Historiker: „Papst Pauls Heiliglandreise nicht an heutigen Maßstäben messbar“
In einem Monat reist
Papst Franziskus ins Heilige Land. So wie vor 50 Jahren Papst Paul VI. wird er drei
Tage lang – von 24. bis 26. Mai - die Stätten Jesu aufsuchen. Das Programm, das Franziskus
absolvieren wird, fällt aber anders aus als das seines Vorgängers anno 1964. Denn
in diesen 50 Jahren kam es zu erheblichen Akzentverschiebungen gerade bei Heiliglandreisen
der Päpste. Aus heutiger Sicht mutet die Visite Paul VI. in ihren einzelnen Schritten,
Bildern und Programmpunkten revolutionär und zugleich seltsam veraltet an. Der in
Potsdam lehrende Historiker Thomas Brechenmacher warnt davor, die Maßstäbe von 2014
an Papst Pauls Heiliglandreise vor 50 Jahren anzulegen. Gudrun Sailer sprach mit ihm.
„Wir sehen das heute im Jahr 2014 vor dem Hintergrund schon etablierter Papstreisen.
Papstreisen sind etwas Normales heutzutage, es ist von einem Papst verlangt, dass
er reist. Das war 1964 anders. Es ist die erste Papstreise modernen Typus. Seit 150
Jahren hatte kein Papst Italien verlassen. Das zweite Überraschende war das Ziel:
eine Reise ins Heilige Land - zu den Ursprüngen des Christentums, in diese politisch
extrem zerklüftete und auch gefährliche Gegend. Drittes Staunen: das theologische
oder kirchengeschichtliche Hauptereignis der Reise, die Begegnung mit dem Ökumenischen
Patriarchen Athenagoras, die dazu geführt hat, dass ein Jahrhunderte langes Schweigen
zwischen den Kirchen des Westens und den Orthodoxen Kirchen des Ostens beendet wurde.“
Sie sagen, von der heutigen Warte aus würde man dazu neigen, diese Reise
auch in einer Optik der Defizite zu sehen. Was fehlt denn aus unserer Sicht heute
an dieser Papstvisite vor 50 Jahren?
„Wenn man auf die Reise Johannes Paul
II. blickt oder auch auf jene von Benedikts ins Heilige Land, fallen sofort die Bilder
ins Auge das Bild: der Papst an der Klagemauer, der Papst in Yad Vashem. Die Auseinandersetzung
mit Schuld, historischer Verantwortung, der Dialog, das Zugehen, die offene Seite
gegenüber den anderen monotheistischen Religionen, speziell dem Judentum. Das war
alles 1964 zwar auch vorhanden, aber nicht in einer Art, wie wir es heute erwarten
würden. Es gab keinen Papst an der Klagemauer und keinen Papst in Yad Vashem. Zur
Holocaust-Gedenkstätte ging ein Vertreter des Papstes. Wenn wir das von heute her
sehen, denken wir, das kann doch nicht sein.“
Eine Frage der Anerkennung
Alle
Päpste, die bisher ins Heilige Land gereist sind, bis hin zu Franziskus, dessen Reise
bevorsteht, haben ihre Besuche dort als Pilgerreisen deklariert. Das kann aber natürlich
nur die halbe Wahrheit sein: Wenn Päpste reisen, ist das niemals bloß Privatsache.
Welchen politischen Rahmen hatte die Visite Paul VI. mit Blick auf Israel?
„Nahost,
zerklüftet, politisch gespalten. In Palästina die Zweistaatlichkeit; Jordanien im
Besitz der Altstadt von Jerusalem, auf der anderen Seite Israel, zwei verfeindete
Staaten. Beide Staaten verfügten nicht über diplomatische Beziehungen zum Heiligen
Stuhl. Aber auf beiden Seiten waren die Erwartungen sehr hoch bezüglich der politischen
Ergebnisse der Reise, und zwar in Bezug auf die Frage: werden wir jetzt vom Heiligen
Stuhl, vom Papst anerkannt. Das war für Israel noch wichtiger als für Jordanien. Bedeutet
die Anwesenheit des Papstes in unserem Land, dass nun der Heilige Stuhl Israel als
legitimen Staat auf dem Boden des Heiligen Landes anerkennt?“
Und wie wurde
das gelesen?
