2014-12-05 09:04:00

Papstprediger Pater Raniero Cantalamessa: Friede, Frucht des Kreuzes Jesu


Die erste Adventspredigt von P. Raniero Cantalamessa OFM Cap. zum Thema „Meinen Frieden gebe ich euch“ (Joh 14:27): Frieden als Geschenk Gottes in Jesus Christus, Übersetzung durch die Agentur Zenit.

 

1. Wir haben Frieden mit Gott!

Wenn wir den lautesten Ruf hören könnten, der in den Herzen von Milliarden von Menschen wohnt, dann würde wohl, wiederholt in allen Sprachen der Welt, ein einziges Wort an unser Ohr dringen: Frieden! Die schmerzliche Aktualität dieses Themas, vereint mit dem Wunsch, dem Wort Frieden jenen Reichtum und jene Tiefe der Bedeutung wiederzugeben, die es in der Bibel hat, haben mich dazu veranlasst, diesem Thema die diesjährigen Adventsmeditationen zu widmen. Ich hoffe, dass wir dadurch die Weihnachtsverkündigung „Und auf Erden ist Friede bei den Menschen seiner Gnade“ mit neuen Ohren hören und auch beginnen werden, die Botschaft, die die Kirche jedes Jahr durch den Weltfriedenstag an die Menschheit richtet, in unserem Inneren nachzuleben.

 

Beginnen wir mit der grundlegendsten aller Friedensverkündungen. Es handelt sich um die Worte des Apostels Paulus im Römerbrief:

 

„Gerecht gemacht aus Glauben, haben wir Frieden mit Gott durch Jesus Christus, unseren Herrn. Durch ihn haben wir auch den Zugang zu der Gnade erhalten, in der wir stehen, und rühmen uns unserer Hoffnung auf die Herrlichkeit Gottes.“ (Röm 5, 1-2).

 

Ich erinnere mich heute noch an den Tag, als für Italien der Zweite Weltkrieg zu Ende ging. Der Ruf „Frieden!“ erklang in den Städten und auf dem Lande, sprang von Haus zu Haus. Es war das Ende eines Alptraums: keine Gewalt mehr, keine Bomben, kein Hunger. Es war, als könne endlich das Leben wieder neu beginnen. So ähnlich mussten diese Worte des Apostels auf die Herzen seiner Leser wirken: „Wir haben Frieden mit Gott! Frieden! Ein neues Zeitalter bricht für die Menschen in ihrer Beziehung zu Gott an!“ Die Zeit, in der sie lebten, ist als ein „Zeitalter der Existenzangst“ [1] bezeichnet worden. Die Menschen hatten damals den (durchaus nicht unbegründeten) Eindruck, dass eine Verurteilung auf ihnen lastete; Paulus nennt es den „Zorn Gottes“ der sich „vom Himmel herab offenbart wider alle Gottlosigkeit“ (Röm 1,18). Daher die esoterischen Riten und Versöhnungskulte, von denen es in der heidnischen Gesellschaft jener Zeit nur so wimmelte.

 

Wenn wir vom Frieden sprechen, denken wir fast immer an einen „horizontalen“ Frieden: unter den Völkern, den gesellschaftlichen Klassen, den Religionen. Das Wort Gottes aber lehrt uns, dass der erste und wichtigste Frieden der vertikale ist, der Frieden zwischen Himmel und Erde, zwischen Gott und der Menschheit. Von ihm hängen alle anderen Formen des Friedens ab. Das sehen wir schon im Schöpfungsbericht. Solange Adam und Eva im Frieden mit Gott lebten, waren sie auch in Frieden mit sich selbst und mit ihrem Körper (sie waren nackt und schämten sich nicht); Frieden herrschte zwischen Mann und Frau („Fleisch von meinem Fleisch“) sowie zwischen dem Menschen und der restlichen Schöpfung. Sobald sie gegen Gott rebellieren, gerät alles in Kampf: der Leib gegen den Geist (sie erkennen, dass sie nackt sind), der Mann gegen die Frau („die Frau hat mich verführt“), die Natur gegen den Menschen (Dornen und Schweiß), Bruder gegen Bruder, Kain gegen Abel.

