Pater Jorge Mario
Bergoglio, verstrickt in Machenschaften der argentinischen Militärdiktatur: das war
ein Vorwurf, der auftauchte, kaum als das „Habemus Papam“ vom 13. März 2013 verklungen
war. Was ist dran an diesen Beschuldigungen? Der italienische Journalist Nello Scavo
hat die Vorgänge gründlich untersucht und mit „Bergoglios Liste“ ein Buch vorgelegt,
in dem er zu dem Schluss kam: Der damalige Provinzobere der Jesuiten schwieg zu den
Verbrechen der Militärjunta, aber er rettete mindestens 100 Verfolgten das Leben und
riskierte dabei sein eigenes. Nello Scavos Buch ist nun auf Deutsch erschienen.
„Ich
habe eher aus journalistischem Instinkt damit begonnen, das Thema zu vertiefen, sofort,
noch in der Nacht der Wahl. Und ich bin bald zu dem Schluss gelangt, dass man einigen
Anschuldigungen unbedingt nachgehen sollte, andere hingegen waren eher schwach.“
Scavo
veröffentlichte seine ersten Recherchen in „Avvenire“, der Zeitung der italienischen
Bischofskonferenz. Als Reaktion tauchten die ersten Stimmen von Leuten auf, die behaupteten,
vom damaligen Jesuitenprovinzial Bergoglio beschützt oder gar gerettet worden zu sein,
erzählt der Journalist. Er trug diese Stimmen zusammen, reiste nach Argentinien, befragte
Zeitzeugen, spürte andere Opfer mit ähnlichen Rettungsbiografien auf.
„Und
so ist diese „Liste Bergoglios“ entstanden. Sie entkräftet die Verleumdung, er sei
involviert gewesen in der Epoche der Diktatur. Stattdessen öffnet sie die Perspektive
auf ein Stück persönlicher Geschichte Bergoglios, aber auch der Kirche jener Zeit,
die wirklich außerordentlich ist und es verdient, erzählt zu werden.“
Der
Jesuit und das Militär
Die argentinische Militärdiktatur dauerte von
1976 bis 1983. Als sie begann, war Jorge Mario Bergoglio seit einigen Jahren Provinzial,
also Leiter der argentinischen Ordensprovinz der Jesuiten. Das bliebt er bis 1979,
danach übernahm er andere Aufgaben im Orden, reiste etwa auch zum Studium nach Deutschland.
Zugleich bliebt er sehr präsent in Argentinien und galt gar, wie Nello Scavo sagt,
„als eine Art Schattenrektor der Jesuitenuniversität“. Die Universität war zu dem
Zeitpunkt Laien anvertraut worden.
„In dieser Zeit riskierte Bergoglio
viel, sowohl für sein Leben als auch für seinen Ruf, um Menschen in Sicherheit zu
bringen, die verschiedenen politischen, kulturellen, sozialen, religiösen Lagern angehörten
– Gläubige und Nichtglaubende. Er hat die Leute nie nach einem Strafregister gefragt
oder nach einem Taufschein, wenn ihn jemand um Hilfe bat. Er hat sich mit großer Vorsicht
bewegt und mit List. Und es ist ihm fast immer gelungen, in diesen Aktivitäten Erfolg
zu haben, die jedenfalls im Untergrund abliefen.“
Ein Fall, der zunächst
gegen Bergoglio zu sprechen schien, war in den Monaten nach der Papstwahl breit in
der Öffentlichkeit diskutiert worden. Der während der Militärdiktatur gefolterte Jesuit
Franz Jalics hatte Bergoglio zunächst beschuldigt, für seine damalige Verhaftung mitverantwortlich
gewesen zu sein. Später zog Jalics die Behauptung zurück und entlastete den heutigen
Papst. Er sei selbst getäuscht worden und Fehlinformationen aufgesessen. Der Fall
Jalics wird in „Bergoglios Liste“ nachgezeichnet. Andere Fälle zu rekonstruieren,
war nach Scavos Angaben „sehr schwer“.
„Ich hatte keine Hilfe, weder von
Bergoglio selbst noch von seinem engen Umfeld, von seinen Freunden, die diese Episoden
kannten. Das hat mich anfangs so misstrauisch gemacht, dass ich dachte, nun, an den
Vorwürfen wird schon was dran sein. Aber ich habe keine Bestätigung gefunden – weil
es einfach keine Beweise für eine Verstrickung Bergoglios gibt. Aber ich habe eine
Antwort auf dieses merkwürdige Schweigen rund um den Papst gefunden, und das ist der
Willen Pater Bergoglios, nicht sozusagen als großer Held dazustehen. Die Taten sind
ein Gut, das geschenkt wird, ohne einen Kassenbeleg auszustellen. Und damals war das
Stillschweigen auch nötig, weil ein Teil der argentinischen Kirche und des Bischofskollegiums
stark belastet von der Diktatur war, und wenn jemand inhaftiert und gefoltert worden
wäre, hätte er die schützenden Aktivitäten von Pater Bergoglio preisgeben können.“
Bergoglios Schweigen
Bis heute würden Bergoglios
Freunde das Schweigen respektieren, das dieser selbst sich auferlegt habe.
