Papst-Interview: „Ich habe kein persönliches Projekt unterm Arm, sondern führe aus,
was wir Kardinäle überlegt haben“
„Das war ein guter Kerl; der tat, was er konnte, so schlecht war der nicht.“ So ähnlich
sollten die Menschen sich später einmal seiner erinnern, hofft Papst Franziskus. Die
Zeitung „La Vanguardia“ aus dem spanischen Katalonien veröffentlichte jetzt ein langes
Interview mit dem Papst, das sie am Montag in Rom mit ihm geführt hatte – einen Tag
nach den Friedensgebeten für den Nahen Osten in den Vatikanischen Gärten. In dem Gespräch
äußert sich Franziskus auch zum Stand der Reformen im Vatikan und warnt mit Blick
auf Katalonien vor Unabhängigkeitsbestrebungen, die mehr von „Abspaltung“ als von
„Emanzipation“ geprägt seien. Hier einige Auszüge aus dem Interview.
„Die
verfolgten Christen sind eine Sorge, die mir als Hirte sehr nahe geht. Ich weiß sehr
viel über Verfolgungen, kann aber aus Vorsicht nicht darüber sprechen, um niemanden
vor den Kopf zu stoßen. Aber es gibt Orte, an denen es verboten ist, eine Bibel zu
besitzen oder den Katechismus zu lehren oder ein Kreuz zu tragen.“
Die
Gewalt im Namen Gottes prägt den Nahen Osten...
„Das ist ein Widerspruch.
Gewalt im Namen Gottes passt nicht in unsere Zeit. Das ist etwas Altes. Aus historischer
Perspektive muss man einräumen, dass wir Christen sie zeitweise praktiziert haben.
Wenn ich an den Dreißigjährigen Krieg denke, dann war das Gewalt im Namen Gottes.
Heute ist das kaum vorstellbar, nicht wahr? Wir kommen manchmal aus religiösen Gründen
zu sehr ernsten, sehr schwerwiegenden Widersprüchen. Fundamentalismus, zum Beispiel.
Wir drei Religionen haben jeweils unsere fundamentalistischen Gruppen, klein im Verhältnis
zum ganzen Rest.“
Wie denken Sie über den Fundamentalismus?
„Eine
fundamentalistische Gruppe ist gewalttätig, selbst wenn sie niemanden tötet und niemanden
schlägt. Die mentale Struktur des Fundamentalismus ist Gewalt im Namen Gottes.“
Der
Hebel für Veränderungen
Manche sehen Sie als einen Revolutionär...
„Für
mich besteht die große Revolution darin, zu den Wurzeln zu gehen, sie zu erkennen
und zu schauen, was diese Wurzeln uns heute zu sagen haben. Es gibt keinen Widerspruch
zwischen revolutionär und zu den Wurzeln gehen. Vielmehr glaube ich, dass der Hebel,
um wirkliche Änderungen herbeizuführen, die Identität ist. Man kann nie einen Schritt
machen im Leben, wenn man nicht von hinten losgeht, wenn man nicht weiß, woher ich
komme, wie ich heiße, welchen kulturellen und religiösen Namen ich trage.“
Sie
haben oft das Protokoll gebrochen, um den Menschen nahe zu sein...
„Ich
weiß, dass mir mal etwas passieren kann, aber das liegt in den Händen Gottes... Seien
wir realistisch, in meinem Alter habe ich nicht mehr viel zu verlieren.“
Warum
ist es so wichtig, dass die Kirche arm und demütig ist?
„Armut und Demut
sind im Zentrum des Evangeliums, und das sage ich in theologischem, nicht soziologischem
Sinn. Man kann das Evangelium nicht verstehen ohne die Armut, aber man muss sie vom
Pauperismus unterscheiden.“
Was kann die Kirche tun, um die wachsende Ungleichheit
zwischen Reichen und Armen zu reduzieren?