 

Aus diesem Grund habe ich beschlossen, diese erste Meditation dem Frieden als Geschenk Gottes in Jesus Christus zu widmen. In der zweiten Meditation werden wir vom Frieden als Aufgabe für uns alle sprechen und in der dritten vom Frieden als Frucht des Geistes, d.h. vom inneren Frieden der Seele.

 

2. Der von Gott versprochene und geschenkte Frieden

Die Verkündigung des Apostels Paulus, die wir gerade gehört haben, setzt voraus, dass etwas geschehen ist, was das Schicksal der Menschheit verändert hat. Wenn wir jetzt den Frieden mit Gott haben, dann bedeutet das, dass wir ihn zuvor nicht hatten; wenn es jetzt „keine Verurteilung mehr gibt“ (Röm 8,1), dann bedeutet das, dass zuvor eine Verurteilung da war. Was hat eine so einschneidende Veränderung in der Beziehung zwischen Mensch und Gott hervorgerufen?

 

Angesichts der Rebellion des Menschen – dem Sündenfall – überlässt Gott die Menschheit nicht sich selbst, sondern beschließt einen neuen Plan, um sie wieder mit sich zu versöhnen. Ein triviales, aber zum Verständnis nützliches Beispiel kommt uns von den modernen Navigationssystemen auf unseren Autos. Wenn ein Autofahrer plötzlich beschließt, den Anweisungen, die der Satellit ihm von oben übermittelt, nicht mehr zu folgen – sagen wir, er biegt links ab statt rechts – dann wird das Navigationssystem in wenigen Augenblicken einen neuen Weg für ihn finden, der ihn vom Ort, an dem er sich nun befindet, zum gewünschten Ziel führt. So hat Gott es mit dem Menschen getan, als er nach dem Sündenfall seinen Heilsplan beschloss.

 

Mit den biblischen Bündnissen beginnt die lange Vorbereitungszeit. Dabei handelt es sich sozusagen um „separate Friedensverhandlungen“. Zunächst betreffen sie nur einzelne Personen: Noah, Abraham, Jakob; dann, mit Mose, das ganze Volk Israel, das zum Volk des Bundes wird. Diese Bündnisse sind, im Unterschied zu den menschlichen, immer Friedensbündnisse; sie dienen nie dem Krieg gegen andere.

 

Doch Gott ist der Gott aller Menschen. „Ist denn Gott nur der Gott der Juden, nicht auch der Heiden? Ja, auch der Heiden“, ruft Paulus (Röm 3,29). Dieser alte Bund war deshalb zeitlich begrenzt und dazu bestimmt, eines Tages auf die ganze Menschheit ausgedehnt zu werden. Tatsächlich fangen die Propheten an, immer deutlicher von einem „neuen und ewigen Bund“ zu sprechen, einem „Friedensbund“ (Ez 37,26), der sich von Zion und Jerusalem auf alle Völker ausbreiten wird (vgl. Jes 2,2-5).

 

Dieser universale Frieden wird wie eine Rückkehr zum Urfrieden des Gartens Eden beschrieben, mit Bildern und Symbolen, die in der jüdischen Tradition wörtlich genommen werden, während sie in der christlichen als spirituelle Sinnbilder gedeutet werden:

 

„Dann schmieden sie Pflugscharen aus ihren Schwertern und Winzermesser aus ihren Lanzen. Man zieht nicht mehr das Schwert, Volk gegen Volk, und übt nicht mehr für den Krieg“ (Jes 2,4). „Dann wohnt der Wolf beim Lamm, der Panther liegt beim Böcklein. Kalb und Löwe weiden zusammen, ein kleiner Knabe kann sie hüten“ (Jes 11,6).

