2015-01-24 10:34:00

Unser Buchtipp der Woche


Jesuitengeneral Adolfo Nicolás hat unlängst an der „Sophia“-Universität seines Ordens in Tokio einen Vortrag gehalten, der einige Beachtung gefunden hat. Nicolás, der Jahrzehnte in Japan gelebt hat, bevor er an die Spitze der Jesuiten rückte, sprach über die Mission in Asien – und wie wichtig es sei, dass sie „sensibel“ ist für die tieferen Dimensionen der Wirklichkeit in Asiens Kulturen und Gesellschaften. Überraschend genug machte der Ordensgeneral das am „musikalischen Gespür“ des japanischen Volkes fest; hier zeige sich die Öffnung der japanischen Kultur zur Transzendenz, zur Tiefe, zum Nicht-nur-Materiellen.

 

Einmal auf dieser Spur (und mit den jüngsten Papstreisen durch Asien im Hinterkopf), wird der Leser auch Haruki Murakamis „Pilgerjahre“ mit ganz anderem Interesse lesen. Nicht nur, weil auch in diesem Roman die Musik es ist, die immer wieder für Ausblicke ins Nichtgesagte oder nicht Sagbare sorgt. Sondern auch, weil er sich lesen lässt wie eine Partitur: Aus vielen verschiedenen Punkten, die auch ganz zusammenhanglos wirken können, setzt sich auf einmal eine Melodie zusammen.

 

„Es gibt so vieles auf der Welt, das sich mit Zuneigung allein nicht lösen lässt.“ So sinniert Tsukuru Tazaki, der Ich-Erzähler der „Pilgerjahre“. „Das Leben ist lang und manchmal grausam.“ Murakami schickt seinen Protagonisten auf eine Reise in die eigene Vergangenheit, um Unausgesprochenes ans Licht zu holen und Missverständnisse zu klären.

 

Der deutsche Verlag wirft allerdings einige Nebelkerzen, wenn er „Vier Farben – eine Reise“ in Großbuchstaben auf das Cover druckt und dazu raunt, ein „Mann ohne Leidenschaften“ (da sollen wir wohl an Musil denken) suche hier „nach vier Farben“: Nein, wie fernöstlich und geheimnisvoll! In Wirklichkeit hat Murakami einen sehr nüchternen, westlichen Roman geschrieben, der all das Orientalisieren gar nicht nötig hat. Tsukurus Lehr- und Wanderjahre: wie bei Goethe, aber viel düsterer.

 

Der Ich-Erzähler hat nie verwunden, dass seine besten Freunde vor Jahren plötzlich und ohne Angabe von Gründen mit ihm gebrochen haben. Er stellt sie, einen nach dem anderen, zur Rede. Und muss dabei allmählich feststellen, dass auch die Freunde im Innern vielfältig beschädigt sind. Es ist eine Reise von Lebensgeschichte zu Lebensgeschichte; jede ist anders, jede weist Brüche auf und Schlenker. Tsukuru merkt: Mein Schmerz ist nicht der einzige. Die anderen in den Blick zu nehmen und ihnen zuzuhören, versöhnt ihn mit sich selbst. Das alles trotz eines fortissimo-Auftaktes behutsam und geschickt erzählt. Murakami läßt seinem Protagonisten Zeit; alles darf sich nach und nach entfalten. Meisterhaft – und unaufdringlich.

 

Dabei wird das titelgebende Stichwort  „Pilgerjahre“ auf den ersten Blick im Erzählten gar nicht eingelöst. Erst mit der Zeit erschließt sich, dass diese Pilgerschaft durchaus ihren Zielpunkt, ihren – wenn auch säkularen – Wallfahrtsort hat, an dem sie zur Ruhe kommt: Es ist der Bahnhof von Tokio.

 

Immer wieder, wenn er „keinen Ort (hat), an den er gehen könnte“, löst Tsukuru eine Bahnsteigkarte, setzt sich auf eine Bank an den Gleisen und beobachtet, wie die Waggons ein- und ausfahren, wie sie „Menschen ausspeien“ und andere Menschen „aufnehmen“. Vor allem beeindruckt es ihn, zu denken, „dass jeder Einzelne von ihnen irgendwoher kam und irgendwohin ging. Einen Ausgangspunkt und ein Ziel hatte.“ Die Pilgerfahrt zum Hauptbahnhof – das ist eines der Bilder, die von diesem Roman bleiben. Wer die von Pater Nicolás beschworene „Sensibilität“ mitbringt, der wird in diesem Roman überall Spuren ins Transzendente finden.

 

Erschienen im DuMont Verlag, Preis: ca. 23 Euro.

 

(rv 24.01.2015 sk)

 








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