2015-03-25 10:50:00

Jean d'Ormesson: Gegen die Ästhetik des Horrors


In Deutschland kennen ihn nur wenige, aber in seiner Heimat Frankreich ist er eine lebende Legende: Jean d'Ormesson. Der fast neunzigjährige Schriftsteller, der zur Académie Francaise gehört, ist eine Art französischer Marcel Reich-Ranicki, ein Literaturkritiker und ein Klassiker zu Lebzeiten. In seinen Werken hat er sich auch oft mit religiösen Themen beschäftigt, zum Beispiel in „Dieu, sa vie, son oeuvre“ (Gott, sein Leben und Werk) von 1981.

D'Ormesson war es nun, der vor ein paar Wochen einen Appell für die verfolgten Christen im Nahen Osten verfasst und das Schweigen der politischen und Medien-Eliten in Frankreich angeprangert hat. Der Appell hat viel Resonanz gefunden: Viele Intellektuelle und immer mehr Politiker schließen sich ihm an. Außenminister Laurent Fabius hat daraufhin dafür gesorgt, dass der UNO-Sicherheitsrat am 27. März über die Verfolgung von Christen und anderen Minderheiten in Syrien und dem Irak beraten wird; Fabius will die Sitzung selbst leiten.

„Das Massaker an Christen hat im Irak schon vor ein paar Jahren begonnen“, sagt d'Ormesson im Interview mit Radio Vatikan, „und aus meiner Sicht fielen die Reaktionen darauf sehr schwach aus. Diese unglücklichen Christen schienen mir alleingelassen, und die Lage hat sich seitdem enorm verschlimmert. Das Übel hat sich auf Syrien, auf den ganzen Nahen Osten, auf Libyen und Ägypten, auf Afrika überhaupt ausgebreitet, ja ich sehe, dass die Christen jetzt auch in Indien und Indonesien Schwierigkeiten haben. Es gibt also eine sehr starke Bewegung gegen die Christen; man muss sie verteidigen – nicht mehr als die anderen, aber doch wenigstens genauso entschieden wie die anderen Minderheiten. Was ich über die Christen gesagt habe, würde ich auch über die Jesiden sagen.“ Der große alte Mann der französischen Literatur spielt auf die Parolen des französischen Geisteslebens seit den 68ern an: „Wir waren ja alle mal deutsche Juden. Wir standen alle hinter den Gegnern Stalins. Wir waren alle Charlie. Jetzt ist es, glaube ich, Zeit, dass wir alle orientalische Christen sind!“

D'Ormesson hat den Eindruck, dass die Franzosen zu sehr mit sich selbst beschäftigt sind: Der Aufschrei nach den Attentaten auf Charlie Hebdo in Paris war ungeheuer, die Reaktion auf Menschenrechtsverletzungen in Nigeria, Irak oder Syrien vergleichsweise schwach. „Die Tatsache, dass die Christen jetzt Opfer vielfältiger Verfolgungen sind, ist in mehreren Büchern ausführlich behandelt worden, aber die Reaktionen waren verhaltener als bei Charlie. Bei Charlie fühlten sich die Medien angegriffen, und darum haben sie viel heftiger reagiert. Aber ich hoffe dennoch darauf, dass das Los der Christen die Regierungen anrühren wird, nicht nur in Europa, sondern überhaupt auf internationaler Ebene.“ Damit meint d'Ormesson auch Saudi-Arabien und Katar: „Wissen Sie, ich habe oft darüber nachgedacht, woher eigentlich die Waffen für den ‚Islamischen Staat’ kommen. Leider habe ich den Eindruck, sie kommen zu einem großen Teil aus amerikanischen Lieferungen, die für andere Länder bestimmt waren und zweckentfremdet werden... Dazu kommen offenbar Lieferungen aus reichen arabischen Staaten. Wir beobachten ein ständiges Sich-Überbieten der Gewalt und des Schreckens, darum müsste man dringend die Kanäle ausländischer Mächte zum ‚Islamischen Staat’ trockenlegen.“

Der Vater des Schriftstellers war Diplomat, der während des Zweiten Weltkriegs auch an der Rettung verfolgter Juden beteiligt war. Auch daher rührt das politische Engagement  d'Ormessons. Die Schreckensvideos des ‚Islamischen Staats’ sieht er als eine Pervertierung der Unterhaltungsgesellschaft: „Viele haben auf die ästhetische Qualität dieser Schrecken aufmerksam gemacht. Wir kannten schon früher Horror: die deutschen KZs, den russischen Gulag, die chinesische Kulturrevolution, die Roten Khmer. All das waren furchtbare Schreckensherrschaften. Aber die Mörder versuchten immerhin, ihre Übeltaten zu verstecken! Jetzt aber bedient sich die Propaganda dieser Gewalt und zeigt sie unverhüllt. Man hat den Eindruck, als wäre das eine politische und ästhetische Operation; auf jeden Fall wird damit ein Grad der Barbarei erreicht, den es in der Geschichte der Menschheit selten gegeben hat.“

(rv 25.03.2015 sk)








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