„Die führenden israelischen Politiker haben das tatsächlich
so interpretiert, allein die Anwesenheit des Papstes in unserem Land bedeutet, dass
er es de facto anerkennt, auch wenn noch keine de jure Anerkennung vorlag. Das war
eine gewagte Interpretation, denn auf der anderen Seite entstanden ja gerade Frustrationen
über diese Reise dadurch, dass Papst Paul VI. kein einziges Mal den Namen des Staates
Israel in den Mund genommen hat und dass er kein einziges Mal den Präsidenten des
Staates angesprochen hat mit „Herr Präsident“, sondern immer mit der neutralen Formulierung
„Exzellenz“; dass er also nie direkt Bezug genommen hat auf diesen Staat. Trotzdem
die Interpretation: Nein, das ist alles zweitrangig. Erstrangig ist, der Papst ist
hier, und das bedeutet, wir werden de facto anerkannt.“
Keine interreligiösen
Gespräche
Gespräche mit Vertretern des Islam und Judentums fanden vor
50 Jahren nicht statt. Stieß das nirgendwo auf Unverständnis?
„Es gab Kritik
von unterschiedlichen Gruppen. Es gab diverse Rabbiner, die argumentiert haben, der
Papst spricht gar nicht zu uns, obwohl er auch eine historische Schuld abzuarbeiten
hätte. Auf der anderen Seite gab es gerade auf der Orthodoxie Strömungen, die ganz
anders herum argumentiert haben: Wozu sollen wir denn mit dem Papst sprechen? Dazu
besteht doch gar keine Veranlassung, wir lehnen das ab. Ein orthodoxer Rabbiner hat
einen Eklat damit provoziert indem er erklärte, ich werde daran nicht teilnehmen.
Die Sache ist in unterschiedlichen Gruppen unterschiedlich gelagert, aber es gab Kritik
an dem ausbleibenden Gespräch. Doch auch hier muss man sagen, man darf nicht von unserer
Situation heute ausgehen. Wir haben einen längst etablierten christlich-jüdischen
Dialog, den es zu jener Zeit noch gar nicht gab, es fehlten die Formen, es fehlten
die Routinen. So gesehen war dieser Besuch bei allen Defiziten natürlich ein Anfang,
ein erstes Zeichen.“
Die Reise fand eineinhalb Jahre vor der Veröffentlichung
der Konzilserklärung „Nostra Aetate“ statt, das die Beziehungen zu den Religionen,
gerade auch zum Judentum, auf eine neue Basis stellte. Hatte die Reise ins Heilige
Land Auswirkungen darauf, oder war sie als Vorab-Signal für eine größere religiöse
Toleranz der Katholischen Kirche überhaupt zu verstehen?
„Die Konzilserklärung
war in Bearbeitung. Wir befinden uns im Winter 1963/1964, die zweite Sitzungsperiode
des Konzils war abgeschlossen. Der Papstwechsel hatte einige Monate vorher stattgefunden.
Durch Johannes XXIII. war diese Aufgabe angegangen worden, das Sekretariat von Kardinal
Augustin Bea, das damit beauftrag war, Entwürfe auszuarbeiten, hatte die Arbeit begonnen.
Aber auf dem Konzil selbst ist die Frage der Konzilserklärung über das Judentum noch
nicht intensiv diskutiert worden. Das hing so in der Schwebe in der zweiten Sitzungsperiode
und wurde in der dritten wieder aufgenommen. Von Seiten des neuen Papstes war das
ein klares Bekenntnis, indem er sagt, eine meiner ersten Aktionen ist, ich fahre ins
Heilige Land. Damit war klar, er ist ebenfalls dafür, dass eine Konzilserklärung über
das Judentum ausgearbeitet werden soll. Das hatte eine katalysatorische Wirkung, und
wenn man auf die Geschichte der Konzilsdeklaration sieht, sieht man, im Konzil gab
es heftige Gegenströmungen, und es ist unter anderem Paul VI. gewesen, der am Schluss
ausschlaggebend war, dass die Konzilserklärung verabschiedet wurde.“
Das
Holocaust-Gedenken: 1964 nur ein Randelement
Zum Religionspolitischen:
1964 bei der Papstreise lagen die Gräuel der Shoah erst 20 Jahre zurück. Erst auf
Anregung Israels wurde zu diesem heiklen Thema ein kurzer symbolischer Akt des Holocaustgedenkens
ins Programm genommen, wenn auch nicht ins Programm des Papstes. Wie lief das?
„Wir
kennen die israelischen Dokumente zu diesem Thema, nicht aber die vatikanischen. Wir
haben also nur die halbe Seite der Geschichte. Ausgehend von den israelischen Dokumenten
sieht es so aus, dass diese Idee von den israelischen Politikern über einen jüdischen
Generalkonsul in Mailand in Richtung Vatikan gespielt wurde. Die argumentierten, der
Papst ist nun in Israel, es wäre die Krönung, wenn er eine Holocaust-Gedenkstätte
besichtigen würde. Diese Idee wurde lanciert, das können wir nachvollziehen. Die Idee
war, der Papst selber soll das machen. Am Ende ist aber nicht der Papst gegangen,
sondern er hat den Stellvertreter Kardinal Tisserant geschickt, die Idee wurde also
im Planungsstab aufgenommen, aber sie wurde verändert. Grundsätzlich hatten aber alle
einen großen Respekt vor dem gedrängten Programm. Elf Stunden auf israelischem Boden.
