Roger Willemsen und seine Art erinnert an das schöne Gedicht „Der römische Brunnen“
von Konrad Ferdinand Meyer. Aufsteigt der Strahl und fallend gießt er voll der Marmorschale
rund. Mit Gelassenheit scheint Willemsen seine Gedanken in Worte zu kleiden, wie dieser
Sprungquell in Rom sein nass-klares Gut vor dem Betrachter rund um die Uhr frisch
ausgießt.
Diesem elegischen Vergleich sei eine sehr irdische und bodenständige Komponente des
Autors beigefügt und zugefügt. Sein Einsatz als Schirmherr des afghanischen Frauenvereins
trägt dazu bei, dass im Norden Afghanistans über 40.000 Menschen eine Versorgung mit
Trinkwasser und mehr als 2.000 Mädchen und Frauen eine Schul- und Berufsausbildung
haben.
In seinem Buch „Es war einmal oder nicht“ beschreibt Roger Willemsen afghanische Kinder und die Welt, und er sagt: „Sich abwenden ist ein Teil der Folter.“ Roger Willemsen wuchs in einem gebildeten Elternhaus auf: Sein Vater war Kunsthistoriker und Restaurator, seine Mutter eine bedeutende Expertin für ostasiatische Kunst.
Willemsen studierte an der Bonner Universität Kunstgeschichte, Germanistik und
Philosophie. Seine Dissertation schrieb er über den großen österreichischen Menschenkenner
und Literaten Robert Musil. Willemsen Neugier, seine Weltoffenheit und sein Engagement
für Benachteiligte und für Rand- und Konfliktthemen brachten ihn früh mit der Publizistik
in Kontakt. Sein Multitalent verhalf ihm dazu, ein brillanter, vielseitig gebildeter
Moderator und Interviewer zu werden. Es gelingt ihm, spannende, einfühlsame Gespräche
mit prominenten und weniger prominenten Menschen zu führen.
*Doktor Willemsen, vielen Dank, dass sie auch Radio Vatikan heute ein Interview gewähren.
Sehr gern, Herr Parmeggiani, guten Tag.
*Guten Tag. Man nennt sie einen Vorzeigeintellektuellen, Sie sind geistig kreativ
und verschwenderisch, zwei Eigenschaften, die sie kennzeichnen, welche ist nun die
dritte?
Ich hoffe, dass ich dann und wann die Fähigkeit besitze, Menschen zu entzünden oder
die Gabe habe, Menschen zu entflammen. Das ist ein Privileg, denn man kann es zu einem
Teil zumindest für andere tun. Und ich glaube, dass man grundsätzlich ein Leben besser
dann führt, wenn man es auch zu einem Teil für andere führt.
*Eine schier zahllose Reihe von Persönlichkeiten aus aller Welt und aus allen Berufsschichten,
Männer und Frauen also, haben Sie kennengelernt, beschrieben, interviewt. Gibt es
jemand, der aus dieser Reihe besonders hervorragt?
Es gibt einige und es fällt mir gar nicht leicht, sie zu vereinzeln. Es wird mir immer
der Dalai Lama in Erinnerung bleiben, als die Persönlichkeit, die möchte, dass es
einem nach der Begegnung mit ihm besser geht als zuvor. Das ist großherzig. Und diese
grundsätzliche Großherzigkeit, auch die Freigiebigkeit im Umgang mit der Frage, ist
etwas, dass ich als kostbar empfunden habe, denn sie zeigt eine Form der Hinwendung,
die mir generös vorkommt und die ich mir häufig gewünscht hätte, dort, wo das Interview
auch im Gegenteil so etwas sein könnte, wie Steine melken.
*Sie sind, gestatten Sie mir das Kompliment, ein Meister, ein Künstler der Empathie,
das heißt eben des Eintritts in das Sein in das Wesen anderer Menschen. Verraten Sie
uns wenigstens einen kleinen Teil Ihrer Methode?
