Historiker über die „Doppelrolle der Kirche“ im Ersten Weltkrieg
28. Juni 1914, Sarajewo,
Lateinerbrücke. Menschenmassen betrachten das österreichisch-ungarische Thronfolgerpaar
Franz Ferdinand und seine Frau Sophie. Sie sind in der Hauptstadt des erst kürzlich
annektierten Landes. Plötzlich zwei Schüsse aus der Pistole des 19-jährigen serbischen
Nationalisten Gavrilo Princip. Beide werden tödlich getroffen. Der Anschlag ereignete
sich vor genau hundert Jahren. Es war eine der Schlüsselszenen, die in den darauffolgenden
Wochen zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges führten, zur „Urkatastrophe“ des vergangenen
Jahrhunderts. Anlässlich des Gedenkens an den Krieg hat Radio Vatikan mit Andreas
Holzem gesprochen. Er ist Professor für Mittlere und Neue Kirchengeschichte an der
Universität Tübingen. In dem Interview schätzt er die Rolle der Kirche in dieser schwierigen
Zeit ein.
„Es war der Tropfen auf den heißen Stein, der dann zum Auslöser
wurde. Vielleicht ist das heute für uns nicht mehr so befremdlich, wenn wir uns ansehen,
was derzeit in der Ukraine geschieht. Auch hier sind wir an Situationen herangekommen,
in denen ein weit entfernter regionaler Auslöser, sehr, sehr weite internationale
Konsequenzen hatte. Und nur weil wir die politische Diplomatie und die Friedensinstrumente
weiterentwickelt haben, in den letzten hundert Jahren, ist es nicht
zu einem entsprechenden Kriegsausbruch gekommen. Aber unter den Bedingungen von 1914
hätte die Annektierung der Krim genau die gleichen Konsequenzen haben können, wie
die Schüsse von Sarajewo.“
Und diese Konsequenzen waren tragisch. Die Kriegserklärung
an Serbien am 28. Juli 1914 zog wegen der Bündnisstrukturen innerhalb weniger Tage
alle großen Mächte Europas in einen Krieg, der vier Jahre dauern und rund 20 Millionen
Tote fordern sollte. Rund zwei Drittel aller Katholiken waren faktisch am ersten Weltkrieg
beteiligt: 124 Millionen auf Seiten der Entente, 64 Millionen auf Seiten der Mittelmächte,
das heißt auf Seiten des Deutschen Reiches und Österreich-Ungarns. Die Haltung Papst
Benedikt XV. war während der gesamten Zeit gezeichnet durch das Bemühen um Unparteilichkeit
und den Willen, zur Wiederherstellung des Friedens beizutragen. Die Rolle der Kirche
insgesamt in dieser Zeit war und ist jedoch umstritten. Sie habe sich sozusagen an
der Stelle im Römerbrief 13 im Neuen Testament orientiert, die besagt, dass Christen
Untertanen ihrer legitimen Obrigkeit seien und auch im Falle eines Krieges dieser
folgen müssten, so der Historiker.
„Alle Kirchen haben wie selbstverständlich
auch über die nationalen Grenzen hinweg, in ihren Ländern, jeweils dazu
aufgefordert, den Kriegsdienst zu leisten, so wie die jeweilige Regierung
ihn verlangt. Es gibt also nicht so etwas wie eine generell kriegskritische Haltung.
Die hat sich oft erst nach 1945 entwickeln können, weil erst da die wirklich katastrophale
Dimension des modernen technisierten Massenkrieges offenkundig geworden ist.“
Laut
Holzem hatte die Kirche im Krieg eine Doppelrolle – einerseits legitimierte sie eben
den Krieg, andererseits hatte sie eine wichtige pastorale Funktion und sorgte für
Tröstung der vielen Opfer und Hinterbliebenen, versuchte dem Leben einen Sinn zu geben.
Ein Zweig davon sei auch die Militärseelsorge gewesen. Die Katholiken mussten sich
im 19. Jahrhundert einer großen Herausforderung stellen – dem Modernismus, der Bürgerlichkeit,
der Welt der Aufklärung. In diesem Kontext sei der Krieg von vielen auch als Argumentationsmittel
genutzt worden, berichtet Holzem:
„Dann wird der Krieg sehr oft so gedeutet
als sei er so eine Art ,gottgeschickte Kulturkritik‘ an dem Bürgertum,
am Kapitalismus, am Liberalismus des 19. Jahrhunderts. Wir haben sehr viele Kriegspredigten,
in denen im Grunde behauptet wird, das Gott durch den Krieg so etwas wie ,blutige
Furchen in den Acker der Weltgeschichte‘ zieht. Und dorthinein solle für das Abendland
der christliche Samen neu gesät werden. Das sind natürlich Vorstellungen,
die nach dem Krieg ganz stark kritisiert wurden, auch von den Katholiken – weil man
gar nicht mehr in der Lage ist, dieser ungeheuren Massenschlächterei, die da stattgefunden
hatte, irgendeinen historischen Sinn zuzuerkennen.“
Gott sei also in diesem
Sinne für die Erklärung dieses Krieg missbraucht worden. Der Säkularismus der Franzosen,
ihre „feindliche“ Trennung von Kirche und Staat von 1905, sei für die deutschen Katholiken
ein Anlass gewesen, die Franzosen als eine von Gott abgefallene Nation zu betrachten,
so Holzem – als eine Nation, die mit Hilfe deutscher Waffen für ihr „Antichristentum“
gestraft werden würde. Diese Vorstellungen hätten sich im Laufe der Zeit geändert,
so der Historiker. Vor allem nach 1945 sei es zu einem intensiven theologischen Lern-
und Reflexionsprozess gekommen. Dieser habe dazu beigetragen, dass uns straftheologische
Vorstellungen wie die folgende heute vollkommen fremd seien:
„Dass der
,gute katholische Soldat‘, der sein Leben ,für die Brüder‘
und für die Verteidigung der Heimat hingibt, dass der so etwas wie eine Art stellvertretende
Blutsühne leistet – für alles, was das Vaterland oder die europäischen
Völker insgesamt in der Geschichte gefehlt haben.“
Von solchen Deutungsmustern
der Gewalt wie sie damals vorherrschten sollten wir uns heute bewusst gemeinsam verabschieden,
plädiert Holzem.