 

Das Neue Testament sieht all diese Prophezeiungen im Kommen Jesu verwirklicht. Seine Geburt wird der Welt mit den Worten verkündet: „Auf Erden ist Friede bei den Menschen seiner Gnade“ (Lk 2,14). Jesus selbst erklärt, dass er auf die Erde gekommen ist, um den Frieden Gottes zu bringen: „Frieden hinterlasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch“, sind seine Worte (Joh 14,27). Am Abend des Ostertags richtet der Auferstandene, wer weiß mit welch göttlichem Klang in seiner Stimme, die Worte „Friede sei mit euch!“ an seine Jünger. Wie schon in der Weihnachtsverkündung handelt es sich hier nicht um einen bloßen Gruß, sondern um die Mitteilung von etwas Reellem. Der ganze Sinn der Erlösung lag in diesem Wort eingeschlossen.

 

Die apostolische Kirche wird nie müde zu verkünden, dass sich das Friedensversprechen Gottes in Christus erfüllt hat. Micha spricht vom Messias, der in Betlehem in Judäa zur Welt kommen soll, und sagt: „Er wird der Friede sein“ (Mi 5,4); genau dasselbe steht über Christus im Epheserbrief: „Er ist unser Friede“ (Eph 2,14). „Die Geburt des Herrn“, sagt Leo der Große, „ist die Geburt des Friedens“ [2].

 

3. Der Frieden, Frucht des Kreuzes Christi

Doch wollen wir uns jetzt eine exaktere Frage stellen. Hat Jesus den Frieden zwischen Himmel und Erde allein durch seine Geburt wiederhergestellt? Ist wirklich die Geburt Christi die „Geburt des Friedens“, oder ist es nicht vielmehr sein Tod? Die Antwort finden wir in dem schon zitierten Pauluswort: „Gerecht gemacht aus Glauben, haben wir Frieden mit Gott durch Jesus Christus, unseren Herrn“ (Röm 5,1). Der Frieden kommt aus der Rechtfertigung durch den Glauben und die Rechtfertigung kommt vom Opfer Christi am Kreuz! (vgl. Röm 3, 21-26).

 

Mehr noch; der Frieden ist der Inhalt der Rechtfertigung selbst. Diese besteht nicht nur in der Vergebung (oder, nach Luther, Nicht-Anrechnung) der Sünden, d.h. in etwas rein Negativem, ein „Wegnehmen“ von etwas, das zuvor da war; sondern vor allem auch in einem positiven Element, ein „Hinzutun“ von etwas, das zuvor fehlte: der Heilige Geist, und mit ihm die Gnade und der Frieden.

 

Eines ist klar: Man begreift die radikale Veränderung nicht, die in unserem Verhältnis zu Gott stattgefunden hat, wenn man nicht begreift, was mit dem Tode Christi geschah. Abendland und Orient sind sich in der Beschreibung des Zustands der Menschheit vor Christus und außerhalb von Christus einig. Auf der einen Seite waren da die Menschen, die durch ihre Sünde eine Schuld auf sich geladen hatten und gezwungen waren, gegen den Teufel zu kämpfen, der sie gefangen hielt: Eine aussichtslose Situation, weil ihre Schuld gegen Gott unendlich groß war und sie selbst Sklaven des Teufels waren, den sie hätten bekämpfen sollen. Auf der anderen Seite war Gott, der die Schuld sühnen und den Satan besiegen konnte, es aber nicht musste, weil ja nicht er der Schuldner war. Es war nötig, jemanden zu finden, der in sich den vereinte, der kämpfen musste, und den, der siegen konnte. Genau das ist mit Christus geschehen, der Gott und Mensch zugleich ist. So oder so ähnlich drücken es im Orient Nikolaos Kabasilas, im Abendland Anselm von Canterbury aus[3].

 

Der Kreuzestod Jesu ist der Augenblick, in dem der Erlöser die Erlösung vollbringt, die Sünde vernichtet und den Satan besiegt. Was er als Mensch tut, gehört uns an: „Von ihm her seid ihr in Christus Jesus, den Gott für uns zur Weisheit gemacht hat, zur Gerechtigkeit, Heiligung und Erlösung“ (1 Kor 1,30); für uns! Andererseits hat das, was er als Gott wirkt, einen unendlich großen Wert und kann „die, die durch ihn vor Gott hintreten“ retten (Hebr 7,25).