Es ist so einfach, wenn man Zeit seines Lebens ein Leser gewesen ist. Und Sie haben
mir eben – ohne es zu wissen – eine Freude gemacht, indem sie Conrad Ferdinand Meyers
Gedicht über den Brunnen genannt haben, denn das war das erste Gedicht, das mein Vater
mir beibrachte und das ich eine zeitlang sogar auswendig konnte. Also wenn man sehr
lange Zeit ein Leser gewesen ist, dann entwickelt man Empathie für die Figuren in
Büchern. Und diese Tätigkeit auf Bücher zu beschränken, scheint mir steril. Man kann
sie übertragen auf Menschen, die einem in Afghanistan begegnen, auf die kleinen Mädchen,
die morgens zwei Stunden lang zur Schule gehen, um alphabetisiert zu werden, und das
wäre für mich eine merkwürdige Form der elfenbeinturmartigen Existenz, wenn ich hingehen
wollte, und diese Form des Empathischen nur auf Helden eines Buches, aber nicht auf
die außerhalb des Buches beziehen würde. Und insofern ist der Brückenschlag zwischen
dem, was ich innerhalb der Kunst lerne und dem was ich versuche in der Wirklichkeit
anzuwenden, für mich ein leichter.
*Herr Dr. Willemsen, Sie haben sich aus Ihrer erfolgreichen Fernseharbeit – habe ich
gelesen – etwas zurückgezogen. Was waren die Gründe, die Sie zu diesem Schritt bewogen
haben?
Wissen Sie, das Fernsehen ist ein Medium der Unterforderung. Es versucht immer Mehrheiten
zu versammeln und es wird deshalb auch ein Medium des Beliebigen, auch des Belanglosen.
Und irgendwann schien es mir so, als könne man nicht mehr erwachsen sein, wenn man
beim Fernsehen zu lange bleibt. Und wenn sich das Fernsehen unter die Maßstäbe dessen
bewegt, was man selber angucken würde, dann ist es höchste Zeit zu gehen. Und insofern
schien mir das Schreiben, was ja mein eigentlicher Beruf gewesen ist, als der wichtigere.
Und noch heute habe ich von einem guten Text eine höhere Meinung als von einer guten
Fernsehsendung. Also bin ich lieber dort Gast.
*Ich habe Sie eingangs mit einer Fontäne, mit einem Sprungquell verglichen, der seine
Kraft verschwenderisch preiszugeben weiß. Haben Sie das gelernt – oder ist es Ihnen,
wenigstens zum Teil, in die Wiege gelegt worden?
Ich glaube, ich muss die Wiege verantwortlich machen, denn gerade der Enthusiasmus,
der so ein kostbarer Rohstoff ist, ist etwas, was man nicht künstlich erschaffen und
generieren kann, sondern das ist etwas, was einem mitgegeben ist. Manchmal ist es
ein bisschen eine trunkene Lebensfreude, manchmal ist es Überschwang, auch Unreife,
auch etwas Halbstarkes darin, also es gibt auch Elemente, die alles andere als seriös
sind. Aber trotzdem: Sich an Musik, an Texten, an Gesichtern, an Kommunikationssituationen,
an einer Hügellinie, an der Landschaft, an der Bewegung der Reife freuen zu können
und das tatsächlich als etwas ganz Ursprüngliches zu empfinden, das ist mir Gott sei
Dank gegeben. Das hab ich nicht errungen, allenfalls verfeinern können.
*Ursprünglich, haben Sie eben gesagt, Dr. Willemsen. Was verstehen Sie unter christlicher
Ethik?
