2014-10-04 10:24:58

Der doppelte Franziskus


Die Kirche begeht an diesem Samstag das Fest des heiligen Franz von Assisi. Vor genau einem Jahr besuchte dazu Papst Franziskus - erster römischer Bischof dieses Namens in der Geschichte - das umbrische Städtchen, in dem der heilige Franz einst wirkte. Franziskus einst und jetzt, von Umbrien zum Vatikan - damit beschäftigt sich dieser Aufsatz von Stefan Kempis, erschienen im Jahrbuch 2013 von Radio Vatikan.


Warum Franziskus? Es gibt doch schon Benedikt. Von den Ordensgründern, nicht von den Päpsten ist die Rede. „Was ist die Einführung derartiger Neuerungen anderes als ein Vorwurf an das geruhsame und oberflächliche Leben derjenigen, die den alten Orden angehören, auf die sich die Kirche seit altersher gestützt hat?“, notierte 1224 ein Prämonstratenser aus der Nähe von Halle in seiner „Chronik von Lauterberg“: „Man weiß doch, zu welcher Höhe an Heiligkeit es die seligsten Augustinus und Benediktus auf Grund ihrer Lebensweise gebracht haben... Würde man ihren Weisungen die Gefolgschaft nicht verweigern, bräuchte es gewiss keine neuen Orden... Nur schwerlich kann man glauben, dass einer aus dem Orden der Minderen Brüder heiliger werden wird als Augustinus oder Benediktus!“ (Zitiert nach: Franziskus-Quellen, Hg. Dieter Berg und Leonhard Lehmann, Kevelaer 2009, S. 1550. Im Folgenden abgekürzt mit FQ.) Die Franziskaner, diese neue Bewegung der „Minderen“ und Ungewaschenen, saß damals den Benediktinern wie die Laus im Pelz.

Umso überraschender, dass sich ausgerechnet in einer Benediktiner-Höhle das vielleicht einzige zeitgenössische Porträt des heiligen Franz von Assisi findet. Julien Green hat dieses Porträt in einer Nische des „Sacro Speco“ von Subiaco in seinem „Bruder Franz“ beschrieben und psychologisch gedeutet: Lächelnd sei die eine Gesichtshälfte des Dargestellten, unbeschwert; ernst hingegen, ja düster die andere, die offenbar erst später hinzugefügt worden sei. Der doppelte Franziskus. Nicht nur ein fröhlicher „Taugenichts“ des Mittelalters also steht da vor uns, sondern auch ein Schmerzensmann. Ob der Maler damals wirklich sein Porträt noch einmal überarbeitet hat, müssen die Kunsthistoriker entscheiden, doch mich läßt Greens Interpretation des „Poverello“ nicht in Ruhe. Darf man das also, unsere Zweifel, unsere heutige Gespaltenheit in ihn hineinlesen?

Tun wir es einfach mal, die Quellen geben es ja her. Mitten im berühmten Sonnengesang zum Beispiel, dieser Riß. Gerade noch hieß es „Gelobt seist du, mein Herr, durch unsere Schwester, Mutter Erde“, und dann schwingt der Ton um: „Gelobt seist du, mein Herr, durch unsere Schwester, den leiblichen Tod; ihm kann kein Mensch lebend entrinnen. Weh jenen, die in tödlicher Sünde sterben“ (FQ, S. 41). Gleichmut hört sich anders an: Hier versucht jemand mitten im Schöpfungslied, den plötzlichen Schrecken zu bannen. „Schmerz und Freude erfüllten gleichzeitig sein Inneres“ (FQ, S. 836), bescheinigte ihm Bonaventura, und „unter Heiligen noch heiliger, unter Sündern wie einer von ihnen“ (FQ, S. 249) sei Franziskus gewesen, notierte nur zwei Jahre nach dem Tod des Heiligen oder Sünders sein erster Biograf Thomas von Celano, auch dies Hinweise auf den gespaltenen Franz.

Thomas von Celano (ein Name, aus dem Umberto Eco im „Namen der Rose“ vielleicht „Bruder Paulus von Celan“ gemacht hätte) ist unser Kronzeuge. Einmal führt er vor, wie nah ausgelassene Freude und jähe Trauer bei Franz zusammenlagen. „Zuweilen machte er es so: Wenn der Geist in seinem Innern in süßer Melodie aufwallte, gab er ihr in einem französischen Lied Ausdruck, und der Hauch des göttlichen Flüsterns, den sein Ohr heimlich empfangen hatte, brach in einen französischen Jubelgesang aus. Manchmal hob er auch, wie ich mit eigenen Augen gesehen habe, ein Holz vom Boden auf und legte es über seinen linken Arm, nahm dann einen kleinen, mit Faden bespannten Bogen in seine Rechte und führte ihn über das Holz wie über eine Geige. Dazu führte er entsprechende Bewegungen aus und sang in französischer Sprache vom Herrn. Diese ganzen Freudenszenen endeten häufig in Tränen, und der Jubelgesang löste sich in Mitleiden mit dem Leiden Christi. Dann seufzte der Heilige beständig, und sein Stöhnen nahm immer mehr zu...“ (FQ, S. 370).

Himmelhoch jauchzend – zu Tode betrübt. Armer Franziskus.

