Papst im Interview: „Nichts habe ich allein getan“
Der Bischof von Rom kennt Rom nicht. Das hat Papst Franziskus in einem Interview mit
der römischen Tageszeitung „Il Messaggero“ eingeräumt, das an diesem Sonntag – zum
römischen Patronatsfest Peter und Paul – veröffentlicht wurde. Die Sixtinische Kapelle
von innen habe er zum ersten Mal beim Konklave von 2005 gesehen, in den Vatikanischen
Museen sei er noch nie gewesen, sagte Franziskus in dem Interview. Als Kardinal sei
er nicht oft nach Rom gekommen. Er kannte Santa Maria Maggiore – „denn dorthin bin
ich immer gegangen“ – und die Piazza Navona, weil er bei seinen Aufenthalten stets
im Priesterhaus um die Ecke gewohnt habe, in der Via della Scrofa. Nun langsam beginne
er sich „als Römer“ zu fühlen, sagte der Papst in dem Interview, das wir hier auszugsweise
in Übersetzung wiedergeben.
„Ich möchte das Territorium sehen, die Pfarreien.
… Es ist eine wunderschöne Stadt, einzigartig, mit den Problemen aller Großstädte.
Eine Metropole umfasst sieben, acht Fantasie-Städte, die sich auf mehreren Ebenen
überlagern, auch kulturellen Ebenen. Ich denke zum Beispiel an die urbanen Volksstämme
der Jugendlichen.“
Vor 40 Jahren hat das Vikariat Rom einen Kongress über
die „Übel Roms“ abgehalten. Welche sind heute die Übel dieser Stadt?
„Ich
weiß nichts über diesen Kongress. Damals war ich 38 Jahre alt. Ich bin der erste Papst,
der nicht am Konzil teilgenommen hat, und der erste, der nach dem Konzil Theologie
studiert hat. Zu jener Zeit war unser großes Licht Paul VI. Für mich bleibt [sein
Apostolisches Schreiben] „Evangelii Nuntiandi“ ein unübertroffenes Dokument der Seelsorge.“
Gibt
es eine Rangordnung der Werte, die es in der Politik zu respektieren gilt?
„Sicher:
Immer das Gemeinwohl zu schützen. Das ist die Berufung eines jeden Politikers. Ein
breiter Begriff, der zum Beispiel den Schutz des menschlichen Lebens einschließt,
seiner Würde. Paul VI. sagte immer, die Auftrag der Politik sei eine der höchsten
Formen der Nächstenliebe. Heute ist das Problem der Politik, ich spreche da nicht
nur von Italien, dass sie sich entwertet hat und von Korruption zerfressen ist.“
Sie
haben gesagt, Korruption trüge den Gestank der Verwesung. … Spricht man so viel von
Korruption, weil die Medien dauernd darüber berichten, oder handelt es sich wirklich
um eine Seuche?
„Leider ist es ein weltweites Phänomen. Es gibt Staatschefs,
die deshalb in Haft sind. Ich habe viel darüber nachgedacht und bin zu dem Schluss
gekommen, dass viele Übel während eines Epochenwandels besonders wachsen. Wir erleben
gerade nicht so sehr eine Epoche der Änderungen als einen Epochenwandel. Und das ist
ein Kulturwandel; gerade in einer solchen Phase tauchen diese Phänomene auf. Der Epochenwandel
nährt den moralischen Verfall, nicht nur in der Politik, sondern auch in der Finanzwelt
und im Sozialen.“
Auch die Christen tun sich anscheinend nicht durch ihr
Zeugnis hervor…
„Es ist das Ambiente, das Korruption erleichtert. Ich sage
nicht, dass alle bestechlich sind, aber ich denke, es ist schwierig, in der Politik
ehrlich zu bleiben. …Nicht, dass das die Natur der Politik wäre, sondern weil in einem
Epochenwandel die Anstöße zu einem moralischen Abdriften stärker werden.“
Auf
den Ausfallstraßen Roms sieht man 14-jährige Mädchen, die gezwungen sind, sich zu
prostituieren, und in der U-Bahn bettelnde Kinder. Ist die Kirche noch Sauerteig?
Fühlen Sie sich als Bischof ohnmächtig gegenüber dieser moralischen Verwahrlosung?
„Ich
empfinde Schmerz. Ich empfinde enormen Schmerz. Die Ausbeutung von Kindern lässt mich
leiden. In Argentinien ist es dasselbe. … Einmal wurde mir gesagt, dass auf einer
Straße von Buenos Aires zwölfjährige Mädchen sich prostituierten. Ich informierte
mich, es stimmte. Mir hat das weh getan. Und noch mehr, als ich gesehen habe, dass
da dicke Autos anhielten, gelenkt von alten Männern. Das hätten ihre Großväter sein
können. Sie ließen das Kind einsteigen und zahlten 15 Pesos, mit denen nachher Drogenabfälle
angeschafft wurden. Für mich sind das Pädophile, die den Kindern so etwas antun. Das
geschieht auch in Rom. Die Ewige Stadt, die ein Leuchtturm in der Welt sein sollte,
ist ein Spiegel des moralischen Verfalls der Gesellschaft. Ich denke, solche Probleme
lassen sich nur mit einer guten Sozialpolitik meistern.“
Was kann die
Politik tun?
