2014-05-04 10:01:18

Menschen in der Zeit: Adolf Muschg, Schriftsteller, Erzähler, Philosoph


RealAudioMP3 Der Schweizer Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Adolph Muschg gehört zu den wichtigsten deutschsprachigen Erzählern der Gegenwart. Er gilt neben Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt zu den bekanntesten Autoren der Eidgenossenschaft. Er wird auch als Meister der knappen Erzählform bezeichnet. Der bei Emil Steiger promovierte Germanist und Philosoph Muschg wird im Mai diesen Jahres 80 Jahre alt.

Herr Professor Muschg, ich komme mit meinen Fragen wohl kaum in eine angemessene Nähe ihres reichen Lebenswerkes, aber das sind sie wahrscheinliche gewohnt. Schließlich waren auch Sie einmal im journalistischen Bereich tätig und wissen, dass man in 15 Minuten vieles, aber nicht alles sagen kann. Apropos Fragen, Herr Muschg, im richtigen Moment die richtigen Fragen zu stellen, das ist ohnehin eine hohe Kunst. Sie haben sich in ihrem Opus Magnum, „Der rote Ritter,” mit dieser Urfrage im Gralsgeschehens Parzivals auseinandergesetzt. Im rechten Augenblick, die richtige Frage zu stellen. Die Frage nach dem Sinn des Lebens ist ja unzählige Male gestellt worden. Es hat auch auf diese Frage unzählige Antworten gegeben. Stelle ich jetzt diese Frage an Adolf Muschg im richtigen Moment?

„Das wird sich herausstellen. Das weiß man immer erst hinterher. Ich glaube die wichtigsten Fragen erkennt man ohnehin daran, dass sie nicht zu Antworten führen, sondern zu größeren Fragen. Ich habe in Japan gelernt, dass man große Fragen eigentlich nur mit seinem Leben und nicht mit dem Mund beantworten kann. Also, die richtigste Antwort ist die falsche, wenn die der falsche Mensch gibt oder wenn er sie in einer Situation gibt, die im gewissen Sinne, im tiefsten Sinne, nicht die wahre ist. Also eigentlich sind die wortlosen Dinge, das wissen wir zwischen Menschen, sind die entscheidenden, wenn diese Resonanz des Schweigens fehlt, dann nützen alle Worte nichts und vor allem die schönen Worte nichts. Das Pech des Schriftstellers ist nur, dass er Worte machen muss. Ei n paradoxes Projekt hat mit vielen Worten nichts zu sagen, sondern sich der offenen Stelle zu nähern, die durch keine Frage berührt werden kann.“

Der Intellekt und die Phantasie sind Voraussetzungen für ein allgemein gültiges Meisterwerk des geistigen Schaffens . Herr Muschg, muss diesem existenziellen Dualismus noch eine weitere Gabe oder Begabung hinzugefügt werden?

„Wenn man sie hinzufügen könnte! Wissen Sie: Ein bisschen Gnade muss ja auch dabei sein, das kann man auch ein bisschen kleiner ausdrücken: Ein bisschen Glück. Also der Glücksfall ist das, was die Griechen ‚Kairos’ genannt haben. Das ist unentbehrlich und wie gesagt: die richtige Frage im falschen Augenblick ist auch die falsche Frage. Ich habe ein wunderbares Zitat Schillers zu diesem Problem, von dem wir reden. Das ist ein schlichter Vers, der nur durch seine Betonung wirkt. Die Frage ist: Warum kann der lebendige Geist im Geist nicht so scheinen? – und nun kommt die entscheidende Stelle – „ Spricht die Seele, spricht ach schon die Seele nicht mehr”. Nur die Betonung des Pentameters macht im Grunde, zeigt im Grunde das Paradox des Sagens.“

Mit zwei großen Autoren der Vergangenheit setzt sich der Literat, Gelehrte und Wissenschaftler Adolf Muschg immer wieder auseinander, nämlich mit Gottfried Keller und mit Johann Wolfgang von Goethe. Es heißt, wenn Sie, Herr Muschg, von dem einen oder dem anderen sprechen, sprechen Sie auch von sich selbst. Wo läuft hier der rote Faden zusammen?

