Menschen in der Zeit: Maria Gazzetti – Mittlerin deutsch-italienischer Kultur
Dr. Maria Gazzetti
wurde in der mittelitalienischen Provinzstadt Viterbo geboren. Sie studierte klassische
Philologie, Philosophie und Geschichte in Rom und setzte in Hamburg das Studium in
Romanistik und Geschichte bis zur Promotion fort. 15 Jahre leitete sie in Frankfurt
das Literaturhaus, anschließend zwei Jahre das Lyrik-Kabinett in München und seit
2013 ist sie Direktorin der „Casa di Goethe” in Rom, dem Haus in der römischen Via
del Corso, in der der Dichter und Schriftsteller Johann Wolfgang von Goethe von 1786
bis 1788 lebte und arbeitete. Maria Gazzetti ist der deutsch-italienische Kultur-Austausch
ein Herzensanliegen, Sie hat bereits in dem ersten Zeitabschnitt in Rom bewiesen,
dass sie einen intensiven und dichten Austausch über die Alpen hinweg die deutsch-italienische
Kultur außerordentlich belebt und bereichert.
Frau Dr. Gazzetti: Man sagt,
Sie würden ein Buch pro Tag lesen? Stimmt das?
„Ja, nur….seitdem ich in
Rom bin, habe ich soviel zu tun. Ich versuche am Wochenende das nachzuholen und lese
zwei Bücher pro Tag. Ich muss lesen. Lesen ist für mich ein physisches Bedürfnis.
Wenn ich zwei Tage ohne Lesen bin, werde ich unruhig .”
Sie waren lange
Zeit die Kultur-Botschafterin Italiens in Deutschland und sind jetzt die Kultur-Botschafterin
Deutschlands in Italien, in Rom. Wer weiß besser Bescheid über die Gemeinsamkeiten
aber auch Unterschiede der beiden Kulturen, als Sie? Wo liegen sie, diese Gemeinsamkeiten,
wo die Unterschiede?
„Ich denke, es gibt immer noch viele Missverständnisse
über Deutschland. Leider hat man in Italien – auch die Intellektuellen – noch nicht
richtig verfolgt, was an Entwicklung dieses Land geleistet hat. Im Bezug zum Beispiel
auch auf die Förderung der zeitgenössischen Kunst, Literatur, Kultur. In Deutschland
gibt es eine große Sehnsucht nach Kultur, Italien hat die Kultur, aber übersieht sie
manchmal.”
Sie sind eine erfahrene, mit der deutschen wie italienischen
Literatur- und Kulturszene gleichermaßen vertraute und vernetzte Wissenschaftlerin
und leiten seit nun rund zwei Jahren diese einmalige Einrichtung in Rom, mit Literaturveranstaltungen
und der Organisation vielfältiger Kunstformate. Welche würden Sie als die Schwerpunkte
in der „Casa die Goethe” bezeichnen?
„Die Schwerpunkte sind sicherlich
auf der einen Seite das Klassische. Das ist ein Museum, das an die Tradition der Italienreise
Goethes erinnert, an die deutsche Sehnsucht nach Italien. Das ist das Thema. Das finde
ich schön, dass dieses Museum sich einer Idee widmet. Das ist etwas Besonderes. Ich
möchte, dass man in Rom sagt: man geht zur “Casa die Goethe” nicht nur weil man sich
für Goethe interessiert, sondern man geht auch zur “Casa di Goethe”, um zu sehen,
wie zwei europäische Länder miteinander kommunizieren können.”
Nun hat Italien
auf dem Gebiet der Literatur, Kunst, Malerei, Architektur und Musik einen hervorragenden
Ruf. Allerdings muss man dabei – wohl auch wie in Deutschland – öfters in die Vergangenheit
zurückgreifen: Leonardo da Vinci, Raffael, Michelangelo, Verdi, Puccini, Dante Alighieri,
Manzoni, Leopardi z.B. Was bestimmt heute die Kunst in den beiden Ländern?
„Tolle,
wunderbare Frage. Wenn ich das jetzt in Kürze beantworten könnte, wäre meine Arbeit
getan. Diese Frage stellen wir uns immer wieder. Ich glaube, wir leiden alle unter
diesem Begriff der Unübersichtlichkeit. Bis vor 20 Jahren konnte man sagen, die deutsche
Literatur ist Christa Wolf und Günther Grass, Heinrich Böll, Thomas Bernhard, Ingeborg
Bachmann usw. Es gab klare Namen, die für ihre Länder gesprochen haben. Und ebenso
in Italien Moravia, Calvino. Dacia Maraini, ich nenne jetzt nur die berühmten Namen.