 

In jüngerer Zeit hat es eine tiefe Reflexion über den Sinn des Opfers Christi gegeben. Der französische Denker René Girard entwarf 1972 die These, wonach „Gewalt das Herz und die Seele des Sakralen ist“ [4]. Am Anfang und im Mittelpunkt jeder Religion, auch der jüdischen, stehe nämlich das Opfer, das Ritual des Sündenbocks, das immer Tod und Zerstörung beinhalte. Schon vor diesem Zeitpunkt jedoch hatte sich dieser Denker dem Christentum angenähert und zu Ostern 1959 öffentlich seine „Bekehrung“ bekanntgegeben, sich zum Glauben bekannt und war in die Kirche zurückgekehrt.

 

Das ermöglichte es ihm in seinen späteren Studien, nicht beim Mechanismus der Gewalt zu verweilen, sondern auch den Weg zu zeigen, wie man aus ihr herauskommt. In seiner Interpretation deckt Jesus den Mechanismus auf, der die Gewalt sakralisiert, und zerbricht ihn, indem er sich selbst freiwillig zum „Sündenbock“ der Menschheit macht, zum unschuldigen Opfer aller Gewalt. Christus, so steht es schon im Hebräerbrief (vgl. Hebr 9, 11-14), ist nicht mit dem Blut anderer gekommen, sondern mit seinem eigenen. Er hat keine Opfer gefordert, sondern sich selbst zum Opfer gemacht. Er hat nicht seine eigenen Sünden auf die Schultern anderer gelegt – ob es nun Menschen oder Tiere sind – sondern er hat die Sünden anderer auf seine eigenen Schultern genommen: „Er hat unsere Sünden mit seinem Leib auf das Holz des Kreuzes getragen“ (1 Petr 2,24).

 

Kann man also weiterhin vom „Opfer“ des Kreuzes und folglich von der heiligen Messe als Opfer sprechen? Lange Zeit lehnte der zitierte Gelehrte diesen Begriff ab, weil er ihn zu sehr mit der Idee der Gewalt verbunden sah; doch dann hat auch er, im Einklang mit der christlichen Tradition, dessen Legitimität akzeptiert, unter der Voraussetzung, sagt er, dass wir im Opfer Christi eine neue Art von Opfer sehen und diese Bedeutungsänderung als „das zentrale Ereignis in der religiösen Geschichte der Menschheit“ betrachten [5].

 

Diese Überlegungen erlauben uns ein besseres Verständnis der Art, wie am Kreuz die Versöhnung zwischen Gott und den Menschen erfolgt ist. Üblicherweise diente das Sühneopfer dazu, einen über die Sünde erzürnten Gott zu besänftigen. Indem der Mensch ein Opfer darbringt, bittet er die Gottheit um Versöhnung und Vergebung. Im Opfer Christi ist diese Perspektive auf den Kopf gestellt. Nicht der Mensch versucht, Gott zu beeinflussen, damit er ihm nicht mehr zürnt. Gott ist es, der handelt, damit der Mensch von seiner Feindschaft gegen ihn ablässt. „Die Erlösung beginnt nicht mit der Bitte um Versöhnung seitens des Menschen, sondern mit der Bitte Gottes“ [6]. In diesem Sinn versteht man auch die Aussage des Apostels: „Gott war es, der in Christus die Welt mit sich versöhnt hat“ (2 Kor 5,19), und weiter: „Als wir noch Gottes Feinde waren, wurden wir mit Gott versöhnt durch den Tod seines Sohnes“ (vgl. Röm 5,10).

 

4. „Empfangt den Heiligen Geist!“

Der Frieden, den Christus durch seinen Kreuzestod für uns verdient hat, wird in uns wirksam und aktiv durch den Heiligen Geist. Nachdem der Auferstandene die Apostel mit den Worten „Friede sei mit euch!“ begrüßt hatte, hauchte er sie an und sprach, gewissermaßen im selben Atemzug: „Empfangt den Heiligen Geist!“ (Joh 20,22).

