseitigen Solidarität aufzugeben, auch wenn sie in einigen Momenten der Geschichte eine schwer zu tragende Bürde sein können.“

Er sei davon überzeugt, dass Europa „die Mittel“ besitze, „ um das rechte Gleichgewicht zu finden“ zwischen Schutz der eigenen Bürger und Aufnahme der Neuankömmlinge. Das hört sich etwas gewundener an als „Wir schaffen das“... aber im Kern meint es dasselbe.

Viel Lob gab es von Papst Franziskus für Länder, die großzügig Flüchtlinge aufnehmen. Er nannte den Libanon, Jordanien, die Türkei und Griechenland, aber auch Italien. „Es ist wichtig, dass die Nationen an vorderster Front bei ihrer Auseinandersetzung mit dem aktuellen Notstand nicht allein gelassen werden.“ Migration werde „mehr, als das bisher der Fall war, ein grundlegendes Element der Zukunft der Welt darstellen“, da solle man sich nichts vormachen.

Migranten aus muslimischen Ländern

Islamische Terroristen, die sich unter Flüchtlinge mischen, oder Migranten in der zweiten Generation, die in Europa radikalisiert werden und Anschläge verüben – auch auf diese Szenarien ging Papst Franziskus ein. Dass junge Leute mit Migrationshintergrund in ihrem Aufnahmeland in den religiösen Extremismus abrutschten, habe auch mit der „Leere der fehlenden Ideale“ und dem „Verlust der – auch religiösen – Identität“ im „sogenannten Westen“ zu tun.

„Das Phänomen der Migration wirft also eine ernste kulturelle Frage auf, deren Beantwortung man sich nicht entziehen kann. Die Aufnahme kann daher eine günstige Gelegenheit sein für eine neue Einsicht und Öffnung des Horizontes.“ Nicht nur für den Aufgenommenen, der natürlich „Werte und Gesetze“ des Gastgebers respektieren müsse. Sondern auch beim Gastgeber selbst.

„Auf diesem Gebiet erneuert der Heilige Stuhl seinen Einsatz im ökumenischen und interreligiösen Bereich, um einen aufrichtigen und fairen Dialog einzuleiten, der dadurch, dass er die Besonderheiten und die persönliche Identität eines jeden zur Geltung bringt, ein harmonisches Zusammenleben aller sozialen Komponenten fördert.“

Positive Entwicklungen im letzten Jahr

Ja doch, 2015 war nicht nur ein „annus horribilis“, es hatte in internationaler Hinsicht auch sein Gutes. Sagt Papst Franziskus. „Ich denke vor allem an das sogenannte Atomabkommen mit dem Iran, das – wie ich hoffe – dazu beitragen möge, ein Klima der Entspannung in der Region zu fördern, wie auch an die Erzielung des erwarteten Klimavertrags im Laufe der Konferenz von Paris.“

Der Klimavertrag von Paris sei bedeutend; jetzt sei es aber auch wichtig, „dass die übernommenen Engagements nicht nur ein guter Vorsatz bleiben“, mahnte der Autor von „Laudato si’“, der ersten Enzyklika überhaupt zum Thema Umwelt. Froh ist Franziskus auch über die jüngsten Wahlen in Zentralafrika, über die Friedensgespräche in Kolumbien und über Zyperns Herantasten an eine Wiedervereinigung.

Herausforderungen für 2016

„Nicht wenige Spannungen“ hätten sich schon am Horizont „blicken lassen“: Damit meinte der Papst den saudisch-iranischen Konflikt, Nordkoreas Bombentest und den Konflikt in der Ost-Ukraine. Für Syrien und auch Libyen gebe es jetzt immerhin wieder Hoffnungen auf eine „politische und diplomatische Lösung“.

„Andererseits erscheint immer deutlicher, dass nur eine gemeinsame und abgestimmte politische Aktion dazu beitragen kann, die Ausbreitung des Extremismus und des Fundamentalismus aufzuhalten, mit ihren Hintergründen terroristischer Prägung, die sowohl in Syrien und Libyen als auch in anderen Ländern wie dem Irak und dem Jemen unzählige Opfer fordern.“ Welcher Art eine solche „Aktion“ sein müsste, führte der Papst nicht aus; ein Ruf nach Bodentruppen war das jedenfalls nicht.

„Die Herausforderung, die uns mehr als alle anderen erwartet, ist jedoch die, die Gleichgültigkeit zu überwinden, um den Frieden aufzubauen, der ein immer anzustrebendes Gut bleibt.“ Vor allem der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern mit seinen „tiefen Wunden“ harre weiter einer Lösung.

(rv 11.01.2016 sk)








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