2015-03-29 13:39:00

Kirchenasyl – ultima ratio für Flüchtlinge


Die Zahl der Fälle von Kirchenasyl hat sich in Deutschland im vergangenen Jahr versechsfacht – über 200 Menschen warten in christlichen Gemeinden auf die Entscheidung über ihr Schicksal. Die große Mehrheit sind sogenannte Dublin-Fälle: Flüchtlinge also, die in das EU-Land zurückgeschickt werden sollen, das sie zuerst betreten haben. In den meisten Fällen bedeutet das Italien, Bulgarien oder Malta. Diese europäischen Richtlinien sollen Fairness gewährleisten, doch Theorie und Praxis klaffen weit auseinander. Die Kirche will ihnen Schutz gewähren: als letzte Möglichkeit, als ultima ratio.

Sarah al Nabahim – mit 13 erwachsen geworden

Urlaub, Sonne, Strand – sich einfach mal entspannen. Das denkt der Europäer, wenn er das Meer hört, sieht und riecht. In Sarah weckt es Erinnerungen, die sie nie vergessen wird – an ihre Flucht aus der Hölle über das Mittelmeer hinein in ein hoffentlich besseres Leben. Bis heute sind die Erinnerungen an die Flucht über das Mittelmeer nicht vergessen: „Ich kann manchmal überhaupt nicht auf ein Schiff gehen. In Hamburg bin ich mit einem Schiff gefahren, ich konnte nicht auf das Wasser schauen, ich konnte nicht! Ich war auch auf einem Ausflug auf dem Meer in Lübeck, und das war überhaupt nicht schön. Ich wollte nicht auf das Wasser.“

Sarah al Nabahim ist mit 13 Jahren aus Saudi-Arabien geflohen – mit vier Geschwistern, ihrer Mutter und ihrem MS-kranken Vater. In Italien holen ihre Großeltern sie mit einem Auto ab, die schon seit über zwanzig Jahren in Deutschland leben. Die Reise endet in Denkendorf, Bayern. Die Familie kommt in ein Asylheim, die Großeltern ins Gefängnis. Sechs Monate bleibt die Familie im Asylbewerberheim, dann kommt überraschender Besuch: „Auf einmal kam um sechs Uhr morgens die Polizei und sagte: „Ihr sollt nach Italien“. Wir hatten eigentlich eine Anwältin, und die muss das vorher wissen, damit sie uns Bescheid geben kann. Aber darum hat sich niemand gekümmert, die sind einfach gekommen. Wir haben gedacht, nein das geht nicht. Sie haben unsere Handys genommen, damit wir niemanden anrufen können.“

Durch einen Trick schafft es Sarah, dass jemand die Anwältin anruft. Drei Stunden haben sie Zeit, um die Abschiebung zu verhindern. Die Rettung in letzter Sekunde hat funktioniert, denn nach Italien können und wollen sie nicht zurück. Die Zustände für Flüchtlinge sind dort oft für eine Familie nicht zumutbar, weiß Sarah: „Wir waren ja in Italien. Wir haben alles gesehen. Die Leute saßen auf der Straße. Die haben zwar Aufenthaltsgenehmigungen bekommen, aber keine Arbeit, keine Wohnung. Und wir sind eine Familie – mein kranker Vater und wir Kinder. Das wäre einfach schrecklich, wenn wir nach Italien zurück gegangen wären!“

Ihnen ist klar, in Denkendorf können sie nicht bleiben. Darum fliehen sie nach Hamburg zum Rest der Familie. Doch auch dort spürt die Polizei sie auf. Ihre letzte Rettung: das Kirchenasyl. Das Kirchenasyl soll Härtefälle vermeiden, bei denen durch Abschiebung Gefahr für Leib, Leben und Freiheit droht. Sie kommen zu Pastorin Birgit Duskova in ihre evangelische Gemeinde Trinitas Hamburg-Harburg. Dort sind sie nun in Sicherheit, doch für Sarah und ihre Schwester fühlt sich es lange Zeit nicht so an: „Ich hatte immer Angst. Jeden Tag hatte ich Angst. Hatte viele Alpträume. Ab diesem Zeitpunkt waren meine Schwester und ich immer am Weinen, aus Angst. Wir wollten überhaupt nicht in die Schule gehen. Wir haben gesagt, dass wir Angst haben, dass die Polizei kommt und uns fasst. Wir wurden dann von einem Psychotherapeuten behandelt, weil wir nicht mehr konnten. Wir haben die ganze Zeit nur geweint.“