Diesen Satz darf ich mir nicht zu eigen machen. Er wäre eine ungeheure Anmaßung. Natürlich besteht der Reiz und die Gnade großer Dichtung darin, dass sich der Leser wiedererkennt. Aber das trifft nicht nur auf mich zu, erstens und zweitens, er erkennt etwas von sich wieder, was ihm vorher und ohne diesen Text ohne Keller, ohne Goethe nicht bekannt gewesen wäre. Und auch da liegt es am Wie und nicht am Was. Also, das Wie ist wirklich das Entscheidende und nicht Inhalte, das was die moderne Computerkommunikation „content” nennt, das ist gewissermaßen das Entbehrlichste an der Sache. Aber wie Goethe schon gesagt hat, um ihn gleich zu zitieren: Die Form ist es eigentlich und die Form ist, sagt er, ein Geheimnis den Meisten.“

Alle große Kunst, Dichtung, Musik, Malerei hat immer auch einen transzendentalen Charakter. Künstler, wie Sie, sind Seismographen der Wahrnehmung von Tatsachen und Widersprüchen in der Welt. Meine Frage jetzt: Sind Dante, Bach, Mozart, Leonardo da Vinci, Michelangelo, Goethe, Shakespeare denkbar ohne diese Transzendenz? Und wie würde eine atheistische Entsprechung zu diesen großen Geistern und Denkern eigentlich lauten?

Ich wage den kühnen Satz, dass Sie zwischen der religiösen Dimension und dem Atheismus in der ganz großen Kunst nicht mehr unterscheiden müssen, weil der gemeinsame Fluchtpunkt, die gemeinsame Essenz das Spiel ist. Um noch einmal Schiller zu zitieren: “Der Mensch sei nur da ganz Mensch, wo er spiele.” Dieses Spiel ist etwas sehr Ernstes. Goethe hat seinen eigenen Faust am Schluss diesen einen “ sehr ernsten Scherz” genannt und ich denke auch bei Gottfried Keller – der ein explizit nicht religiöser, nicht theistischer Mensch war, der seinem Gott abgesagt hatte , weil er glaubte, er könne Gott am besten dadurch dienen, dass er sein Werk liebe, also der Schöpfung nahe sei, sich auch mit dem Tod, mit dem eigenen Ende versöhnen. Diese Abwendung vom Bösen, also vom scheinbaren Ernst in das scheinbare Spiel. Das ist für mich das Entscheidende an der Dichtung. Eine Predigt oder ein erbaulicher Text ist etwas ganz anderes. Da kann man versuchen das Geheimnis unmittelbar anzusprechen. Das muss es dann offen lassen. Und in derselben Situation dreht sich der Künstler sozusagen um und beschäftigt sich nur mit seinem Spielzeug, mit der Gewissheit, dass dieses Spielzeug von Gott ist.“

Scheinbarer Themenwechsel: Es gibt einen UNO-Konvention, die die Menschenrechte, die Menschenwürde universal schützen sollen. Doch wird dieses Recht immer wieder in eklatanter Weise gebrochen, zur Zeit zum Beispiel in Somalia, in Nigeria, in Nordkorea und so weiter. Was, Herr Muschg, ist eigentlich die Menschenwürde? Liegt der Ursprung dieses Begriffes nicht in der Religion? War es nicht Jesus Christus der die Menschenwürde kompromissloser sanktionierte, als es je vorher und nachher geschehen ist?

Ja darauf sollte ich einem Mann von Radio Vatikan nicht ketzerisch antworten müssen. Aber die ketzerische Frage, meine ich, würde lauten: Ist die Religion nicht ebenso so lange und eben so oft leider ein Hindernis für diese Menschenwürde gewesen? Das erleben wir heute in anderen monotheistischen Religionen, die uns Angst machen, aber uns auch an eine Zeit erinnert, in der unsere Kirche, die eigene Kirche, einen anderen Begriff, einen nicht jesuanischen Begriff der Menschenwürde hatte, ein autoritäres System war, die Seelen unterwarf. Übrigens im Mittelalter durchaus im Gegensatz zum damals toleranten Islam und ich gebe Ihnen Recht: der Kern des Evangeliums ist genau das, wovon wir reden und eigentlich nicht reden sollten. Aber die Feindesliebe ist eine so übermenschliche Forderung, dass wir nur an ihrer Ungeheuerlichkeit und an ihrem Paradox so zusagen den göttlichen Kern wahrnehmen müssen und auch eingestehen müssen, dass wir vor diesem Maß nie genügend nachdenken, auch die Kirche nicht. Der gegenwärtige Papst ist für mich ein wunderbares Beispiel eines Mannes an der Spitze, der weiß, dass die Spitze die Tiefe der Demut bedeutet.”

