Psychiater: Kontemplation ist „Psychohygiene in Reinkultur“
Kontemplation ist
nach Ansicht des Wiener Neurowissenschaftlers Raphael Bonelli ein Zukunftsgebiet für
die katholische Kirche. Die betrachtende, anschauende Form des Gebets habe aus therapeutischer
Sicht enorme positive Auswirkungen auf den Menschen - als „Psychohygiene in Reinkultur“,
wie der Leiter des Wiener Instituts für Religiosität in Psychiatrie und Psychotherapie
am Montag im Interview mit Kathpress darlegte. Kontemplative Menschen zeigten oft
„beeindruckenden Tiefgang und Stabilität“, womit es ihnen besser gelinge, „Krisen
zu bewältigen, ganz in der Gegenwart zu leben und anderen Menschen intensiv zu begegnen“,
so Bonelli.
Den Menschen misslinge es heute zunehmend, Ruhe zu finden oder
sich zu konzentrieren, berichtete Bonelli aus der psychiatrischen Praxis: Oft verspürten
Patienten wegen ständiger Aktivität innere Unordnung, bei der das eigene Leben nicht
mehr nach Prioritäten geordnet werden kann. Heutige Formen der Mediennutzung verstärkten
dies: „Viele fühlen sich gedrängt, immer online und erreichbar zu sein oder ständig
E-Mails oder Facebook-Updates abzurufen“, so der Psychotherapeut. Betroffenen falle
ein Aufblicken, Rezipieren und Wahrnehmen der Realität schwer, und selbst Beziehungen
würden durch das Smartphone und die Angst, etwas zu versäumen, oft gestört.
Diesem
„Aktivismus-Modus“ genau entgegengesetzt ist laut Bonelli die Kontemplation, die er
als „Sehen, wie die Dinge wirklich sind“ bezeichnete. Nicht unbedingt sei dieser Vorgang
religiös, finde er doch auch bei Bergsteigern statt, die von ihren Erlebnisse mitunter
als „religiöse Erfahrung“ sprechen, auch ohne selbst religiös zu sein. Was hier passiere,
sei ein Aufnehmen und Bewahren von Eindrücken, Reflexion statt sofortiger Reaktion,
sowie Schweigen und Warten auf das Kommende - ein vor allem passiver Vorgang. Das
kontemplative Gebet trage dazu bei, dass statt dem „Ich“ Gott zum Referenzpunkt werde,
was eigene Probleme in neuem Licht sehen lasse. Bonelli: „Wer sich vor Gott als Geschöpf
erlebt und sich in ihm geborgen erfährt, kann die neurotische Angst ablegen, die viele
Menschen eine dicke, undurchdringliche Maske tragen lässt.“ Psychodynamisch sei die
Anbetung „stimmig“, zudem bewirke sie Veränderungen für den Blick auf die Welt und
die Beziehungen, sowie in Folge für den Umgang mit Menschen.
Alleinstellungsmerkmal
Die
Gebetsform der Anbetung, bei der Menschen vor dem Allerheiligsten zu Ruhe kommen können,
bezeichnete Bonelli als „Angebot der Zukunft“ für die katholische Kirche und Alleinstellungsmerkmal.
„Ihr 'unique selling point' ist die Eucharistie, nicht der Aktivismus. Die Kirche
steht in Gefahr, dass sie mit dem Zeitgeist mitschwimmt, der glaubt, möglichst viel
Programm in möglichst kurzer Zeit mit möglichst viel Spaß bieten zu müssen, wozu es
jedoch ohnehin ein Überangebot gibt. Aktivismus zu bieten wäre hier zwar dieselbe
Sprache, doch auch dieselbe Krankheit“, so der Neurowissenschaftler.
Um Kontemplation
im Alltag zu praktizieren, sei es laut Bonelli nötig, sich bewusst Zeit zu nehmen
und dabei konsequent zu sein, „denn sie drängt sich nicht gewaltsam auf wie etwa das
summende oder piepsende Handy“. Als Schlüssel für einen kontemplativen Lebensstil
bezeichnete der Neurowissenschaftler das Ordnen der Aufgaben und Lebensinhalte nach
Prioritäten, das in dem Satz „Tu, was du sollst, und sei ganz in dem, was du tust“
- ein Ausspruch des heiligen Josemaria Escriva - gut zusammengefasst sei.
Tagung
in Heiligenkreuz
Bonelli äußerte sich im Vorfeld zur Fachtagung „Kontemplation
& Multitasking“, die am 22. November in der Hochschule Heiligenkreuz stattfindet.
Weitere Vortragende sind u.a. die Psychotherapeutin Rotraud Perner über Arbeitssucht,
der Psychiater Samuel Pfeifer über die Wechselwirkung zwischen Medien und Psyche sowie
der St. Pöltner Diözesanbischof Klaus Küng, die Philosophin Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz
und der Prior der Johannesbrüder von Marchegg, Luc Emmerich, über das kontemplative
Gebet.