Unzulängliche Behandlungen von Traumata und Krankheiten in einigen Mitgliedsstaaten der EU sind Gründe, warum die Kirchen die Abschiebung von vielen Flüchtlingen verhindern. Sechs Monate hat Sara gebraucht, um in der Gemeinde wirklich anzukommen und sich in Deutschland sicher zu fühlen. Sie und ihre Geschwister sind zur Schule gegangen, ihre Eltern haben mit einer Privatlehrerin Deutsch gelernt, und die Gemeinde hat eine umfassende medizinische Behandlung auf die Beine gestellt. So schwierig die Zeit für Sara auch war, sie wird die 17 Monate bei der Gemeinde in Hamburg-Harburg nicht vergessen: „Das Schönste war die Zeit mit den Familien Duskova und Reis, die wir dort kennengelernt haben. Dass wir mit denen immer was zusammen gemacht haben. Wir waren wie eine Familie, und bis jetzt haben wir Kontakt zu ihnen.“

Kirchenasyl für die Gemeinde: Zusammenkommen und Mittragen

Birgit Duskova hat die Familie zum ersten Mal gesehen, als sie bei ihrer Gemeinde in Hamburg-Harburg ankam. Saras Vater humpelte am Arm eines Verwandten über den Parkplatz. Das hat sie stark berührt und gleichzeitig darin bestärkt, dass ihr Entschluss, der Familie Kirchenasyl zu gewähren, richtig war. Auch ihre Gemeinde hat das schnell begriffen, wie sich Duskova erinnert: „Es war für mich als Gemeindepastorin eine wunderbare Erfahrung auch mit meiner Gemeinde, dass irgendwie alle ganz deutlich begriffen haben, dass es um etwas ganz Konkretes geht. Ganz konkrete Menschen, die unsere Hilfe, unseren Schutz brauchen. Ich glaube auch, dass Menschen mit Vorurteilen gegen Muslimen ganz schnell einen Sprung gemacht - und dann eben diese Menschen gesehen haben. So dass es da gar keinen Widerstand gab und auch ein sehr großes Mittragen.“

Das Wichtigste war die medizinische Versorgung für den Vater. Lange wurde seine Multiple Sklerose nicht behandelt, selbst dann nicht, als er in der Obhut eines deutschen Asylbewerberheimes war. Viele Ärzte stellten ihre Leistungen der Familien kostenlos zur Verfügung. Auch die katholische Schule nahm die Kinder im Gegensatz zur staatlichen Schule ohne Bedenken auf. Doch immer wieder gab es auch Schwierigkeiten. Gerade die letzten Monate zogen sich dahin, jeden Tag wartete man auf den einen Bescheid. Duskova erinnert sich an viele Momente, wo der Druck besonders hoch war: Da hätten sie trotzdem immer wieder was zum Lachen gefunden – Kleinigkeiten. „Wir haben auf eine ganz andere Art gelacht, als man sonst lacht, weil es vielleicht ein besonderer Humor war. Aber ich habe noch nie so viel gelacht wie in dieser Zeit. Wir haben zusammen über Kleinigkeiten gelacht – ich kann das gar nicht so wiederbeleben... aber das war ganz wichtig, wie das den Druck genommen hat.“

Druck wegnehmen und der Familie Normalität ermöglichen. Natürlich ist das Kirchenasyl keine normale Situation für die Familie von Sara al Nabahim, doch sie wollten so normal wie möglich leben können. Daher hatten sie im Keller der Gemeinde auch einen eigenen Wohnbereich, wo sie als Familie leben konnten. Birgit Duscova war ihre direkte Nachbarin, sie wohnte ein paar Etagen höher im Haus der Gemeinde. Muslime und Christen – Seite an Seite in einer evangelischen Gemeinde, für die Pastorin kein Gegensatz: „Ein ganz schöner Moment für mich ist immer, wenn der Vater unten gebetet hat, das hat ihm immer geholfen und seinen Tag strukturiert, wenn er eben unten gebetet hat und zur gleichen Zeit oben unsere christlichen Glocken läuten. Das war für mich so ein Bild der Ganzheit, und das so Verschiedenes zusammenkommen kann.“

Kirchenasyl ist Teamarbeit

„Ich glaube, Flüchtlinge sind ein gutes Vorbild für die gesamte Kirche, besonders im Westen, die ja dazu neigt, bürgerlich träge zu werden. Vielleicht kann man, theologisch gesprochen, sogar so weit gehen zu sagen, vielleicht sind Flüchtlinge das neue Volk Gottes, das eben voran geht, Bewegung rein bringt. Das inspiriert mich immer wieder, und dadurch wird für mich die Arbeit sinnvoll und auch im geistlichen Sinne sehr wertvoll.“