Die christliche Ethik ist etwas, das für Gesellschaften verbindlich sein kann, dort,
wo sie sich auf Nächstenliebe, auf das Prinzip der Caritas, auf das Gefühl der Sorge,
der Verantwortung für andere beziehen. Also lauter Werte, für die man eigentlich keine
Disposition in einem bestimmten Glauben braucht, sondern die etwas grundsätzlich Humanes
meinen. Und das Christentum wäre mir schon deshalb wichtig, weil es diese Werte hochhält,
weil es Räume anbietet, in denen über diese Werte reflektiert wird. Weil es eine gesellschaftliche
Diskussion betreibt, die immer wieder um Nicht-Materielles, nämlich um Ethisches geführt
wird. Das ist tatsächlich innerhalb einer Gesellschaft etwas, das ganz stark zum Zusammenhalt
gehört. Und in jeder Situation, auch wie in der jetzigen in Deutschland, in der es
wieder um Rassismus, um Fremdenfeindlichkeit geht, ganz scharf gesehen und ganz aktiv
verstanden werden muss.
*Dem evangelischen Monatsmagazin „Chrismon“ gegenüber sagten Sie einmal, Sie wünschten
sich, Sie könnten an Gott glauben. Ist Ihnen dieser Wunsch inzwischen erfüllt worden?
Nein. Auch das ist wahrscheinlich eine Sache, die man sich nicht wünschen, oder die
man sich vielleicht wünschen kann, aber auf deren Erfüllung man keinerlei Einfluss
hat. Und insofern bin ich in so vieler Hinsicht wahrscheinlich ein Rationalist, wenn
auch vielleicht ein schwärmerischer oder ein pathetischer oder ein sentimentaler Rationalist.
Dass ich trotzdem vor diesem letzten Sprung, wie Sören Kierkegaard es genannt hätte,
also mich dem Absurden in die Arme zu werfen, das darin besteht, etwas wie Wissen
zu behandeln, das man nicht wissen kann, dass ich einfach vor dieser Bedingung immer
noch stehe und auch ratlos und hilflos bin.
*Sie schreiben mit Leidenschaft über die unterschiedlichsten Themen, Herr Dr. Willemsen,
auch über die Religion?
Ich bin, was die Religion angeht, sehr zurückhaltend geworden, mit allem, was ironisch
wäre, was uneigentlich wäre. Dazu ist mein Respekt vor dem, was Transzendenz insgesamt
bedeutet, zu groß. Es wäre zu leicht, Kunsterfahrung bereits als säkulare Religion
zu nehmen, trotzdem gibt es auch in der Kunst, auch im Verstehen von Musik, von Bildwerken,
von Renaissancefresken, gibt es etwas, das sehr stark an unsere Fähigkeit, uns selbst
zu überschreiten, oder von uns wegzudenken konzentriert ist. Das ist mir eigen. Aber
über Religionen könnte ich heute eher als historische Erscheinungen oder als in ihrer
Qualität des Entwurfs oder eben wie gesagt dieser Transzendenzbewegungen schreiben,
aber wahrscheinlich nicht mehr im Sinne des Ergründens, des Nachempfindens, weil ich
dazu zu fremd vor der Religion stehe, fürchte ich.
*Geben Sie Radio Vatikan zum ersten Mal ein Interview?
Das tue ich. Und ich war auch zunächst überrascht, dass ich gefragt wurde, aber irgendwo
passt es auch. Und in letzter Zeit bin ich immer wieder stärker in die Position dessen
gebracht worden, der sich eigentlich für Kirchen stark machen und sei es als Schweigeräume,
sei es als Räume, die eben diese Form der Selbstüberschreitung, die ich eben nannte,
anbieten. Und ich möchte nicht an der Zerstörung solcher Räume teilnehmen, sondern
im Gegenteil, zu ihrer Erhaltung beitragen.
*Und was fällt Ihnen beim Wort Vatikan ein? Etwas, dass ich auch senden darf, Herr
Willemsen?
Ich habe das Vatikanische Museum so häufig durchschritten, ich bin so oft dort gewesen.
Bis zu den Vitrinen, in denen die meist geschmacklosen Geschenke der Präsidenten ausgestellt
wurden, wie ein Plastikschwan, den Richard Nixon ehemals dem Papst schenkte, aber
von dort bis zu Michelangelo ist es ein weiter Weg, der ganz gut symbolisch das beschreibt,
was Kirche alles bedeuten kann und insofern habe ich nichts Ketzerisches über den
Vatikan zu sagen. Zumal dazu kommt, dass, glaube ich wie die Mitwelt zu einem großen
Teil im neuen Papst eine Person gefunden hat, eine Persönlichkeit, mit der Identifikation
sehr viel leichter fällt, und die sehr viel mehr warme Zustimmung für vieles symbolische
Handeln bekommt, als mancher Vorgänger. Ich glaube, das darf man senden.