 

Tatsächlich kommt der Frieden zwar durch das Kreuz Christi in die Welt, aber sein Ursprung liegt woanders. Am Kreuz durchbrach Jesus die Mauer der Sünde und der Feindschaft, die den Frieden Gottes daran hinderte, in das Herz der Menschen einzudringen. Die Urquelle des Friedens jedoch ist die Dreifaltigkeit. „O selige Dreifaltigkeit, du Ozean des Friedens!“, heißt es in einer Hymne. Nach Dionysius Areopagita ist „Friede“ einer der Eigennamen Gottes[7]. Gott ist Friede, so wie er Liebe und Licht ist.

 

Fast alle polytheistischen Religionen erzählen von rivalisierenden Göttern, die permanent im Kampf gegeneinander sind. Die griechischen Mythen sind das bekannteste Beispiel dafür. Eng gesehen kann man auch in einem rigorosen Ein-Personen-Monotheismus nicht von Gott als Quelle und Vorbild des Friedens sprechen, denn der Frieden braucht, genau wie die Liebe, mindestens zwei Personen, um existieren zu können. Er besteht in guten, liebevollen Beziehungen, und die Dreifaltigkeit ist eben diese Schönheit und Vollkommenheit der Beziehungen. Was an der Dreifaltigkeitsikone von Rubljow am meisten bewegt ist eben diese übermenschliche Aura des Friedens, die sie ausstrahlt.

 

Wenn Jesus daher „Shalom!“ und „Empfangt den Heiligen Geist!“ sagt, dann vermittelt er den Jüngern etwas vom „Frieden Gottes, der alles Verstehen übersteigt“ (Phil 4,7). In diesem Sinn ist Frieden fast gleichbedeutend mit Gnade, und tatsächlich werden auch beide Begriffe zu Beginn der apostolischen Briefe zusammen verwendet: „Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus“ (Röm 1,7; 1 Thess 1,1). Wenn wir in der Messe verkünden: „Friede sei mit euch“, „Lamm Gottes, du nimmst hinweg die Sünde der Welt, gib uns deinen Frieden“ und schließlich, „Gehet hin in Frieden“, dann ist von diesem Frieden die Rede, den Gott schenkt.

 

5. „Lasst euch mit Gott versöhnen!“

Ich möchte jetzt zeigen, wie dieses Geschenk des Friedens, das wir ontologisch und rechtmäßig in der Taufe empfangen, allmählich auch auf der praktischen und psychologischen Ebene unsere Beziehung zu Gott verwandeln muss. Der besorgte Aufruf des Apostels Paulus: „Wir bitten an Christi statt: Lasst euch mit Gott versöhnen!“ (2 Kor 5,20) richtet sich an getaufte Christen, die schon lange Mitglieder einer Gemeinde sind. Er bezieht sich daher nicht auf die erste Versöhnung und auch offensichtlich nicht auf das, was wir als „Sakrament der Versöhnung“ bezeichnen. In diesem aktuellen und existenziellen Sinn ist dieser Aufruf an uns alle gerichtet. Daher wollen wir versuchen, seine Bedeutung zu verstehen.

 

Eine der Ursachen, vielleicht die Hauptursache, für die Entfremdung des modernen Menschen von der Religion und dem Glauben ist das verzerrte Bild, das er sich von Gott macht. Dieses ist zugleich auch die Ursache für ein freudloses Christentum, das ohne Begeisterung und mehr wie eine Pflicht als wie ein Geschenk gelebt wird. Ich denke daran, wie das großartige Bild des Schöpfergottes in der Sixtinischen Kapelle aussah, als ich es zum ersten Mal sah, ganz mit einer dunklen Patina überzogen, und vergleiche diese Erinnerung mit dem, was man heute sieht, nach der Restaurierung, mit den aufgefrischten Farben und klaren Umrissen, wie Michelangelo ihn gemalt hatte. Eine noch dringendere Restaurierung des Bildes, das wir von Gott dem Vater haben, muss in den Herzen der Menschen erfolgen, angefangen bei uns Gläubigen.