Das ist nicht mehr klar, weil wir immer weniger wissen, von dem Nachbarland. Leider.
Das ist für mich eine traurige Erfahrung. Man redet von Europa, aber man weiß immer
weniger was in Frankreich, in Spanien, in den Niederlanden oder Rumänien, Polen oder
Italien veröffentlicht, gesehen wird. Außer den Büchern, den Filmen, die gleichzeitig
überall gezeigt werden oder die Bücher in allen jeweiligen Buchhandlungen. Wir wissen
leider immer weniger, wir wissen vielleicht mehr über indische Autoren – das ist jetzt
kein Kritik – aber wir wissen immer weniger von dem Nachbarland und es wird immer
weniger von dem Nachbarland übersetzt und das ist schade. Also die Orientierung ist
immer schwieriger. Es bleibt immer weniger in der Rezeption hängen und deshalb hat
man immer weniger ein Bild von dem anderen Land.”
Wie und was hat
sich in der gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeit Italiens in den letzten
Jahrzehnten verändert? Welches Italienbild existiert heute in Deutschland, außer den
üblichen Klischees?
„Außer den üblichen Klischees….das ist schwierig. Sagen
wir einmal: die große Liebesgeschichte zwischen Deutschland und Italien ist in den
letzte 20 Jahren vielleicht enttäuscht worden. Deshalb gibt es ein Bild der Ratlosigkeit:
dass man sich fragt, wie kann es sein – Deutschland liebt Italien , natürlich auch
das Klischeehafte aber auch das Wahre. die Kunst, die Landschaft, das Design, die
Menschen. Und Italien? Man fragt sich im Ausland, wie ist es möglich, dass die Italiener
politisch über die vielen Regierungen über die vielen anderen Geschichten so reagieren?
Man ist sich etwas fremd geworden. Was mir auffällt ist, dass die Italiener wirklich
eine große Neigung zum klagen haben, wenig Verantwortung übernehmen. Italien war das
Land der Höflichkeit, und ich finde, dass die Sprache sehr aggressiv und grob geworden
ist. Das macht mir das Land etwas fremd, Ich bin aber sehr zuversichtlich, denn ich
sehe wirklich eine jüngere Generation, die anders geworden ist. Als ich vor 30 Jahren
weg gegangen bin, wollte kein junger Italiener ein Jahr in Paris , Barcelona oder
in Berlin sein, weil das Wetter oder der Kaffee dort schlecht ist. Die heutige Generation
ist wirklich internationaler geworden, spricht englisch und hat keine Angst den schlechten
Kaffee zu trinken. Und ich vertraue, dass diese Generation auch weniger korrupt sein
wird, denn – leider muss ich sagen – Korruption gibt es überall, aber ich glaube,
dass in Italien die Kontrolle nicht funktioniert. Und dieser grassierende Egoismus:
das ist ein großer Unterschied zu Deutschland. Deutschland hat darüber nachgedacht,
welche Verbrechen dieses Land hinter sich hat, es hat ein großes Bewusstsein entwickelt,
für das Allgemeinwohl. Wenn die Italiener das erkennen würden, würden sie sagen: das
möchten wir auch.”
Das berühmte Wortspiel: die Deutschen lieben die Italiener,
aber sie schätzen sie nicht und die Italiener schätzen die Deutschen, aber sie lieben
sie nicht: wie viel Wahrheit liegt in diesem Spruch?
„Ich dachte bis vor
kurzem, es läge viel Wahrheit in diesem Spruch. Aber vielleicht haben sich die Proportionen
geändert. Die Italiener schätzen die Deutschen etwas mehr als ich dachte, die Italiener
würden die Deutschen gerne mehr lieben, aber wenn man dann die Leute und das Land
nicht so gut kennt, kann man sie auch nicht so ganz lieben. Ich denke, die Deutschen
lieben die Italiener mehr, als die Italiener annehmen.”
Die erste große
Liebe der Deutschen gegenüber Italien – historisch gesehen – war im 18. und 19. Jahrhundert
die der Schriftsteller, Kunsthistoriker, Maler und Künstler, bestes Beispiel Goethe.
Die Objekte dieser Liebe waren nicht so sehr die Italiener, sondern die klassische
Kultur Italiens: antikes Rom, Renaissance, und Romantik. Die zweite Welle der Liebe
hat die Deutschen in der Nachkriegszeit erfasst und zeigte sich in einer fast unbegrenzten
Lust an Reisen nach Italien. Wo liegen denn heute die Schwerpunkte der gegenseitigen
Anziehungskraft füreinander? Und wo wird das auf dem Gebiet der Kunst und Literatur
offenkundig?