*Was empfehlen Sie sich und Ihren Mitmenschen als Mittel für ein Innehalten für einen
Ausstieg aus dem Dauerstress unseres Alltags? Literatur, Musik, Meditation und was
noch?
All das, aber es kann auch einfach das sehr einfache Mittel der Vergegenwärtigung
sein. Vergegenwärtigung in dem Sinne, dass wir alle geneigt sind, als Doppel und Dreifach-Informationskonsumenten,
gleichzeitig mailend und schreiben und Musik hörend und essend, all das nebeneinander
tun, so dass das Gehirn permanent überfordert wird in Hochleistungen des Synchronisierens.
Und ich versuche immer von Zeit zu Zeit komplett in dem Moment zu sein, der mich gerade
umgibt. Das heißt, bewusst in allem, denn wenn ich das Leben nicht verlängern kann,
dann kann ich es doch verdichten. Und das tue ich dadurch, dass ich Bewusstheit für
den Augenblick steigere. In diesem Moment wird sich dann auch eine größere Stille
einstellen können und irgendwie eine – glaube ich – präzisere Sicht auf das, was wirklich
mich ernährt oder was mir profund und wesentlich erscheint. Und diese Form der Verlangsamung
und der Vergegenwärtigung ist ein Mittel, das man überall einsetzen kann, selbst wenn
man in der Straßenbahn sitzt.
*Wir sind leider schon an der letzten Frage angelangt, leider. Dr. Roger Willemsen
ist nicht nur ein großer Autor und Publizist, er ist auch ein großer Reisender. Sie
sind bis an den Rand der Welt gefahren und haben Menschen rund um den Globus besucht.
Vor allem einem Land haben Sie Ihr besonderes Interesse gewidmet, nämlich Afghanistan.
Als Sie im Herbst vor drei Jahren afghanische Kinder und Frauen besuchten, hatten
Sie den Beschluss gefasst, hier, im Norden dieses Landes, konkrete Hilfe zu leisten.
Was hat Sie bewogen, hier im Land der Taliban, Schirmherr dieser Menschen zu werden?
Wissen Sie, Herr Parmeggiani, ich habe noch nie ein Land gesehen, in dem die Kultur
so bis zu ihren Graswurzeln zerbombt, zerstört worden ist. Und in der gleichzeitig
Menschen so ein dringendes Bedürfnis nach dem haben, was Kultur sein kann, und das
beginnt bei der Alphabetisierung. Und ich konnte diese Räume nicht besuchen und dann
zuhause sitzen, meine eigenen Privilegien empfinden und denken, wie leicht fällt es
mir doch, meine öffentliche Erscheinung in den Dienst von denen zu stellen, die selber
keine Sprache und keine Aufmerksamkeit haben und denen man das Leben schon dadurch
noch schlimmer macht, dass man sie immer in Zusammenhang mit militärischen Operationen
denkt. Ich hab eine sehr genuine Zuwendung zu der Zivilbevölkerung und insofern war
es mir ein vergleichsweise Leichtes, für den afghanischen Frauenverein einzutreten,
für den ich fast jede Woche arbeite und für den ich immer irgendwas versuche zu leisten,
was dazu beiträgt, dass dort Menschen in Schulen sitzen können, Frieden empfinden
und Zugang zu, ja, Wissen, zu Verständnis, auch Möglichkeiten haben, sich selbst zu
schulen, ihr Wissen weiterzugeben, und auf die Gestaltung ihres Lebens Einfluss zu
nehmen. Daran teilzunehmen ist tatsächlich ein Glück.
Eine Sendung von Aldo Parmeggiani.
(rv 12.04.2015 ap)
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