2015-06-17 11:39:00

Was ist das Grabtuch von Turin?


Das Grabtuch von Turin gilt als die berühmteste Ikone der Christenheit. Nur selten, im Abstand von mehreren Jahren, wird es im Dom der norditalienischen Stadt zur Verehrung ausgestellt.

Der Überlieferung zufolge wurde in diesem Leichentuch der gefolterte Leib des Jesus von Nazareth nach seiner öffentlichen Hinrichtung vor 2000 Jahren ins Grab gelegt. Die bräunliche Stoffbahn in Fischgrät-Webung misst 4,41 mal 1,13 Meter. Ins Auge springen zunächst die symmetrisch auftretenden hellen Flecken: Brandflecken, die das gefaltete Tuch seit einem Feuer 1532 zeichneten. Das eigentlich Bedeutsame wird dem bloßem Auge nur mit Mühe erkenntlich. Es sind die beiden menschenförmigen Schemen längs durch die Mitte der Stoffbahn. Das Tuch zeigt den doppelten Abdruck – von vorne und hinten - eines Mannes mit Bart und langem Haar. Als das Leinen 1898 erstmals fotografiert wurde, ergab sich ein überraschend detailreiches Negativ. Nun ließ sich erkennen, dass der Leichnam etwas wie Folterwunden aufweist.

Doch wissen wir wirklich, dass dieser Mann Jesus ist? Ist das Grabtuch echt, oder entstand es im wundergläubigen Mittelalter? Seit den 1970er Jahren rückten Gerichtsmediziner, Chemiker, Biologen, Radiologen und Textil-Fachleute mit ihren jeweiligen Werkzeugen der alten Stoffbahn zu Leibe. Und doch gibt es um das Grabtuch heute mehr Fragen als Gewissheiten. Ist das Bild gemalt? Oder entstand der Abdruck durch Licht? Was hat es mit den vor zwanzig Jahren entdeckten angeblichen Schriftzeichen auf sich? Eine Altersuntersuchung nach der Radiokarbonmethode durch drei unabhängige Labore datierte das Tuch auf 1260 bis 1390 nach Christus. Wurde die Gewebeprobe also versehentlich an einer geflickten Stelle entnommen?

Die Untersuchungen geben keine Klarheit, und die Päpste als Eigentümer des Tuches - seit 1983 – achten die Grenzen zwischen naturwissenschaftlichen und theologischen Befunden. Papst Benedikt XVI. sprach bei seinem Besuch 2010 nicht von einer „Reliquie“, sondern von einer „Ikone“. Eine „Provokation der Intelligenz“ gar nannte Papst Johannes Paul II. das Tuch. Und Papst Franziskus erklärte sich die große Anziehungskraft der Ikone damit, dass „der Mann des Grabtuchs uns einlädt, Jesus von Nazareth zu betrachten“ - als sei davon auszugehen, dass der eine mit dem anderen die Todesart, nicht aber die Identität teilt.

Viele Katholiken nähern sich der Turiner Ikone nicht mit dem Blick des Forschers, sondern als Pilger. Im Grabtuch ist das Evangelium in Zeichen und Spuren zu lesen: Die Dornenkrone, die Nägel, die Kreuzigung, der ganze Karfreitag der Menschheit. „Wer am eigenen Leib die Passion lebt, Kranke und Behinderte etwa, den ergreift der Anblick des Grabtuchs zutiefst“, beobachtet der Turiner Erzbischof Cesare Nosiglia. Und Franziskus denkt im Angesicht der Ikone „an die vielen Gesichter von Männern und Frauen, verletzt von einem Leben, das ihre Würde missachtet, von Kriegen und von Gewalt, welche die Schwächsten trifft.“

(rv 17.06.2015 gs)








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