„Das Buch: die Italienreise von Goethe ist sehr wichtig, weil:
Goethe hat weniger die Denkmäler als die Menschen geliebt. Was Goethe über die Neapolitaner
schreibt! Goethe schaut sich auch die Menschen an. Und auch darin ist er groß. Im
Moment lautet die Faszination der Deutschen über Italien: Italien ist einfach die
Wiege der Kultur. Ich sehe aber leider – und darin liegt auch die Arbeit aller deutschen
Kultureinrichtungen in Italien – ich sehe im Moment weniger präzises, gezieltes Interesse
für eine bestimmte zeitgenössische Literatur, oder Film, oder Tanz. Es ist mehr das
Interesse für den großen, kulturellen Reichtum, das Italien in jedem kleinen Dorf
anbieten kann. Das ist überwältigend für die Deutschen und da braucht es ein ganzes
Leben und noch mehr, um ganz Italien kennen zu lernen. Es sind alle Zeiten der Geschichte
vertreten. Und dazu kommt noch, dass es nicht nur die Geschichte und die Kultur und
die vielen historischen Zeiten gibt. Dazu kommt, was Italien außerdem noch zu bieten
hat: die berühmte Lebensart. Das Leben auf der Straße, die Mode, das Wetter, die Küche.
Ich glaube, die Italiener wissen wirklich nicht, in was für einem schönen Land sie
wirklich leben. Diese Schönheit muss man schützen, sonst bröckelt alles ab.”
Ihre
große Liebe Frau Gazzetti gilt der Poesie, der Lyrik. Was unterscheidet Lyrik von
anderen Literaturarten?
„Die Lyrik ist instinktiv. Das Transzendente muss
ganz schnell, ganz instinktiv ausgedrückt werden. Und dann ist es auch ein geschlossenes
System, das mag die Lyrik schwer verständlich machen, aber ich sage immer: Die Lyrik
muss man nicht verstehen, man muss sie spüren. Und außerdem übt die Lyrik eine Sprache,
die nicht immer so leicht konsumierbar ist. Und das nenne ich auch „Rettung der Gattung
Mensch”.“
Schreiben Sie selbst auch Gedichte?
„Nein, ich habe
zuviel Respekt vor der Lyrik, nein ich schreibe keine Lyrik. Ich habe oft Lyriker
getroffen, die auch sagen: Jeder kann Lyrik schreiben, er muss damit nicht berühmt
werden. Man muss es nicht veröffentlichen, aber jeder darf selbstverständlich Lyrik
schreiben. Ich kenne auch einen Schriftsteller der sagte mir: Jeden morgen vor dem
Aufstehen, muss er ein Gedicht lesen.”
Ihr Lieblingsgedicht, Frau Gazzetti?
„Ich
habe ein Gedicht, dass mich begleitet: ich kann nicht sagen, dass es das schönste
ist, aber es hat mich merkwürdigerweise immer wieder begleitet. Und an das habe ich
auch gedacht, als ich in die „Casa di Goethe” kam. Ein Gedicht von Caproni. Die ersten
Verse lauten: „Ich bin wieder da, wo ich niemals war”. „
Sie waren 15
Jahre Leiterin des Literaturhauses in Frankfurt und haben das Literaturleben dort
und in München nachhaltig geprägt und bereichert. Sie haben großartige Veranstaltungen
organisiert. Welche Kulturereignisse stehen in der „Casa di Goethe” in Rom demnächst
vor der Tür?
„Wir werden eine Ausstellung über Thomas Mann „Mario und der
Zauberer” machen, dann stellen wir eine zeitgenössische Fotografin vor, die ich sehr,
sehr schätze, Barbara Klemm- sie hatte eine Retrospektive gerade im Gropius-Bau in
Berlin - und sie hat Fotos gemacht anhand der Goethereise. Dann produziert die „Casa
di Goethe” eine Ausstellung über Lady Hamilton als Schönheitsbegriff des Neoklassizismus
und wir werden 2016 zusammen mit einem Professor der Hertziana und anderen Kooperationspartnern
300 Jahre „Cimitero Accatolico” hier feiern. A propos Lyrik: ich habe jetzt eine
Reihe iniziiert, „incontri romani”, wo ein deutscher und italienischer Autor sich
auf dem Podium treffen werden.”