„Es ist bewiesen, dass wir mit
der Nahrung, die übrigbleibt, die Hungernden ernähren könnten. Wenn Sie Fotos von
unterernährten Kindern in verschiedenen Teilen der Welt sehen, dann schlägt man die
Hände über dem Kopf zusammen, das ist nicht zu verstehen! Ich glaube, wir sind in
einem Weltwirtschaftssystem, das nicht gut ist... Wir haben das Geld in den Mittelpunkt
gestellt, den Geldgott. Wir sind in den Götzendienst des Geldes verfallen... Wir schließen
eine ganze Generation aus, um ein Wirtschaftssystem aufrecht zu erhalten, das nicht
mehr zu ertragen ist. Ein System, in das Krieg führen muss, um zu überleben... Aber
weil man keinen Dritten Weltkrieg führen kann, führt man eben regionale Kriege. Und
was bedeutet das? Dass Waffen produziert und verkauft werden, und dadurch sanieren
sich die Gleichgewichte der ... großen Weltwirtschaften.“
Die Situation
in Spanien
Sind Sie besorgt über den Konflikt zwischen Katalonien und
Spanien?
„Jede Spaltung macht mich besorgt. Es gibt Unabhängigkeit aus Emanzipation
und Unabhängigkeit aus Abspaltung. Unabhängigkeiten aus Emanzipation sind z.B. die
amerikanischen, sie emanzipierten sich von den europäischen Staaten. Unabhängigkeiten
von Völkern aus Abspaltung, das ist eine Zergliederung... Denken wir an das frühere
Jugoslawien. Natürlich gibt es Völker mit so verschiedenen Kulturen, dass man sie
nicht einmal mit Klebstoff aneinanderkleben kann. Der jugoslawische Fall ist sehr
klar, aber ich frage mich, ob es in anderen Fällen so klar ist, bei anderen Völkern,
die bis jetzt vereint gewesen sind. Man muss Fall für Fall studieren. Schottland,
Padanien, Katalonien. Es wird gerechtfertigte und nicht gerechtfertigte Fälle geben,
aber die Abspaltung einer Nation, ohne dass es vorher eine zwangsweise Einheit gab,
so etwas muss man mit der Pinzette anfassen und Fall für Fall studieren.“
Die
Friedensgebete für den Frieden in Nahost
Die Gebete für Frieden im
Vatikan waren nicht leicht zu organisieren, weil es dafür keinen Präzedenzfall gab.
Wie fühlten Sie sich dabei?
„Ich spürte, dass das etwas war, was uns alle
übersteigt. Hier im Vatikan sagten 99 Prozent, dass das nicht klappen würde, und danach
wuchs dieses eine Prozent immer mehr. Ich spürte, dass wir uns da zu einer Sache gedrängt
sahen, die wir so noch nicht kannten und die allmählich dann Gestalt annahm. Es war
überhaupt kein politischer Akt, das spürte ich von Anfang an, sondern ein religiöser
Akt: ein Fenster zur Welt hin öffnen.“
Warum haben Sie entschieden, sich
ins Auge des Taifuns zu begeben, also in den Nahen Osten?
„Das wirkliche
Auge des Taifuns war – wegen dem Enthusiasmus, den es da gab – der Weltjugendtag von
Rio im letzten Jahr! Der Beschluss, ins Heilige Land zu reisen, kam zustande, weil
Präsident Peres mich einlud. Ich wusste, dass sein Mandat in diesem Frühling auslief,
und sah mich darum gewissermaßen dazu gezwungen, vorher zu fahren. Seine Einladung
hat den Reisetermin beschleunigt. Ich hatte das eigentlich nicht so geplant.“
Sie
sagen, dass in jedem Christen ein Jude steckt...
„Es wäre wohl korrekter
zu sagen, dass man sein Christentum nicht wirklich leben kann, wenn man seine jüdische
Wurzel nicht anerkennt. Ich spreche vom Judentum im religiösen Sinn. Meiner Meinung
nach muss der interreligiöse Dialog das angehen, die jüdische Wurzel des Christentums
und die christliche Blüte aus dem Judentum heraus. Ich verstehe, dass das eine Herausforderung
ist, eine heiße Kartoffel, aber als Brüder können wir das tun.“
Wir urteilen
Sie über Antisemitismus?
