2015-03-12 09:39:00

Jean Vanier: „Frei, manchmal verrückt zu sein“


 „Bei Menschen mit Behinderung geht es nicht darum, etwas für sie zu tun, sondern ihnen zu begegnen. Die Arche ist ein Ort, an dem wir lernen, zu begegnen.“ Das sagt Jean Vanier, Gründer der Arche-Gemeinschaften. Vanier hat einen der renommiertesten Preise im Bereich Wissenschaft und Religion zugesprochen bekommen: Den Templeton-Preis. Der Preis ist die weltweit dritthöchst dotierte Auszeichnung, die ein einzelner Mensch bekommen kann, das Preisgeld beträgt über eineinhalb Millionen Euro. Ganz bewusst wird bei der Auswahl – dem Willen des Stifters John Templeton gemäß – großer Wert auf Spiritualität gelegt.

In „L’Arche“, wie die Bewegung international heißt, leben Menschen mit und ohne Behinderung zusammen. „Auf irgendeine Weise werden die Helfer, die aus einer Kultur des Gewinnens und des individuellen Erfolges und mit der Einstellung kommen, etwas Gutes tun zu wollen, verwandelt. Sie entdecken, was wichtig ist, nämlich das Lieben zu lernen.“ Jean Vanier erklärt im Interview mit Radio Vatikan, worauf seine Gemeinschaften aufbauen. „Zu lieben ist nicht einfach, Paulus definiert Liebe zum Beispiel als Geduld, als Dienst, er sagt lieben heißt alles ertragen, alles glauben, alles hoffen. Die Menschen, mit denen wir zusammen leben, reißen unsere inneren Widerstände nieder, unsere Vorurteile und unser Bedürfnis, nach oben zu kommen. Wir entdecken neu, was es heißt, ein Mensch zu sein.“

In Kanada geboren hatte der promovierte Philosoph und Theologe in den 60er Jahren erstmals eine kleine Gemeinschaft gegründet, in Compiègne nahm er erstmals zwei Menschen mit geistiger Behinderung auf, der Kern der späteren Arche. Heute gibt es weltweit 147 solcher Gemeinschaften, in denen Menschen mit und ohne Behinderungen zusammen leben, Vanier selber lebt immer noch in seiner Ursprungsgemeinschaft im Norden von Paris.

„Menschen mit Behinderung waren für viele Eltern eine Schande, es gab die Vorstellung, dass es eine Art Gottesstrafe war. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass in der Kirche Menschen mit Behinderung für lange, lange, lange Zeit nicht zur Kommunion gehen konnten, weil sie nicht verstanden. Es sind Menschen, die verletzt und zurück gewiesen wurden, sie wurden gedemütigt und an die Seite gedrängt.“ Er berichtet von einem Besuch 1964 in einer Einrichtung, in der Männer eingesperrt wurden und die Eltern froh und erleichtert waren, ihre Kinder untergebracht zu wissen. Es sei aber kein Ort gewesen, wo Menschen mit Behinderung sich hätten entwickeln können oder gar glücklich werden. „Mit einigen Freunden war ich in der Lage, ein Haus zu kaufen und so konnten wir zwei dieser Männer aufnehmen und mit ihnen in einer Art Familienzusammenhang leben. Es war für sie natürlich eine große Befreiung.“

Es geht darum, dass Menschen mit Behinderung erkennen könnten, „wie schön sie seien, und dass Menschen in Gesellschaft und Kirche entdecken können, wer sie sind und was sie einbringen können,“ so Vanier. Und auch die Menschen, die selber als Helfer gekommen seien, entdeckten Neues in sich selbst. „Sie kamen um Gutes zu tun, aber dann haben sie festgestellt, dass ihnen geholfen wurde, dass sie geheilt wurden, dass sie das berühren konnten, was in ihnen wesentlich ist. Und so ist das gewachsen, und zwar sehr schnell.“

Er habe lernen dürfen, dass seine Mitbewohner eine außerordentliche Fähigkeit zum Lieben zu zwischenmenschlichen Beziehungen hätten. „Wegen ihrer Schwierigkeiten haben sie eine Art Freiheit. Sie sind frei, manchmal verrückt zu sein, während so viele andere Menschen sich an das anpassen, was andere von einem denken. So wird Glücklichsein geboren.“

Vanier selber ist Katholik, die Gemeinschaft wurde aber schnell ökumenisch und überschritt dann auch die Grenzen der Religionen, Christen verschiedener Konfessionen arbeiten gemeinsam mit Muslimen. „Wohin gehören wir also? Nun, wir gehören Gott und den Menschen, die leiden und abgelehnt werden.“

Jean Vanier wird der Preis am 18. Mai in London verliehen, wie die Templeton-Stiftung mitteilte. Jury und Preisträger des Preises kommen aus allen großen Religionen, so sind Mutter Teresa, Frère Roger Schütz von Taizé, Desmond Tutu, Carl-Friedrich von Weizsäcker und Tomás Halík unter den bisherigen Preisträgern. Der Preis wurde 1973 erstmalig vergeben.

(rv 12.03.2015 ord)








All the contents on this site are copyrighted ©.