2015-06-17 11:33:00

Besuch am Turiner Grabtuch


Papst Franziskus reist am kommenden Sonntag, den 21. Juni nach Turin, um vor dem Grabtuch zu beten, der berühmtesten Ikone der Christenheit. Wäre er ein einfacher Pilger, müsste Franziskus vorab im Internet ein Gratisticket für 15 Minuten Grabtuchbetrachtung reservieren und sich dann eine Viertelstunde vor Termin in eine lange Menschenschlange einreihen, um die Stoff-Ikone zu sehen. Gudrun Sailer hat das probeweise getan, einige Tage ehe der Papst anreist.

Die ersten Pilger werden morgens um Viertel vor sieben eingelassen. Das Grabtuch ist im Turiner Dom zur Verehrung ausgestellt, die an die Königsresidenz der Savoyer grenzt. Mit der Herrscherfamilie kam das Grabtuch seinerzeit im 17. Jahrhundert nach Turin. Der Weg für die Pilger beginnt in einem nicht ganz einfach zu findenden Winkel hinter dem Palast. Ab da weisen Dutzende freundliche Freiwillige den Weg. Nach einem Sicherheitscheck wie am Flughafen wird der Parcours zu einer Art Pilgerspaziergang durch die Gärten des Königspalastes. Das ziemlich verlotterte Grün dieses Parks kann man durch die Ritzen der aneinandergereihten weißen Veranstaltungszelte erahnen, die man auf dem Parcours durchschreitet.

Letzter Sammelpunkt vor dem Betreten des Doms ist ein abgedunkeltes Zelt. Dort erklärt ein Video in sechs Sprachen, darunter Russisch, was auf dem Grabtuch wo zu sehen ist: Gesicht, Folterwunden, Nagelwunden, vorn gekreuzte Arme. Warum eine solche Unterweisung sinnvoll ist, zeigt sich, sobald man die fast völlig verhängte Basilika betritt und auf einem der drei übereinander gestaffelten Stege zu stehen kommt, die in drei, vier Metern Abstand zum Tuch aufgebaut sind: Das bloße Auge vermag auf der bräunlichen Stoffbahn außer den symmetrischen Brandlöchern nur ganz zarte, blasse Schemen zu erkennen.

Viel detailreicher als das, was man Auge in Auge mit dem Leinen sieht, sind die fotografischen Abbildungen des Turiner Grabtuchs, besonders das Negativ. Diese Abbildungen freilich, die wir aus allen medialen Darstellungen – Internet, Reiseführern, Fernseh-Dokumentationen - kennen, sind unser inneres Bild des Grabtuchs, das, was wir eigentlich zu sehen erwarteten.

In der Turiner Kathedrale aber stehen wir nicht vor dem Bild des Tuchs, sondern vor dem Tuch selbst. Es ist in einem Rahmen und von hinten erleuchtet ausgestellt, es scheint irisierend, unwirklich, entrückt. Ein Hauch von Bild. Der Kopf, das Gesicht, ist zu erahnen, und mit Vorwissen auch die gekreuzten Arme des Mannes auf dem Grabtuch. Der Rest bleibt Geheimnis des Tuches.

Fotografieren ist verboten, dennoch sehen wir eine Reihe hochgehaltener Mobiletelefone und spüren Blitzlicht auf das kostbare alte Leinen einschlagen. Eine Freiwillige mit schöner Stimme liest live einen kurzen Meditationstext. Rund fünf Minuten hat jeder Pilger zur Verehrung des Grabtuchs, dann bittet die Stimme, die Nächsten zum Zug kommen zu lassen. Am Ausgang der Kathedrale sind Spendenboxen aufgestellt. Der Erlös geht an Papst Franziskus, der die Kollekte für Werke der Nächstenlieben einsetzen wird. Wer möchte – und sehr viele nutzen das Angebot –, kann nach dem Verlassen der Kirche nochmals durch den Haupteingang eintreten und sich auf einer der Kirchenbänke niederlassen. Auch von dort sieht man die Ikone gut, wenngleich aus größerer Entfernung.

Das Turiner Grabtuch zieht Gläubige und Suchende aus aller Welt in rauen Scharen an. Als es 2010 zuletzt ausgestellt war, kamen zwei Millionen Menschen. Mindestens ebenso viele werden diesmal erwartet. Die Ausstellung unter dem Motto „Die größte Liebe“ endet am 24. Juni. Danach wird das Grabtuch wieder an seinen Aufbewahrungsort in der Kathedrale verbracht, wo es aus Gründen der Konservierung bis zur nächsten öffentlichen Ausstellung liegt.

(rv 17.06.2015 gs)








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