2015-06-06 16:40:00

Vor dem Papst: Berichte aus finsteren Zeiten


Es war ein emotional dichter Moment, als sich Papst Franziskus am Nachmittag in der katholischen Kathedrale von Sarajewo mit Ordensleuten, Priestern, Seminaristen traf. Der kleine, neugotische Bau fasst gerade einmal 250 Menschen; einige von ihnen berichteten dem Papst von den Zeiten des Krieges und der Belagerung.

Drei Zeugen, drei Erzählungen von schweren Erfahrungen, wie sie viele Menschen vor zwei Jahrzehnten gemacht haben in Bosnien-Herzegowina. Schwester Šekerija und die Priester Zvonimir Matijevic sowie Jozo Puškariĉ ergriffen während der Begegnung mit dem Papst das Wort und ließen ihn in den Brunnen der Vergangenheit hinuntersehen.

Schwester Šekerija ist Ordensschwester der „Töchter der Göttlichen Liebe“: Sie erzählte von ihren Kriegserfahrungen in der Gegend von Travnik. 1993 sei sie gemeinsam mit anderen Priestern, Laien und Caritas-Mitarbeitern von ausländischen Milizen verschleppt worden; man habe sie zwingen wollen, ihren Rosenkranz mit Füßen zu treten, das habe sie nicht getan. Daraufhin bedrohten ihre Geiselnehmer sie mit einem Gewehr und verlangten von ihr, den Islam als einzig wahre Religion anzuerkennen. Sie habe in diesem Moment gedacht, dass sie sterben müsse, so Schwester Šekerija.

Und dann Zvonimir Matijevic, ein Priester aus der Diözese Banja Luka im heutigen serbischen Teil von Bosnien. Ein Ort, den auch Papst Johannes Paul II. 2003 besuchte - und der während des Kriegs von ethnischen Säuberungen besonders betroffen war. 1992 war Matijevic Seelsorger in Glamoč. Alle hätten ihm damals zur Flucht geraten - doch er konnte nicht, sagt er. Acht Priester seiner Diözese wurden getötet oder starben an den Folgen von Folter; am 12. April 1992 wurde er selbst, nach der Messe, gefangen genommen. „Mehrmals schlugen sie mich, bis ich wegen der Schmerzen in Ohnmacht fiel“, erzählt er. Seine Bewacher wollten ihn dazu zwingen, öffentlich im Fernsehen zu sagen, dass „katholische Priester Kriegsverbrecher“ seien und Menschen zu Verbrechern erzögen. Als sie aber verstanden, dass er eher gestorben wäre, als dies zu tun, schickten sie ihn in ein Krankenhaus. Er hatte viel Blut verloren und stand kurz vor dem Tod, doch nach etwa einem Monat wurde er wieder gesund. Am Ende seiner bedrückenden Erzählung sagte er: „Ich, Pater Zvonimir, vergebe allen, die mir Leid zugefügt haben, und ich bete darum, dass Gott, der Barmherzige, ihnen vergibt und dass sie den guten Weg wählen.“

Der dritte Zeuge an diesem Samstag war Bruder Jozo Puškariĉ. Der Franziskaner erzählte von seinen Kriegserlebnissen in Posavina. Er war Pfarrer von Hrvatska Tišina, als ihn 1992 serbische Polizisten in ein Konzentrationslager brachten. Gemeinsam mit vielen anderen Ordensleuten wurde der damals 40-Jährige täglich gequält, vier Monate lang.

„Die Zeit, die man in einem Konzentrationslager verbringt, misst man nicht in Monaten, sondern in Tagen, Stunden, Sekunden. Die Tage waren so viel länger, denn sie waren voll von Unsicherheit und Angst. 120 Tage waren wie 120 Jahre oder mehr! Wir mussten in unmenschlichen Zuständen leben.“ Er habe schließlich dank der Hilfe Gottes überlebt, betonte er. Und er habe gelernt zu vergeben: Nur duch die Vergebung könne man zur Brüderlichkeit finden.

Papst Franziskus hatte eigentlich eine Ansprache für diese Gelegenheit vorbereitet, zwei Din-A-4-Seiten – aber wie schon bei einer ähnlichen Szene in Tirana, der Hauptstadt Albaniens, vor einem Jahr, legte er angesichts der erschütternden Zeugnisse seinen Redetext beiseite und sprach frei. „Die Zeugnisse haben für sich selbst gesprochen; das ist das Gedächtnis eures Volkes. Ein Volk, das sein Gedächtnis verliert, verliert die Zukunft. Das ist das Gedächtnis eurer Mütter und Väter im Glauben. Nur drei von ihnen haben gesprochen, aber hinter ihnen stehen viele. Ich möchte euch sagen: Ihr habt kein Recht, eure Geschichte zu vergessen! Nicht um Ansprüche zu stellen, sondern um Frieden zu ermöglichen… In eurer Berufung und eurem Blut sind die Berufung und das Blut dieser drei Märtyrer und so vieler Ordensleute, Priester und Seminaristen.“

Christus sei der erste Märtyrer gewesen, viele seien ihm gefolgt. „Erinnert euch, um den Frieden zu bewahren! Einer von Ihnen hat das Wort Vergebung ausgesprochen. Ein Mensch, der sich Gott geweiht hat und nicht zu vergeben weiß, dient zu nichts… Jemandem zu vergeben, der dich mit dem Gewehr in der Hand bedroht – darum geht es.“

Ein anderes Wort, das ihm im Gedächtnis geblieben sei, das seien die „120 Tage im KZ“. „Wie oft lässt uns der Geist der Welt die Leiden unserer Vorfahren vergessen! Wenn jede Minute eine Folter ist, wenn alle schmutzig, in der Hitze und Kälte, ohne Essen zusammengepfercht sind, so lange Zeit hindurch – und wir beschweren uns, wenn uns ein Zahn schmerzt, oder weil wir gern einen Fernseher im Zimmer hätten? … Bitte vergesst nicht die Zeugnisse eurer Vorfahren. Denkt an das, was sie alles erlitten haben.“

Sie sollten ein Leben führen, das dem gekreuzigten Herrn würdig sei: „Weltliche Kleriker und Ordensleute sind eine Karikatur.“ Franziskus drängte seine Zuhörer, allem Hass abzuschwören und religiöse Unterschiede nicht zu sehr zu betonen. Wer liebt, sei Gott nahe: „Wir alle können das Gute tun, wir alle sind Kinder Gottes!“

(rv 06.06.2015 sk) 








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