„Einige
von ihnen waren da sehr klar mit mir und sagten mir, die Geschichten, die ich da zu
hören bekam, seien wahr, aber dass ich sie mir selber suchen müsse. Und so kam es
auch. Heute noch, wenn meine Recherche von vielen internationalen Medien aufgegriffen
wird, auch von Ländern, die in ihrem Interesse unverdächtig sind – ich denke an Südostasien
– bevorzugen diese Leute, weiter zu schweigen. Ich denke an den berühmten Pater Pepe,
einen Priester aus Buenos Aires, den Bergoglio in jüngeren Jahren vor einem Drogenkartell
schützte. Pater Pepe erfuhr vor einigen Jahren von Bergoglios Aktivitäten während
der Militärdiktatur, etwa von seinem Schutz für drei Seminaristen, die heute Pfarrer
in Argentinien sind und die ihm vom heutigen Märtyrerbischof anvertraut wurden, Enrique
Angelelli, der in einem fingierten Verkehrsunfall ermordet wurde. Als Pepe von diesem
Fall erfuhr, bat er Erzbischof Bergoglio, sich gegen die Anschuldigungen zu verteidigen,
weil es ein klarer Beweis dafür war, dass er im Gegenteil in Hilfsaktivitäten verwickelt
war. Aber er zog es vor, das nicht zu tun.“
Scavo hat auch eine Begründung
dafür, warum der damalige Erzbischof von Buones Aires und heutige Papst sich so verhielt
– und immer noch verhält. Bei seinen Recherchen in Argentinien gewann der Buchautor
den Eindruck, dass die Wunden des Landes, die von der Militärdiktatur herrühren, noch
lange nicht verheilt sind.
„Wir sprechen von einem Land, in dem 30.000
Leute einfach „verschwanden“, die desaparecidos. Es gibt Familien, die kein Grab haben,
um einen Angehörigen zu betrauern, der gefangen und gefoltert und am Ende ins Meer
oder in ein immer noch unentdecktes Massengrab geworfen wurde. Von mindestens 15.000
Todesopfern fehlt bis heute jede Spur. Hinzu kommt die sogenannte verlorene Generation
– mindestens 500 Kinder, die im Gefängnis geboren wurden, die Mütter wurden ermordet,
die Kinder kamen zu regimetreuen Adoptiveltern. Erst 150 von ihnen haben ihre Identität
herausgefunden, aber es gibt Hunderte Großeltern, die von den Schwangerschaften der
Töchter wussten und immer noch ihre Enkel suchen. Und mindestens zwei Millionen Flüchtlinge,
Vertriebene. Das ist eine lebendige Wunde. Und da halte ich es für möglich, dass Bergoglio
sein Wirken als etwas Nachrangiges ansieht, angesichts des Schmerzes eines ganzen
Landes.“
Wie viele Menschen Pater Bergoglio vor Verfolgung und Ermordung
gerettet hat, ist schwer zu sagen, räumt Scavo ein. Viele Zeugen hätten gebeten, nicht
namentlich genannt zu werden; diese habe er in sein Buch gar nicht erst aufgenommen.
„Von den rund 20 Zeugenaussagen in „Bergoglios Liste“ sagt jeder, Augenzeuge
von mindestens 20 anderen Geretteten zu sein. Das würde heißen, rund 400. Ich bin
vorsichtig und sage: mindestens 100. Denn einige dieser Aussagen beziehen sich auf
dieselben Menschen, andere sind nur vom Hörensagen kolportiert. Dazu addiere ich aber
eine Einschätzung von einem der Geretteten, einem gewissen Sergio Gobulin, der mit
seiner Frau in Italien lebt. Er wurde drei Wochen lang gefoltert. Bergoglio schaffte
es, ihn freizubekommen, er schleuste ihn geheim zur Behandlung in ein Krankenhaus
von Buenos Aires ein und half ihm dann, nach Italien zu flüchten. Sergio sagte, Bergoglio
half viele Verhaftungen junger Leute zu vermeiden. So war es möglich, den Folterknechten
dutzende Namen quasi vorzuenthalten. Wären diese Leute nämlich in den Folterzentren
verschwunden, so hätten sie irgendwann unter Folter die Namen anderer Geretteter verraten.
Das heißt, indem Bergoglio mehreren Leuten zur Flucht ins Ausland verhalf, bewahrte
er ihre Bekannten, Aktivisten, Oppositionelle, vor der Festnahme in Konzentrationslagern
der Militär-Junta. Und da sprechen wir von hohen Zahlen.“
Oppositionelle
ins Ausland geschmuggelt
Wie agierte Bergoglio? Wie schleuste er die
Menschen aus dem Land? War er vorsichtig oder tollkühn? Scavo wiederholt mit den Zeugen:
Bergoglio hat sein Leben und seinen Ruf riskiert. Darum hätte er sich aber selbst
nicht gesorgt.