Nein, natürlich war er kein Moderner. Aber man kann ihn durch unsere moderne Brille ansehen, es funktioniert. Auch im Mittelalter war es schwer, über Bäume zu sprechen oder über Gott, einem Wolf zu predigen oder dem Menschen, der „des Menschen Wolf“ auch damals war, Gedichte zu schreiben (die des Franz gehören zu den ältesten in italienischer Volkssprache) oder Geschichte. Die Pose des Kaufmannssohns, der seinem Vater das letzte Hemd vor die Füße wirft und nackt dasteht, erinnert an James Dean oder Mickey Rourke (von dem es übrigens einen schönen Franziskus-Film gibt, gedreht in einem wie von De Chirico nachgebauten Assisi). Franziskus machte es sich nicht leicht, das verbindet ihn, oder nicht?, mit uns. „Und nachdem mir der Herr Brüder gegeben hatte, zeigte mir niemand, was ich tun sollte“ (FQ, S. 60), schrieb er in seinem Testament, und wir Heutigen hören Ironie heraus; „was mir bitter vorkam“, verwandelte er sich, oder verwandelte der Herr ihm, „in Süßigkeit der Seele und des Leibes“ (FQ, S. 59). „Und wir waren ungebildet und allen untertan“ (FQ, S. 60).

Ungebildet? Tatsächlich? Oder kokettiert da nur einer, wie kurz zuvor und ganz woanders die „ungelehrte“ (indocta) Hildegard in Bingen, mit seiner Armut im Geiste? Auch an seinem gestörten Umgang mit Buch und Bildung lässt sich die innere Doppelheit des Franziskus zeigen, liest man einmal die Quellen darauf hin. „Wer den Gipfel der Armut erreichen will“, so zitiert die „Legenda Maior“ des heiligen Bonaventura den Franziskus, „muss nicht nur auf die Klugheit dieser Welt, sondern im gewissen Sinne auch auf wissenschaftliche Kenntnisse verzichten. So soll er, auch dieses Besitzes enteignet, eintreten in die Macht des Herrn und sich nackt in die Arme des Gekreuzigten werfen“ (FQ, S. 727). Nackt und Buch, das passte für ihn offenbar nicht zusammen. Einem Bruder, der ihn um die Erlaubnis bat, ein Psalterium zu besitzen, gab er laut Thomas von Celano Asche statt des gewünschten Buches, und die nicht-bullierte Regel verbot überflüssigen Bücherbesitz (vgl. FQ, S. 72).

Einerseits. Andererseits aber brüstete sich Franziskus, er habe sich „schon so viel von der Schrift angeeignet, dass es mir zur Betrachtung und Erwägung vollauf genügt“ (FQ, S. 358), und sein „Offizium vom Leiden des Herrn“ (FQ, S. 17 ff.) besteht dreizehn Seiten lang aus nichts anderem als aufeinandergehäuften Bibelzitaten. „Es gefällt mir, dass du den Brüdern die heilige Theologie vorträgst“, schrieb er dem Bruder Antonius von Padua, einem wortgewaltigen Prediger, „wenn du nur nicht durch dieses Studium den Geist des Gebetes und der Hingabe auslöschst“ (FQ, S. 108). Forscher hielten diesen Brief lange für eine Fälschung, weil der oberste Mindere hier gar nicht so wissenschaftskritisch auftrat wie sonst. Jedenfalls kann einen schon die schiere Menge von Schriften, die aus der Feder des heiligen Franz stammen, und die Vielfalt ihrer literarischen Gattungen (Gebete, Lieder, Regeln, Briefe, Testamente) stutzig machen: 131 Seiten in den „Franziskus-Quellen“. Nicht schlecht für einen, der neben dem Evangelium nichts Schriftliches dulden wollte.

Franziskus, der Widersprüchliche. Wer heute die Quellen des 13. Jahrhunderts zur Hand nimmt, der entdeckt in ihnen einen überraschenden Menschen. Auch in seiner letzten Stunde sehen wir ihn nackt. „Wenn ihr seht, dass es mit mir zu Ende geht“ – das sind nach Thomas von Celano seine letzten Worte – „so legt mich nackt auf den Boden und lasst mich, wenn ich verschieden bin, so lange liegen, wie man braucht, um gemächlich eine Meile weit gehen zu können“ (FQ, S. 417). In dieser gemächlichen Meile glaube ich noch einmal den ganz eigenen, originellen Ton des Franziskus zu hören.

„4. Oktober 2013: Franziskus kehrt zurück.“ Das behaupteten Plakate, als Franziskus, jetzt meine ich den Papst, im ersten Amtsherbst Assisi besuchte. Als hätte San Francesco seine Brüder nicht immer wieder beschworen, sich bloß nicht zu sehr mit dem Stuhl von Rom einzulassen (O-Ton im Testament: „Ich befehle streng im Gehorsam allen Brüdern, wo sie auch sind, ja nicht zu wagen, irgendeinen Brief bei der römischen Kurie zu erbitten“, FQ, S. 61). Aber dass es Franziskus, den Rebellen und Doppelten, jetzt auch in Papstform gibt, ist eigentlich nur ein weiterer von vielen Widersprüchen – die ihn, gnadenlos und voll der Gnade, hinüberziehen in die Moderne.

Am Franz-Porträt wird, wie damals im „Sacro Speco“, immer weitergemalt.

(rv 04.10.2014 sk)







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