„Ich wüsste nicht zu erklären, wie er zustande
kommt, aber ich glaube, er hängt im Allgemeinen sehr mit der Rechten zusammen. Der
Antisemitismus pflegt in den rechten Strömungen besser Fuß zu fassen als in den linken,
nicht wahr? Und so geht er weiter. Wir haben sogar Leute, die den Holocaust leugnen
– ein Wahnsinn!“
Eines Ihrer Vorhaben ist es, die Vatikan-Archive zum Holocaust
zu öffnen.
„Das wird viel Licht in die Sache bringen.“
Papst
Pius XII.
Macht Ihnen Sorge, was man da entdecken könnte?
„Was
mir bei diesem Thema Sorgen macht, ist die Figur von Pius XII.: Dem armen Pius XII.
haben sie wirklich alles Mögliche vorgeworfen. Aber man muss daran erinnern, dass
er früher einmal als der große Verteidiger der Juden gegolten hat, er versteckte viele
in den Klöstern Roms und anderer italienischer Städte, und auch in der Sommerresidenz
Castel Gandolfo. Dort, im Zimmer des Papstes, in seinem eigenen Bett, wurden 42 Babys
geboren, Kinder von Juden oder anderen Verfolgten, die sich dorthin geflüchtet hatten.
Ich will damit nicht sagen, dass Pius XII. keine Irrtümer begangen hätte – ich selbst
begehe auch viele –, aber man muss seine Rolle im Kontext der Epoche lesen. War es
zum Beispiel besser, dass er schwieg oder dass er nicht schwieg, damit nicht noch
mehr Juden getötet würden? Manchmal ärgert es mich auch ein bisschen, wenn ich sehe,
wie alle gegen die Kirche und Pius XII. sprechen und dabei die Großmächte ganz vergessen.
Wissen Sie, dass die Großmächte ganz genau das Eisenbahnnetz der Nazis kannten, auf
dem die Juden in die KZs gebracht wurden? Sie hatten Fotos davon! Aber sie warfen
keine Bomben auf diese Schienen. Warum? Darüber sollten wir auch mal sprechen!“
„Ich
bin kein Erleuchteter“
Sie ändern viele Dinge. Wohin führen diese Änderungen?
„Ich
bin kein Erleuchteter. Ich habe kein persönliches Projekt unterm Arm, sondern ich
führe aus, was wir Kardinäle vor dem Konklave auf den Generalkongregationen überlegt
haben, als wir jeden Tag über die Probleme der Kirche diskutierten. Da sind Überlegungen
und Empfehlungen entstanden. Eine sehr konkrete war, dass der künftige Papst ein Gremium
von auswärtigen Beratern brauchte, die nicht im Vatikan wohnen.“
Sie haben
daraufhin den Kardinalsrat gegründet...
„Das sind acht Kardinäle aus allen
Kontinenten und ein Koordinator. Sie treffen sich hier alle zwei oder drei Monate.
Anfang Juli haben wir wieder vier Tage Sitzung, und wir führen die Änderungen durch,
um die die Kardinäle uns bitten. Es ist nicht obligatorisch, dass wir das machen,
aber es wäre unvorsichtig, nicht auf die zu hören, die Ahnung haben.“
Wie
denken Sie über den Rücktritt von Benedikt XVI.?
„Papst Benedikt hat eine
sehr große Geste getan. Er hat eine Tür geöffnet, eine Institution gegründet, die
der möglichen emeritierten Päpste... Ich werde dasselbe tun wie er, nämlich den Herrn
bitten, dass er mich erleuchte, wenn der Moment kommt, und dass er mir sage, was ich
tun soll, und das wird er sicher tun.“
Ich werde Sie nicht fragen, wem
Sie bei der WM die Daumen drücken...
„Die Brasilianer haben mich gebeten,
neutral zu bleiben...“ (lacht) „und ich halte mein Wort, denn Brasilien und Argentinien
sind immer Antagonisten.“