„Nicht, dass er besonders draufgängerisch agiert hätte,
auch wenn einige Zeugen, die ich interviewt habe, ihn so charakterisiert haben. So
sagte mir einer: „Bergoglio kam mir schonungslos vor. Er erklärte mir meinen Fluchtplan,
ich solle das Land durchqueren und an einem bestimmten Punkt klandestin über die Grenze
nach Brasilien gehen, Sao Paolo erreichen, in das Jesuiten-Schutznetz der Diözese
Sao Paolo eintreten und über die Patres dort geheim Europa erreichen – da mir kam
dieser Pater Bergoglio verrückt vor. In Wirklichkeit hat aber Bergoglio seine Pläne
immer sehr sorgfältig ausgearbeitet.“
Höchst riskant für Pater Bergoglio
selbst war etwa auch die Taktik, Leute im Kofferraum seines Wagens zu verstecken,
um sie an andere Orte zu begleiten.
„Er brachte sie ins Jesuitenkolleg
Maximo de San Miguel bei Buenos Aires, wo er sie als Schüler tarnte oder Interessenten
für den Priesterberuf. Ähnlich der Fall von Alicia Oliveira, Ex-Richterin und unter
Verfolgung. Auch sie wurde von Bergoglio im Kofferraum des Wagens versteckt. Hätten
sie ihn aufgehalten und die junge Frau gefunden, wäre das nicht nur für die beiden
extrem gefährlich gewesen, sondern die Machthaber hätten es zweifellos auch auf einer
anderen Ebene ausgeschlachtet – der junge Priester und die junge Richterin, die er
im Kofferraum versteckt hielt.“
Nello Scavos Buch enthält nicht nur Zeugenberichte,
sondern auch Dokumente. Eines davon ist die Abschrift eines Verhöres, das noch nicht
sehr alt ist: Der damalige Kardinal Bergoglio sagte 2010 vor dem Tribunal von Buenos
Aires aus.
„Es sind drei Stunden und 50 Minuten Fragen und Antworten. Bergoglio
wurde als Zeuge befragt, aber man behandelte ihn, als sei er ein Angeklagter. Das
klare Ziel dieser Vernehmung war es, die Aussage von Bergoglio als Verhör eines Schuldigen
zu gestalten. Bergoglio geht aber gestärkt daraus hervor. Und er beginnt seine geheime
Hilfstätigkeit zu enthüllen, über die ich in meinem Buch schreibe. Dann gibt es etwa
noch ein Dokument von Amnesty International, das nach der letzten Papstwahl entstand
als Reaktion auf die vielen Journalistenanfragen, wie es sich denn verhalten habe
mit Bergoglio und der Diktatur. Es ist ein internes Dokument. Der Kern: Wir haben
in unseren Archiven und Datenbanken nachgeforscht, wir haben bei unseren Fachleuten
nachgehakt – gegen Bergoglio liegt nichts vor. Er wird nirgends erwähnt. Daraus folgt:
Wenn es irgendetwas gegeben hätte unter den Abermillionen Dokumenten, die die argentinische
Militärdiktatur betreffen, dann hätte es Amnesty erfahren. Das ist ja auch keine Organisation,
die dem Vatikan besonders wohlgesonnen wäre. Die interne Recherche der größten Menschenrechtsorganisation
der Welt über Bergoglios Involvierung zur Militärjunta blieb ergebnislos.“
Auf
Italienisch erschien „Bergoglios Liste“ vor einem Jahr. Die Reaktionen, die der katholische
Journalist erhielt, waren zahlreich und aussagekräftig. Dutzende Rückmeldungen erreichten
ihn, aus allen Kontinenten, über Menschen, die ebenfalls von Bergoglio gerettet worden
sein sollen.
„Ich wollte keine Charakterstudie Bergoglios machen und auch
kein Buch über einen Heiligen schreiben. Ich bin nach Argentinien gefahren, um Geschichten
zu finden und diese Aspekte zu vertiefen. Hätte ich etwas gefunden, das ihn belastet
– und ich gestehe, dass ich das versucht habe – dann hätte mich als katholischer Journalist
das sehr belastet, ich wäre aber belohnt worden durch den Erfolg einen internationalen
Bestsellers. Das ist es aber nicht. Ich fahre fort mit der Recherche, mit den Mitteln,
die ich habe. Vielleicht wird eine Fortsetzung daraus, das Material gäbe es, die Mauer
des Schweigens ist endlich durchbrochen. Jetzt zählen wir darauf, Neuigkeiten auch
aus jüngeren Jahren zu haben, auch weil Bergoglio sein Werk ja auch als Erzbischof
von Buenos Aires fortgesetzt hat, indem er Studierende aus anderen lateinamerikanischen
Ländern vor den Diktaturen dort schützte und ihnen half.“
„Bergoglios Liste“
von Nello Scavo ist soeben in deutscher Übersetzung im Verlag Herder erschienen.