Und man sagte, man respektiert das, der Papst will eine Pilgerreise machen, es ist
ein geistliches Programm, und jedes Zeichen, das er setzt, ist willkommen. Die Lösung
war dieses Zeichen: Kardinal Tisserant geht in die Gedenkstätte, nicht Yad Vashem,
das war der sogenannte Trauerkeller in der Nähe des Zionsberges, das lag auf der Veranstaltungsroute
des Papstes.“
Noch ein Element dieser Reise, das aus heutiger Sicht erstaunt:
Paul VI. hat in Israel seinen Vorgänger Pius XII. ausdrücklich für sein Vorgehen im
Holocaust verteidigte. Rolfs Hochhuths „Stellvertreter“ war 1963 erschienen, ein Theaterstück,
das höchst öffentlichkeitswirksam Pius für sein Schweigen zur Judenverfolgung geißelte.
Paul VI. Montini war zur Zeit des Kriegs ein wichtiger Mitarbeiter von Pius im Staatssekretariat
gewesen, und er fühlte die Notwendigkeit, Pius zu verteidigen. Wie haben die israelischen
Stellen darauf reagiert?
„Das war schon ein eigenartiges Ereignis: Kurz
vor dem Verlassen des Staates Israel am Abend dieses 5. Januar bei der Abschiedsrede
kommt Paul VI. auf Pius zu sprechen und verteidigt ihn gegen Hochhuth. Das ist unterschiedlich
interpretiert worden und auch noch heute rückblickend ein großer Streitpunkt bei dieser
Reise. Manche haben gesagt, das hätte er sich nicht erlauben dürfen, das sei eine
Apologie gewesen, und damit hätte er die Leiden des jüdischen Volkes relativiert.
Das sind aber die Stimmen einzelner gewesen. Im Großen und Ganzen kann man nachvollziehen
aus den israelischen Dokumenten, vor allem auch bei den Regierungspolitikern, hat
man etwas gestutzt darüber, bei genauerem Nachdenken sagte man aber auch, nun, das
ist ja der Vorwurf eines deutschen Autors gewesen, von jüdischer Seite ist diese Kritik
ja so gar nicht geäußert worden, und wenn der Papst es für so wichtig hält, dass er
es hier in Jerusalem an diesem zentralen Ort darüber spricht, dann bedeutet das doch
eigentlich, er erkennt uns an. Es ist wieder in diesem Koordinatensystem abgebucht
worden, man hat gesagt, wenn der so was Wichtiges für hier sagt, dann bedeutet das,
er nimmt uns ernst. Das bedeutet wiederum, er erkennt Israel an, und noch mehr, den
israelischen Führungsanspruch für alle Juden der Welt. Israelische Politiker haben
deutlich gesagt, einen besseren Beweis dafür konnte der Papst gar nicht liefern, dass
er eben das jüdische Volk im Staat Israel anerkennt in seiner Führungsposition für
alle Juden in aller Welt. Das kommt uns heute merkwürdig vor, weil wir dieses Denken
nicht mehr so nachvollziehen können, aber dafür gibt es klare Belege.“
„Ein
unvollkommener Anfang, aber ein Anfang“
Welche Bilanz lässt sich aus
heutiger Sicht auf die Reise Pauls VI. ins Heilige Land vor 50 Jahren ziehen?
„Hauptertrag
natürlich theologisch der Dialog mit der Orthodoxie. Das ist der wichtigste Punkt.
Wir neigen dazu, Israel in den Mittelpunkt zu stellen. Für den Dialog mit den Ostkirchen
ist das zentral gewesen und übrigens dann auch für die Fortsetzung des Konzils. Zweiter
Punkt: Es formiert sich ein neues Bild des Papsttums. Ein reisender Papst. Das macht
Paul VI. dann auch weiter, er spricht vor der UNO, reist nach Indien. Für die Beziehungen
zum Judentum ist es denke ich auch ein wichtiger Meilenstein. Einer der israelischen
Politiker hat einmal gesagt, hier hat zum ersten Mal das Oberhaupt der katholischen
Kirche auf gleicher Augenhöhe gesprochen mit Vertretern des Judentums. Eine Verständigung
auf gleicher Augenhöhe findet hier zum ersten Mal statt. Das was wir heute christlich-jüdischen
Dialog nennen, war noch vielen Rückschlägen und Verzögerungen ausgesetzt, bis es dann
zu den großen Schuldbitten Johanns Pauls II. im Jahr 2000 kam. Da sind noch einige
Jahrzehnte vergangen. Dennoch war es ein Anfang. So unvollkommen dieser Anfang war,
er war ein Anfang, der alles weitere nach sich gezogen hat, das was Johanns Paul für
den Ausbau des Dialogs geleistet hat, was auch Benedikt XVI. geleistet hat, lebt auch
und bezieht sich auch immer zurück auf diesen Anfang des Jahres 1964.“