Bruder Dieter Müller arbeitet seit fünfzehn Jahren mit Flüchtlingen, und seit anderthalb Jahren koordiniert er für den Jesuitenflüchtlingsdienst JRS in Bayern das Kirchenasyl. Er berät Gemeinden und Hilfsorganisation, wie man ein Kirchenasyl anbietet. Kein leichtes Unterfangen, das gut organisiert sein muss. Der Jesuitenpater empfiehlt immer einen Anwalt, der die Behördenkontakte übernimmt. Darum kümmert sich in den meisten Fällen Müller selbst. Die Gemeinden müssen sich neben der Unterkunft für die Flüchtlinge auch um deren Lebensunterhalt kümmern. Doch auch das Menschliche muss bedacht werden, erklärt Müller. Hinter einem gelingenden Kirchenasyl steckt vor allem Teamwork, erläutert er. „Es muss sich ein Helferkreis bilden, der dann koordiniert werden muss - am besten von einem, der die Leute einteilt. Drei, vier Leute für den Deutschunterricht, die den Betroffenen regelmäßig besuchen und Deutschunterricht geben, damit die Zeit nicht zu sehr verschwendet ist.“ Andere gehen für die Flüchtlinge einkaufen, besorgen die alltäglichen Notwendigkeiten, und wieder andere sind einfach nur da, leisten Gesellschaft.

Die meisten Kirchenasyle schützen Flüchtlinge vor einer Abschiebung in das EU-Land, das er bzw. sie zuerst betreten hat – die sogenannten Dublin-Fälle. Die Dublin-Verordnung soll eigentlich ein faires Asylverfahren gewährleisten. Doch Theorie und Praxis liegen weit auseinander. Damit Flüchtlinge ein faires Asylverfahren bekommen und endlich irgendwo ankommen können, kämpft Jesuitenpater Dieter Müller. „Das wollen wir ihnen eben durch ein Kirchenasyl ermöglichen“, erklärt er. „Und wir wollen sie auch schützen vor Menschenrechtsverletzungen, die in einigen Mitgliedsstaaten passieren, weil diese nicht willens sind, Asylbewerber ausreichend unterzubringen, auch faire Verfahren durchzuführen, oder weil sie einfach nicht dazu in der Lage sind.“

Weil Länder wie Italien, Bulgarien oder Malta laut Müller nicht dazu imstande sind, hat sich die Zahl der Fälle von Kirchenasyl im vergangenen Jahr bundesweit versechsfacht. Mitte März diesen Jahres sind über zweihundert Kirchenasyle für insgesamt 411 Menschen gemeldet. Zahlen, die den Bundesinnenminister Thomas de Maizière alarmierten und die zu Gesprächen zwischen der Bundesagentur für Migration und Flüchtlinge und Kirchenvertretern geführt haben. Das BAMF drohte inzwischen damit, Fristen zu verlängern, so dass sich das Kirchenasyl von Dublin-Fällen auf jeden Fall um ein Jahr verlängert hätte. Das hätte eine erhebliche Belastung für betroffene Gemeinden und Flüchtlingen bedeutet. Gespräche zwischen Kirche und Bundesagentur förderten dann allerdings einen Kompromiss zutage, um die stetig wachsende Zahl von Kirchenasylen zu verringern, so erklärt Dieter Müller. „Die Kirchen haben betont, dass es immer um Einzelfälle geht, dass es eine Ultima Ratio ist und dass sie sorgfältig mit dem Gut des Kirchenasyls umgehen. Umgekehrt haben die Behörden angeboten, eine Stelle einzurichten, die eben so ähnlich wie eine Härtefallkommission – wie eine Clearing-Stelle – funktioniert. Da können dann kirchliche Vertreter besondere Härtefälle einreichen, Dublin-Härtefälle. Und das Bundesamt will solche Fälle genauer anschauen, um eben in Teilen das Kirchenasyl zu vermeiden.“