 

Denn: Wie schaut das vorgegebene (im Sinne der Computersprache, d.h. vordefinierte) „Standardbild“ Gottes in unserem kollektiven Unterbewussten aus? Um das herauszufinden, genügt es, sich selbst oder anderen die Frage zu stellen: Welche Vorstellung, welche Assoziationen kommen spontan in dir auf, wenn du die Worte sprichst: „Vater Unser im Himmel… Dein Wille geschehe“? Wer dieses  sagt, in der Regel senkt den Kopf, und bereitet sich auf das Schlimmste. Unbewusst assoziieren wir den Willen Gottes mit allem, was unangenehm und schmerzlich ist und auf irgendeine Art als Einschränkung der individuellen Freiheit und Entwicklung gesehen werden kann. Als ob Gott ein Feind aller Feste, Freuden und Vergnügungen wäre.

 

Noch eine vielsagende Frage. Was suggeriert uns der Ruf Kyrie eleison, „Herr, erbarme dich!“, der das christliche Gebet durchzieht und in manchen Liturgien die heilige Messe von Anfang bis Ende begleitet? Er ist zu einer bloßen Bitte um Vergebung seitens eines Geschöpfes geworden, das den Schöpfer immer (und zurecht) bereit sieht, es zu bestrafen. Das Wort „Erbarmen“ ist dermaßen herabgesetzt worden, dass es oft in einer negativen Bedeutung verwendet wird, als etwas Verachtenswertes: „erbärmlich sein“, ein „erbärmliches Schauspiel“. Um dem Geist der Bibel treu zu bleiben, müsste man Kyrie eleison mit „Herr, schicke deine Zärtlichkeit auf uns herab“ übersetzen. Man sehe nur, wie Gott in Jeremia von seinem Volk spricht: „Mein Herz schlägt für ihn, ich muss mich seiner erbarmen (eleos)“ (Jer 31,20). Wenn die Kranken, die Aussätzigen und die Blinden Jesus anrufen, wie in Matthäus 9,27: „Hab Erbarmen (eleeson) mit uns, Sohn Davids“, dann meinen sie nicht: „vergib mir“, sondern: „hab Mitleid mit mir.“

 

Wir sehen Gott in der Regel als den Allmächtigen, Allwissenden, den Herrn der Geschichte, d.h. als ein Wesen, das sich dem Menschen von außen her aufdrängt; kein noch so kleines Detail des menschlichen Lebens entgeht ihm. Die Übertretung seines Gesetzes zieht unweigerlich eine Ordnungsstörung nach sich, die eine Wiedergutmachung erfordert. Da diese jedoch niemals als hinreichend betrachtet werden kann, kommt die Furcht vor dem Tod und dem göttlichen Strafgericht auf.

 

Ich gestehe, dass ich fast eine Gänsehaut bekomme, wenn ich die Worte lese, die der große Bossuet in einer Karfreitagsrede an den gekreuzigten Jesus richtet: „Du wirfst dich, o Jesus, in die Arme des Vaters und fühlst dich zurückgewiesen; du fühlst, dass gerade er dich verfolgt, dich schlägt, dich verlässt, dich unter der unerträglichen Last seiner Rache erdrückt… Der Zorn eines rasenden Gottes: Jesus betet und der Vater in seinem Zorn hört nicht auf ihn; es ist die Gerechtigkeit eines Gottes, der Rache übt für die erduldeten Kränkungen; Jesus leidet und der Vater gibt nicht nach!“ [8]. Wenn ein Redner vom Format Bossuets so sprach, dann können wir uns denken, welchen Bildern sich die Volksprediger der damaligen Zeit hingaben. Und wir verstehen, wie jenes „Standardbild“ Gottes im Herzen der Menschen entstehen konnte.

 

Natürlich ist die Barmherzigkeit Gottes nie übersehen worden! Aber man hat sie auf die Rolle beschränkt, die unvermeidliche Härte der Gerechtigkeit etwas zu mildern. In der Praxis hat man sogar die Liebe und Vergebung Gottes von der Liebe und Vergebung abhängig gemacht, die wir unseren Mitmenschen entgegenbringen: Wenn du denen vergibst, die dich kränken, dann wird Gott dir seinerseits vergeben können. Das läuft auf einen Handel mit Gott heraus. Heißt es nicht, man müsse gute Werke sammeln, um sich den Himmel zu verdienen? Messen wir nicht unseren Bemühungen – den heiligen Messen, die wir feiern lassen, den Kerzen, die wir anzünden, den Novenen, die wir beten – einen großen Wert bei?