„Entschlossen reagieren. Zum Beispiel mit Sozialdiensten, die
Familien betreuen und ihnen helfen, Auswege aus schweren Lebenslagen zu finden. Das
Phänomen zeigt ein Defizit des Sozialdienstes in der Gesellschaft auf.“
In
Rom gibt es immer mehr Jugendliche, die nicht in die Kirche gehen, die Kinder nicht
taufen, nicht einmal das Kreuzzeichen machen können. Was ist zu tun, um diesen Trend
umzukehren?
„Die Kirche muss hinausgehen auf die Straße, die Leute suchen,
in die Häuser kommen, die Familien besuchen, an die Ränder gehen. Keine Kirche sein,
die bloß empfängt, sondern eine, die schenkt.“
Sorgen Sie sich wegen der
niedrigen Geburtenrate in Italien?
„Ich glaube, man muss mehr für das Gemeinwohl
der Kindheit tun. Eine Familie zu gründen ist anspruchsvoll. Manchmal reicht das Gehalt
nicht bis zum Ende des Monats. Man hat Angst, die Arbeit zu verlieren oder die Miete
nicht mehr bezahlen zu können. Die Sozialpolitik hilft nicht. … Es ist, als ob Europa
der Rolle als Mutter überdrüssig geworden wäre und statt dessen lieber Großmutter
ist. Vieles hängt mit der Wirtschaftskrise zusammen – es ist nicht nur die kulturelle
Tendenz des Egoismus und der Genusssucht. Jüngst habe ich eine Statistik gelesen über
die größten Aufwendungen der Bevölkerung, auf Weltebene. Nach den drei grundlegenden
Dingen wie Nahrung und Kleidung kommen Kosmetik und Ausgaben für Haustiere.“
Zählen
Haustiere mehr als Kinder?
„Das ist eine weitere Erscheinung kulturellen
Verfalls. Dazu kommt es, weil die Zuneigung zu einem Haustier leichter ist, leichter
programmierbar. Ein Kind zu haben ist komplex.“
Spricht das Evangelium
eher zu den Armen oder zu den Reichen, damit sie sich bekehren?
„Das Evangelium
richtet sich an Arme und Reiche gleichermaßen. Es verurteilt nicht die Reichen, sondern
höchstens die Reichtümer, wenn sie zu götzenhaften Objekten werden. Der Gott Geld,
das goldene Kalb.“
Sie gelten als kommunistischer und populistischer Papst.
Die Zeitschrift „Economist“ hat Ihnen eine Titelseite gewidmet und festgehalten, Sie
sprechen wie Lenin. Erkennen Sie sich wieder?
„Ich sage nur, die Kommunisten
haben uns die Fahne geraubt. Die Fahne der Armen ist christlich. Die Armut ist im
Mittelpunkt des Evangeliums. Die Armen sind im Mittelpunkt des Evangeliums. Nehmen
wir Matthäus 25, die Fragen, nach denen wir gerichtet werden: ich hatte Hunger, ich
hatte Durst, ich war im Gefängnis, ich war krank, ich war nackt. Oder sehen wir auf
die Seligpreisungen – noch eine Fahne. Die Kommunisten sagen, das alles sei kommunistisch.
Ja, sicher, zweitausend Jahre später! Also könnte man ihnen sagen, wenn sie reden:
Aber ihr seid doch Christen!“ (Lacht)
Sie sprechen wenig von Frauen, höchstens
von Frauen als Müttern und Bräuten. Heutzutage leiten Frauen auch Staaten, Großkonzerne,
Heere. Welchen Platz haben in Ihrer Sicht Frauen in der Kirche?
„Die Frauen
sind das Schönste, was Gott gemacht hat. Die Kirche ist Frau. Kirche ist ein weibliches
Wort. Man kann ohne diese Weiblichkeit keine Theologie betreiben. Davon wird nicht
genug gesprochen, da haben Sie ganz recht. Ich bin einverstanden damit, dass man mehr
an der Theologie der Frau arbeiten muss. Das habe ich gesagt, und das ist auch in
Arbeit.“
Können wir uns von Ihnen historische Entscheidungen erwarten,
etwa eine Frau als Behördenleiterin am Heiligen Stuhl, es muss ja nicht die Kleruskongregation
sein…?
(Lacht) „Nun, manches Mal geraten Priester unter die Autorität ihrer
Haushälterinnen…“
Wohin geht die Kirche Bergoglios?
„Gott sei
Dank habe ich keine Kirche, ich folge Christus. Ich habe nichts gegründet. Vom Stil
her habe ich mich seit Buenos Aires nicht geändert. Naja, vielleicht ein paar kleine
Dinge, weil man das muss, aber es wäre lächerlich gewesen, mich in meinem Alter wirklich
zu ändern. Was hingegen das Programm anlangt, folge ich dem, worum die Kardinäle während
der Generalkongregationen vor dem Konklave gebeten haben. In diese Richtung gehe ich.
So ist der Rat der acht Kardinäle entstanden, ein äußerer Organismus. Er wurde angeregt
als Hilfe für die Reform der Kurie. Eine nicht leichte Sache übrigens, denn man setzt
einen Schritt, und es zeigt sich, dass dieses und jenes zu tun ist, und wo zunächst
eine Behörde ist, werden es vier. Meine Entscheidungen sind die Frucht der Versammlungen
vor dem Konklave. Nichts habe ich allein getan.“