2015-06-20 13:19:00

„Das Grabtuch beweist nichts - es weist auf etwas hin“


Warum zieht das Turiner Grabtuch, wenn es gezeigt wird, Hunderttausende an? Was suchen diese Menschen? Wie bedeutsam ist das Grabtuch für den Glauben? Kurz vor dem Besuch von Papst Franziskus in Turin stellte Gudrun Sailer diese und andere Fragen dem Priester Roberto Gottardo. Er ist Präsident der Diözesankommission für das Grabtuch - und ausgebildeter Physiker.

RV: Don Gottardo, die neuen Technologien erlauben es uns via Internet, das Bild auf dem Grabtuch sehr viel besser zu sehen, als man das kann, wenn man unmittelbar davorsteht. Man sieht das Grabtuch besser, wenn man weit weg ist. Warum kommen dennoch so viele Menschen, um es zu sehen?

„Die Tatsache selbst gibt uns eine Antwort: Die Menschen kommen. Das heißt, es genügt eben nicht, ein Bild auf einem Bildschirm zu sehen. Das Grabtuch ist ein Objekt, das ein Bild zeigt. Aber es ist mehr als das. Es ist eine materielle, konkrete Realität. Die Menschen wollen das Bild sehen und zugleich eine Präsenz erspüren. Und das, noch bevor das Ergebnis wissenschaftlicher Untersuchungen da ist. Das Grabtuch ist ein Objekt, das in seiner Wirklichkeit und seinem Bildcharakter zugleich ermöglicht, dass wir die Nähe des Herrn spüren, dessen Zeichen wir hier sehen. Und das ist, was die Menschen suchen. Sie wollen mehr als ein Bild sehen: Sie wollen eine Präsenz spüren.“

RV: Der Mann auf dem Grabtuch ist ein Toter. Das heißt, das Grabtuch gehört eher zum Karfreitag als zu Ostern. Wir müssen uns spirituell ganz schön anstrengen, damit wir darin ein Zeichen der Hoffnung sehen. Wie gelingt das?

„Benedikt XVI. hat das Grabtuch die Ikone des Karsamstag genannt. Weder Karfreitag noch Ostern also: Karsamstag. Das ist ein geheimnisvoller Tag, ein Tag der scheinbaren Abwesenheit Gottes – scheinbar, in Wirklichkeit ist er nicht abwesend, er tut etwas auf verborgene, aber reale Weise. Karsamstag. Das Grabtuch wird Zeichen der Hoffnung, weil es von Jesus spricht; also von Gott, der in die menschliche Erfahrung eingetreten ist, der Leib geworden ist und uns damit gesagt hat: Dein menschlicher Weg ist groß. Dein menschlicher Weg ist Gottes würdig. Gott ist Mensch geworden, einer von uns. Und so kann meine Menschlichkeit auf Gott zugehen. Das ist der erste Grund der Hoffnung: Das, was das Grabtuch erzählt, ist wirklich vorgefallen. Und wenn es wirklich vorgefallen ist, dann kann mir im Leben alles zustoßen, aber ich weiß, ich habe es hier mit jemandem und etwas zu tun, das gut ist. Wenn aber das, wovon das Grabtuch erzählt, nicht vorgefallen ist, dann gibt es keine menschliche Initiative, die mir Hoffnung geben könnte.“

RV: Wie wichtig ist das Grabtuch für den Glauben?

„Wir benutzen das Wort „Hilfe“. Es stimmt, der Glaube gründet nicht auf dem Grabtuch. Dann gibt es die umgekehrte Haltung, die übertrieben sein kann: Man sagt, nun, wenn das Grabtuch kein Fundament ist, dann ist es gar nichts, dann ist es zu nichts gut. Ich denke, beide Haltungen sind nicht korrekt. Das Grabtuch ist kein Fundament des Glaubens, aber es ist auch nicht nichts. Es ist etwas: etwas Demütiges, Stilles, Bescheidenes, aber eben auch etwas Wirkliches. Ein Zeichen. Und wie alle Zeichen beweist es nichts, aber es weist auf etwas hin. Es hilft, weil es über das Bild auf dem Tuch den Betrachter annähert an die Person und das Antlitz Jesu. Und das kann mir helfen. Es ist ein Zeichen, das nicht unabdingbar, aber hilfreich ist.“

RV: Don Gottardo, Sie sind von Ihrer Ausbildung her nicht nur Priester, sondern haben auch Physik studiert. Würden Sie es begrüßen, wenn die Wissenschaft eines Tages Klarheit schafft darüber, ob das Grabtuch echt ist oder nicht?

„Ich halte es ganz mit Papst Johannes Paul II., wenn er sagt: Es kommt der Wissenschaft zu, alle materiellen Aspekte dieses Tuches zu erforschen und zu bewerten. Auf welche Weise das Bild entstanden ist, wie alt es ist, die Konservierung undsoweiter. Ich begrüße es sicherlich und wünsche mir, dass es möglich ist, aber ich will es auch nicht von diesem Weg der Wissenschaft abhängig machen, ob das Zeigen des Grabtuchs angemessen ist oder nicht. Das Zeigen ist angemessen, auch wenn die Wissenschaft noch nicht ans Ende gekommen ist. Denn noch ehe wir wissen, ob das Grabtuch echt oder falsch ist, erzählt es uns in jedem Fall von Jesus. Deshalb ist es sinnvoll, dass die Kirche das Grabtuch zeigt: um die Geschichte von Jesus zu erzählen, nicht mit Worten, sondern mit Bildern.“

(rv 19.06.2015 gs)








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