Viele ihrer Texte, Herr Muschg, handeln von der Liebe. Von der Liebe zwischen zwei Menschen. Es sind also Liebesgeschichte. Vom individuelle, also jetzt auf die Allgemeinheit übertragen, nämlich eines der Hauptgebote der Christenheit lautet ja: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Ist dieser Anspruch nicht eine Überforderung an die Menschliche Beschaffenheit?

„Der letzte Anspruch ist paradoxer Weise vielleicht die geringste Überforderung. Uns selbst lieben, das tun wir ja nur zu sehr. Die Forderung des anderen so zu lieben wie uns selbst, ist die Zumutung und dass wir dabei nicht selbstgerecht verfahren dürfen, das lehrt uns das Evangelium auch wenn Sie an das Gleichnis von der Sünderin im Hause des Pharisäers denken. Es war ja kein Gleichnis, sondern da hat Jesus den ungeheuren Satz gesagt, in der deutschen Übersetzung, die mir zugänglich ist, ihr ist viel vergeben, sie hat viel geliebt. Das ist von einer Sünderin gesagt. Und wem viel zu vergeben ist, ist Gott gewissermaßen näher, als derjenige, der sein ganzes Leben lang gewissermaßen eine Sparkasse bei Gott angelegt hat. Auch eine Sparkasse des Lebens und glaubt, sie bringe ihm dann unendliche Zinsen.“

Die Bibel ist das meistgelesene Buch der Geschichte. Auch für Goethe war die Bibel ein Buch der Poesie, die Quelle einer beeindruckenden Sprache. Welchen Stellenwert nimmt das Buch der Bücher bei Adolf Muschg ein?

„Ja, wenn ich einen Augenblick über Goethe reden darf, hat er seine Mühe mit dem Neuen Testament gehabt. Sein Feld war das Alte Testament, die gewaltigen Erzählungen der Patriarchen, bei denen er sich immer wieder erholt hat. Er wollte ja selbst schon den Josefroman schreiben, den Thomas Mann viel später dann ausgeführt hat. Er hat ja vieles an der kirchlichen Symbolik nicht vertragen, das Glockengeläut zum Beispiel oder den Skandal der Passion, den er eben als Skandal empfunden hat. Die Kreuzigung ist ja eine Todesstrafe, die im Altertum, im römischen Altertum, nur den niederen Verbrechern zugemutet war. Auch den Staatsverbrechern . Das alles hat ihn auch gestört und ich finde, ich bin meinerseits Protestant genug, um zu glauben und zu wissen, dass da Ärgernis im Zentrum des Christentums für den Glauben ganz unentbehrlich ist. Da bin ich ein Kirkgegaardianer . Also eine Kirche, deren Botschaft zu glatt im Evangelium aufgeht, der kann ich nicht ganz trauen.“

Eine letzte Frage und zwar ein Wort noch zu Europa. Ist es nicht ein Wunder, ein politisches Wunder, dass Europa in einem Bündnis von 28 Staaten zusammengefasst ist? Sie, Herr Muschg, haben die Europäische Union einmal sogar, das bis jetzt wichtigste Projekt der bisherigen Menschheitsgeschichte bezeichnet. Und dennoch spricht man heute noch vorherrschend von einer europäischen Krise. Wie muss der nächste Qualitätssprung aussehen, der die Krise überwinden, der Europa retten wird?

„Ich fürchte er ist immer aus Not geboren. Europa wäre nicht so zusammengekommen oder die EU wäre nicht zusammen gekommen ohne den Abgrund, diesen Sündenfall des 2. Weltkriegs der eigentlich nur Besiegte zurückgelassen hat. Und dieser Schock war nötig um zu erwachen. Ich möchte sagen für das Minimum einer gemeinsamen Verständigung aufzukommen. Ich wünsche es Europa nicht, was ich fürchte, ist Tatsache. Europa braucht wieder eine Krise, hoffentlich nicht dieses mörderischen Umfangs, damit es zu sich selbst kommt. Und ich unterscheide im Übrigen sehr wohl zwischen Europa und der EU. Die EU ist ein politisches Projekt, Europa ist und bleibt ein kulturelles Projekt, soweit wie die Welt, soweit die Beziehungsfähigkeit der europäischen Völker und europäischen Menschen zu Menschen anderer Kultur reicht. Petersburg ist eine europäische Stadt, wie es je eine gab. Sie wurde von Italienern und Tessinern gebaut und von Peter als Öffnung für Europa gedacht. Wir können auch Russland nicht abschreiben. Aber es wird sicher nicht Mitglied der EU sein können. Es hat eine andere geschichtliche Rolle . “

(rv 04.05.2014 ap)








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