Sie werden immer häufiger
und ausgefeilter: die blutigen Attacken der nigerianischen Terrorsekte Boko Haram.
In der nigerianischen Hauptstadt Abuja rissen am Montag zwei Explosionen an einem
belebten Busbahnhof mindestens 71 Menschen in den Tod, mindestens 124 Personen erlitten
Verletzungen. Erst am Sonntag hatte es im Nordosten des Landes einen Angriff mit 60
Opfern gegeben; mehr als 1.500 Tote insgesamt sind es seit Jahresbeginn. Auch in Nigerias
Nachbarland Kamerun schlugen mutmaßlich Islamisten jüngst zu: zwei Priester und eine
Schwester wurden dort - vermutlich on Boko Haram-Mitgliedern - entführt; bis heute
fehlt von ihnen jede Spur.
Boko Haram, was übersetzt so viel heißt wie „westliche
Erziehung ist Sünde“, kämpft seit 2009 im mehrheitlich muslimischen Norden Nigerias
für einen islamischen Staat. Dabei waren die Zielscheiben der Terrorsekte bisher vornehmlich
christliche und staatliche Einrichtungen. Die letzten Attacken von Boko Haram sprechen
aber eine neue Sprache. Das deutet im Interview mit Radio Vatikan Ignatius Kaigama,
der Erzbischof der Stadt Jos im nigerianischen Bundesstaat Plateau, an. Er fordert
die Hilfe der internationalen Gemeinschaft ein, um Boko Harams Drahtziehern nachzuspüren.
Die Angriffe der islamistischen Terrorsekte würden immer zielloser, berichtet der
Geistliche:
„Am Anfang haben wir gedacht, dass Boko Haram Christen hasst
und gegen die Kirche kämpft. Ja, sie haben schreckliche Zerstörung unter Christen
und innerhalb der Kirche angerichtet. Doch nun ist die Zerstörung ziellos; sie töten
junge Leute, Kinder, Frauen, jeden hier, es ist ein Horror. In der Passionszeit beten
wir für einen Wandel der Herzen und das Bewusstsein um die Heiligkeit des menschlichen
Lebens.“
Kaigama spricht gegenüber Radio Vatikan von „anhaltenden, mörderischen
Attacken auf unschuldige Bürger“. In der Tat starben bei dem Attentat in Abuja am
Montag einfache Arbeiter und Pendler. Nigerias Regierung scheint gegen die Gewalt
machtlos zu sein. Dabei hat sie in der letzten Zeit massiv in den Kampf gegen Boko
Haram investiert. Kaigama:
„Die Anschläge gingen trotz der angeblichen
Versuche der Regierung, sie zu beenden, weiter. Die Destruktivität und Ausgefeiltheit
(der Anschläge von Boko Haram, Anm.) nimmt im Verhältnis zu. Ich spreche hier von
der Art und Weise der Angriffe. Wir sind bestürzt, dass weiter Unschuldige sterben,
dass Boko Haram Menschen wie Tiere umbringt – ich weiß nicht, aus welchem Grund. Man
wird sagen, es geht um Religion. Aber welche zivilisierte Religion bringt Menschen
ziellos um?“
Boko Haram hat „Rückendeckung“ im Ausland
„Nigerias
Al Kaida“ – so wird die Terrorsekte auch bisweilen genannt. In Nigeria speist sich
Boko Harams Untergrundarmee nicht nur aus einheimischen Kämpfern, sondern zunehmend
auch ausländischen Kräften, die von Al Kaida im Maghreb trainiert und ausgebildet
wurden. Al Kaida ist laut verschiedenen Beobachtern in Afrika inzwischen zum mobilen
Kampfinstrument geworden, das Drahtzieher im Hintergrund einsetzen, um einzelne Staaten
durch Terror zu destabilisieren. Die Interessenlage ist dabei unübersichtlich – „verwirrend“,
wie es Kaigama auf den Punkt bringt – auch in Nigeria. Steckt hinter Boko Harams Blutspur
dort ein politischer Plan? Kaigama schließt das nicht aus:
„Ich stelle
immer wieder die Frage, warum unsere Sicherheitskräfte, in die die Regierung ja so
viel investiert hat, keine Ergebnisse bringen, will heißen, die zerstörerischen Taten
Boko Harams verhindern. Das bedeutet, dass Boko Haram irgendeine Form der Rückendeckung
haben muss, entweder international oder anders.“
Diesen Zusammenhang aufzudecken
wäre nach Ansicht des Erzbischofs von Jos eine wirkliche Hilfe der internationalen
Gemeinschaft für Nigeria. Angesichts der nicht abreißenden Gewalt blickt der Westen
bisher ja eher mit Hilfslosigkeit auf das konfliktgeschüttelte Land.
„Die
Hilfe, die von der internationalen Gemeinschaft kommen kann, ist, die Spuren von Boko
Haram zu verfolgen: Wer sind die Sponsoren? Woher kommen die ausgeklügelten Waffen?
Und: handelt es sich wirklich um Boko Haram oder sind es Leute, die einen politischen
Plan verfolgen? Die in Nigeria einfallen und Chaos schaffen wollen? Wir und die internationale
Gemeinschaft sollten da die Augen offenhalten und aufdecken, wie sie kommunizieren,
Waffen ins Land bringen, ihre Rekruten trainieren – irgendjemand muss doch dafür verantwortlich
sein, und die internationale Gemeinschaft kann uns helfen, das aufzudecken!“
Die
Kirche im Land habe „das Menschenmögliche“ getan, um der kruden Gewalt einen Riegel
vorzuschieben, so Kaigama. Sie ist vor allem im nationalen Dialog engagiert. Die Bischöfe
seien inzwischen aber ein wenig „enttäuscht“ und müde, dass es im Kampf gegen Boko
Haram nicht vorangehe und auch, dass die Grabenkämpfe um ethnische und religiöse Zugehörigkeit
in Nigeria nicht abreißen, ergänzt der Geistliche – im Norden kommt es, unabhängig
von Boko Haram, immer wieder zum Gerangel zwischen ethnischen Gruppen um Land und
Ressourcen.
Nationaler Kongress zum „Virus der Korruption“
Nigerias
größte Probleme seien die prekäre Sicherheitslage im Land, die hohe Jugendarbeitslosigkeit
und der „Virus der Korruption“, der inzwischen in allen Bereichen des Staates wüte,
so Kaigama. Diese Herausforderungen stehen auf der Agenda einer Nationalkonferenz
mit fast 500 Vertretern aus Politik, Kirche und Gesellschaft, berichtet der Erzbischof
weiter. Der Kongress tritt in diesen Tagen auf Wunsch der Regierung zusammen, auch
eine sechsköpfige Delegation der Kirche sei mit dabei. Kaigama hofft, dass die Konferenz
mehr bringt als nur schöne Reden:
„Wir hoffen, dass diese Konferenz nicht
einfach nur eine Gesprächsrunde ist, sondern dass wir dort über praktische Fragen
wie etwa die Sicherheitslage und die fast täglichen Toten sprechen können. Wir beten
dafür, dass es diesen weisen Männern und Frauen gelingt, Nigeria zu vereinen und Harmonie
und Frieden in unserem Land zu schaffen.“