2015-06-20 12:20:00

Athen: ein „Blick in die Glaskugel“


 Wer blinzelt als erster im Griechenland-Poker? Was in diesen Tagen in Athen und Brüssel passiert, verweist alles andere, auch die Papst-Enzyklika, in der Berichterstattung auf die hinteren Plätze. Aber das Ganze ist kein Spiel, sagt der deutsche evangelische Pfarrer René Lammer aus Athen. Und der Einsatz ist hoch. Auch wenn man das in Athen auf den ersten Blick gar nicht sieht. „So dramatisch, wie es in den Schlagzeilen klingt, ist die Situation hier nicht zu erleben. Gerade wenn Urlauber in Athen unterwegs sind, dann sind die Cafés voll und im Grunde strahlt das Ganze eine sommerliche Unbeschwertheit aus. Das ist der erste Eindruck, den die meisten Urlauber hier bekommen werden.“

Aber natürlich brodelt es „unter der Oberfläche“, setzt Pfarrer Lammer im Gespräch mit dem Kölner Domradio hinzu. Eines gelte es aber zu berücksichtigen: „Wir leben ja nun schon seit fünf Jahren in dieser Krise und immer wieder wird gesagt, dass es nun wirklich das letzte Ultimatum ist. Und dass das Damokles-Schwert an einem immer seidener werdenden Faden hängt und jetzt auch bald fallen wird. Die Leute sind der Katastrophenandrohungen auch ein bisschen müde geworden. Trotzdem ist natürlich unglaublich viel Geld in die Schließfächer gewandert oder in europäische Länder transferiert worden - als Vorsichtsmaßnahmen. Jetzt gibt es das erste Mal auch Schlangen in den Supermärkten, weil die Leute für alle Fälle etwas bunkern wollen.“

Pfarrer Lammer ist davon überzeugt, dass die große Mehrheit der Griechen nicht die EU verlassen will. Und auch den Euro wolle die Mehrheit nicht aufgeben müssen: „Man weiß schon, was man an der Währung hat und dass sie Stabilität bedeutet. Und es ist eine kleine Minderheit, die tatsächlich zur Drachme zurückgehen will, weil sie sich davon eine größere nationale Souveränität verspricht. Aber das ist in Griechenland nicht mehrheitsfähig, so nehme ich das wahr!“ Die finanzielle Not der Menschen sei mittlerweile an allen Ecken und Enden zu spüren. „Eine Kollegin hat jetzt ihre Lebensversicherung gekündigt, weil sie liquide Mittel braucht, um die monatlich entstehenden Löcher stopfen zu können. Der nächste zahlt nicht mehr in die Rentenversicherung ein. Wir haben es hier bei der sozialen Situation mit einer tickenden Zeitbombe zu tun. Da besteht für mich überhaupt keine Frage.“


Deutsche Gemeinden haben noch Rücklagen vom Weihnachtsmarkt

Auch die Mitglieder der deutschen evangelischen Gemeinde bleiben von der materiellen Verarmung nicht verschont. „Wir haben Leute, die der Mittelschicht angehörten und ihr Leben lang die höchsten Beträge eingezahlt haben. Deren Renten sind jetzt von 2.000 auf 1.000 Euro gekürzt worden. Wir haben einen konkreten Fall einer Frau aus unserer Gemeinde, die einen Unfall hatte und für die nächsten Wochen und Monate eine Betreuung braucht. Sie muss eine Pflegekraft einstellen, und dann bleiben noch 300 Euro zum Leben mit ihrem behinderten Mann. Das geht einfach nicht mehr. Da ist die Armutsgrenze eindeutig unterschritten.“

Zum Glück hat der Pfarrer in solchen Fällen die Möglichkeit, zu helfen. Wie übrigens auch sein katholischer Kollege. „Wir haben hier einen sehr florierenden Weihnachtsmarkt, der uns etwa 50.000 Euro im Jahr einbringt. Daraus finanzieren die katholische und die evangelische Kirche ihre Sozialarbeit! Da haben wir einige Rücklagen, mit denen wir in konkreten Fällen unterstützen können.“ Aber im Grunde genommen „müssten viele Leute von einer deutschen Sozialhilfe unterstützt werden“, sagt Lammer. „Denn die würden sie bekommen, wenn sie in der gleichen Situation in Deutschland wären.“
Wegen der kritischen Lage dünnt Pfarrer Lammers Gemeinde aus: Viele Deutsche geben auf und ziehen aus Hellas zurück nach Deutschland. Er kann das verstehen – einerseits. „Aber dadurch werden Menschen aus ihrem jahrzehntelangen Umfeld entwurzelt, damit sie in Deutschland Sozialhilfe empfangen können. Das kann es auch nicht sein, und da muss eine Lösung gefunden werden, wie man diesen Menschen vor Ort in Griechenland helfen kann.“
Wie es weitergeht im Griechenland-Poker? Pfarrer Lammer aus Athen weiß es nicht. „Das ist ein Blick in die Glaskugel. Aber es gibt jetzt eine Ermüdungserscheinung, und wenn jetzt diese Regierung einen Neuanfang nicht schaffen sollte, dann fürchte ich das Schlimmste. Dann könnten sich radikale Alternativen auf der rechten Seite formieren. Das sind unvorhersehbare Folgen.“ Und darum hält er es für eine „absolute Notwendigkeit zu klären“, wie man Griechenland wirtschaftlich wieder auf die Beine helfen könne. „Da muss die ganze Europäische Union ihren Beitrag leisten!“

(rv 20.06.2015 sk)








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