 

Das alles hat in der Vergangenheit unzähligen Menschen geholfen, Gott ihre Liebe zu erweisen, und darf daher nicht verspottet werden; es verdient unsere Achtung. Gott lässt seine Blumen – und seine Heiligen – in jedem Klima gedeihen. Aber man kann nicht leugnen, dass diese Auffassung die Gefahr in sich birgt, in eine utilitaristische Religion zu verfallen, in der „ich gebe, damit du gibst“. Grundlage dieser Auffassung ist die Annahme, dass die Beziehung zu Gott vom Menschen abhängt. Der Mensch kann nicht mit leeren Händen vor Gott treten; er muss ihm ein Geschenk mitbringen. Nun stimmt es zwar, dass Gott zu Mose sagt: „Man soll nicht mit leeren Händen vor mir erscheinen“ (Ex 23,15; 34,20), doch das ist der Gott des Gesetzes, noch nicht der Gott der Gnade. Im Reich der Gnade muss der Mensch gerade „mit leeren Händen“ vor Gott hintreten; das einzige, was er „in den Händen“ haben muss, wenn er vor im erscheint, ist sein Sohn Jesus Christus.

 

Doch lasst uns sehen, wie der Heilige Geist, wenn man sich ihm öffnet, diese Situation verändert. Er lehrt uns, Gott mit neuen Augen zu betrachten: als den Gott des Gesetzes, gewiss, doch an erster Stelle als den Gott der Liebe und der Gnade, den „barmherzigen und gnädigen Gott; langmütig, reich an Huld und Treue“ (Ex 34,6). Er lässt ihn uns als Freund und Verbündeten entdecken, als einen Vater der nicht verweigert hat, seinen eigenen Sohn für uns zu geben“ (genau so muss man Röm 8,32 auffassen!). Kurz, kommuniziert der Heilige Geist uns die innere Haltung Jesu zum Vater.

 

So keimt in uns jenes kindliche Gefühl auf, das sich im freudigen Ruf: „Abba, Vater!“ offenbart, als ob wir sagen würden: „Ich kannte dich nicht, oder ich kannte dich nur vom Hörensagen; jetzt kenne ich dich, jetzt weiß ich, wer du bist; ich weiß, dass du mich liebst, dass du auf meiner Seite bist.“ Der Sohn ist an die Stelle des Sklaven getreten, die Liebe an die Stelle der Furcht. So ist man wirklich mit Gott versöhnt, auch auf der subjektiven und existenziellen Ebene.

 

Wir verlassen für unsere tägliche Arbeit mit einer Frage: welche Vorstellung von Gott, der Vater ist in meinem Herzen: die der Welt, oder die von Jesus?

 

 

[1] E. R. Dodds,  Pagan and Christian in an Age of Anxiety, Cambridge Press 1965.

[2] Hl. Leo der Große, In Nativitate Domini, XXXVI,5 (PL 54, 215).

[3] N. Kabasilas, Leben in Christus, I, 5 (PG 150, 313); vgl. Anselm, Cur Deus homo?, II, 18.20; Thomas von Aquino, Summa theologiae, III, q. 46, art. 1, ad 3.

[4]  Vgl. R. Girard, La violence et le sacré, Grasset, Parigi 1972.

[5] Vgl. R. Girard, Il sacrificio, Milano 2004.

[6] G. Theissen - A. Merz, Der historische Jesus: Ein Lehrbuch, Göttingen, 4 Aufl. 2008.

[7] Pseudo-Dionysius Areopagita, Die göttlichen Namen, XI, 1 s (PG 3,  948 s).

[8] J.B. Bossuet, Œuvres complètes, IV, Paris 1836, S. 365.

 








All the contents on this site are copyrighted ©.