Von klaren Fronten
kann in Syrien schon lange keine Rede mehr sein. Im an den Irak angrenzenden Ostteil
des Landes liefern sich derzeit verfeindete islamistische Rebellengruppen heftige
Gefechte. Natürlich wieder zum Leidwesen der Zivilbevölkerung: tausende Menschen sind
in Folge der Auseinandersetzungen auf der Flucht, die humanitäre Lage ist katastrophal.
Das berichtet der Apostolische Nuntius in Damaskus, Erzbischof Mario Zenari, im Interview
mit Radio Vatikan.
„Seit drei Jahren leben die Menschen in Syrien in der
Passionszeit. Es gibt jeden Tag neue Vertriebene und Flüchtlinge. Der jüngste Appell
der fünf Hilfswerke der Vereinten Nationen an die Konfliktparteien, die humanitären
Hilfen durchzulassen, ist völlig unbeachtet geblieben. Die Hilfswerke sprechen deshalb
von einer täglichen Verschlechterung der humanitären Lage.“
Doch nicht
nur die Kämpfe lassen die Hilfskonvois nicht passieren; es gibt auch bürokratische
Hürden: So verweigere die Regierung den Hilfsorganisationen oftmals die Visa, berichtete
die UNO-Nothilfe-Koordinatorin Valerie Amos in diesen Tagen. Den von Russland blockierten
Sicherheitsrat rief die Koordinatorin zum Handeln auf. Auch vor der prekären Lage
der Syrienflüchtlinge in den Nachbarländern dürfe die Internationale Gemeinschaft
nicht die Augen verschließen.
Raketenhagel in Aleppo
Auch
im Westteil Syriens lebt die Zivilbevölkerung Angst und Schrecken. In der Stadt Aleppo
ging in den letzten Tagen ein Raketenregen nieder, der mehrere Menschen tötete. Radio
Vatikan erreichte vor Ort den griechisch-melkitischen Erzbischof der Stadt, Jean-Clément
Jeanbart:
„Die humanitäre Lage ist sehr schwierig, denn die Leute leiden
unter den Schießereien ebenso wie unter den Raketen, Christen wie Muslime. In diesen
Tagen habe ich einen fünfzigjährigen Mann mit drei Kindern beerdigt. Er starb durch
einen Granatenangriff an seinem Arbeitsplatz in einem Warenlager, in einem christlichen
Viertel. Es gibt viele ähnliche Fälle. Und dann gibt es kein Wasser, keinen Strom,
wir haben so viele Schwierigkeiten. Die Menschen können nicht mehr, viele Christen
denken an Flucht. Das beunruhigt uns am meisten.”
In der einst prosperierenden
Stadt wurden nahezu alle Produktionsstätten zerstört. Damit habe Syrien ein wichtiges
wirtschaftliches Zentrum verloren, so Jeanbart:
„Sie haben alle Fabriken
zerstört, all das, was den Menschen hätte Arbeit geben und diese große Stadt lebendig
halten können. Wir haben das wirtschaftliche und industrielle Zentrum Syriens verloren.
Wir leiden, denn wir sehen diese einst blühende Stadt in einem schrecklichen, verzweifelten
Zustand. Doch wir geben die Hoffnung auf Besserung nicht auf.“
Für die
Stadt Homs haben Aufständische und syrische Regierung derweil einen Waffenstillstand
ausgehandelt. Er soll den Rebellen einen ungehinderten Abzug aus der Altstadt gewähren,
die jahrelang als Hochburg der Aufständischen galt. Im Sommer 2011 hatten dort, als
die Proteste in Syrien begannen, hunderttausende Menschen gegen das syrische Regime
demonstriert. Als Gegenleistung für den ungestörten Abzug der Rebellen verlangt dieses
nun die Freilassung von iranischen und libanesischen Geiseln, die für Baschar al-Assad
kämpften. Erzbischof Jeanbart von Aleppo hofft, dass eine ähnliche Übereinkunft auch
für Aleppo erwirkt werden kann.
Wahlen ohne Wähler?
Am
3. Juni sollen in Syrien Präsidentenwahlen stattfinden – unter widrigen Bedingungen:
Viele Städte sind umkämpft, und ein Großteil der Bevölkerung ist seit Beginn des Bürgerkrieges
ins Ausland geflohen. Außerdem soll nur in Gebieten gewählt werden, die von der syrischen
Regierung kontrolliert werden; ein Großteil der Bevölkerung kann so gar nicht an der
Abstimmung teilnehmen. Ist das Land vor diesem Hintergrund überhaupt bereit für Wahlen?
Dazu der griechisch-melkitische Erzbischof der Stadt, Jean-Clément Jeanbart:
„Man
weiß es nicht. Aleppo ist nicht bereit, aber mir scheint, dass Damaskus so weit ist.
Latakia, Hama, Homs vielleicht ja. Aber Aleppo? In dieser Lage ist das ein wenig gefährlich.
Wir werden sehen…“