Kirchenasyl - ein Ringen zwischen Staat und Kirche

Doch wie kam es überhaupt dazu, dass sich Kirche und das Bundesamt einigen mussten? Im letzten Jahr sind die Zahlen von Kirchenasyl in die Höhe geschnellt, weil Flüchtlinge nicht nach Italien oder Bulgarien abgeschoben werden wollen. Dort droht ihnen nicht selten menschenunwürdige Verhältnisse. In einem Gespräch zwischen der Bundesregierung und Vertretern der Kirche nahm der Bundesinnenminister diese Misere als Thema auf und legte in einem Interview mit dem Deutschlandfunk sogar noch mal nach. Er ging mit der Kirche hart ins Gericht: „Ja, das geht eben nicht, dass eine Institution sagt: ‚Ich entscheide jetzt mal, mich über das Recht zu setzen.’ Ich will mal ein etwas anderes Beispiel nehmen: Die Scharia ist auch eine Art Gesetz für Muslime, sie kann aber in keinem Fall über deutschen Gesetzen stehen.“

Die Verfassung gelte gegenüber jedermann, auch gegenüber der Kirche, betonte de Maizière. Sobald eine rechtskräftige Entscheidung getroffen werde, könne niemand mehr sagen, er sähe das anders. Auch nicht die Kirche. Die Kirche sieht das jedoch anders. Das Kirchenasyl ist keine rechtliche Institution, doch ihre Hilfe sei eine gebotene Christenpflicht, auf die die Kirche in den Ausnahmefällen nicht verzichten wollen, denn es verfolgt ein Ziel, dass auch im Sinne des Staates ist, so erklärt Kardinal Reinhard Marx. „Es geht darum, dass Recht noch einmal anzuschauen in einem Einzelfall, ob wirklich alles geprüft wurde - und wenn eine Entscheidung dagegen gefällt wird, muss man sich dem auch beugen. Wir wollen nicht das Recht aushebeln, wir wollen nur alle Möglichkeiten in Anspruch nehmen. Wenn Sie sich konkrete Einzelfälle anschauen, können sie sehen, dass das Recht nicht alle Einzelfälle umfasst! Das ist eine Überforderung des Rechts.“

Das soll das Kirchenasyl bewirken: Möglichkeiten ausschöpfen, dem Staat zum Recht verhelfen und Einzelschicksale schützen. Eine lange Tradition, die sich für den Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz bewährt hat, denn 90 Prozent der ihm bekannten Fälle wurden im Endeffekt positiv entschieden.

Nach dem Kirchenasyl beginnt die Zukunft

Für die Pastorin Birgit Duskova aus Hamburg Harburg sind die Aussagen der Politik unverständlich. Sie weiß selber, dass Deutschland nicht alle aufnehmen kann, aber: „Wenigstens die am härtesten betroffenen Menschen zu schützen, ist eine Option des Kirchenasyls. Und da zu sagen: Bitte, gibt es da nicht eine andere Lösung in Deutschland.“

Für die Gemeinde in Harburg ging es nach der Familie von Sara al Nabahim weiter. Sie hatten noch weitere Kirchenasyle und verfügen nun sogar über ein Café für Flüchtlinge.

Sara lebt inzwischen im bayrischen Weilheim. Sie mussten nach Bayern zurückkehren, da dort ihre Akten lagen – alles andere hätte ihr Prozedere noch komplizierter und aufwendiger gemacht. Ende 2013 wollte Deutschland sie erneut abschieben und empfahl ihnen, nach Südafrika oder Asien zu ziehen. Nach erneutem Hin und Her haben ihre Anwälte es geschafft, der Familie von Sara das Aufenthaltsrecht zu erkämpfen. Bis 2017 sind Sara und ihre Familie erstmal sicher. Die Kinder gehen in die Schule, ihre Mutter hat das Abitur gemacht und sucht sich nun mit Hilfe des Jobcenters eine Ausbildung. Es klingt wie ein normales Leben, aber: „Ich habe meine schönste Zeit verloren, zwischen 13 und 17 Jahren. Diese Zeit ist einfach verloren. Und alles, was da passiert ist, wird immer in meinen Gedanken bleiben. Auch bei meinen Geschwistern, die erinnern sich auch an alles. Das kann ich überhaupt nicht vergessen, auch wenn es mir jetzt gut geht und auch meine Zukunft super wird. Aber gerade diese Zeit ist schwierig, wenn man in so eine Situation kommt.“

Das Kirchenasyl konnte ihr diese Zeit nicht zurückgeben, aber es hat ihr Schicksal verändert, wie sie selber sagt. Im kommenden Herbst wird sich zeigen, ob die Kirchen und die Bundesagentur für Migration und Flüchtlinge gemeinsam wenigstens den am härtesten betroffenen Menschen mit dem Kirchenasyl Schutz gewähren.

Eine Sendung von Pia Dyckmans

(rv/deutschlandfunk 29.03.2015 pdy)

Musik: Wir bleiben hier - Bernadette La Hengst und l´Universal Schattensenat








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