Ruanda 20 Jahre nach dem Genozid: Wenn Alltag wieder gelingt
Es war 7. April 1994,
vor genau 20 Jahren, als in Ruanda das Morden begann. In rund 100 Tagen metzelten
Extremisten der Hutu-Mehrheit in dem ostafrikanischen Land bis zu einer Million Menschen
nieder, die meisten davon waren Angehörige der ethnischen Minderheit der Tutsi. Anlässlich
des Gedenkens an den Massenmord hat das katholische Hilfswerk MISEREOR dazu aufgerufen,
auch die Rolle der katholischen Kirche bei dem Genozid weiter aufzuarbeiten. Über
dieses Thema hat Radio Vatikan mit Illona Auer-Frege gesprochen. Sie hat Ende der
90er Jahre für den Deutschen Entwicklungsdienst die ersten Projekte des Zivilen Friedensdienstes
in Ruanda konzipiert und ist heute Leiterin des Berliner Büros von Misereor.
„Es
gab in der Tat einige Fälle, wo Geistliche den Menschen, die sich in ihre Kirchen
geflüchtet haben, nicht ausreichend Schutz geboten haben, wo tatsächlich auch Menschen
verraten und ausgeliefert wurden. Die Mitglieder der katholischen Kirche waren dort
ein Teil der Gesellschaft - es gab sehr sehr viele Kirchenvertreter, die Schutz geboten
und Menschen versteckt haben, aber man muss sagen, dass es Einzelfälle gab, wo Kirchenmitglieder
sich nicht so verhalten haben wie eigentlich das Gebot wäre, keinen Schutz boten und
teilweise auch zu Tätern wurden.“
MISEREOR: Rolle der Kirche weiter
aufarbeiten Mit anderen Worten: Innerhalb eines allgemeinen Blutrausches
wurden auch einige Kirchenvertreter zu Mördern. Diese extremen Einzelfälle innerhalb
der Kirche seien zwar schon teilweise aufgearbeitet worden, so Auer-Frege mit Verweis
auf entsprechende Studien. Die Frage der Mitschuld der Kirche sei aber viel weiter
zu fassen und müsse auch den Hilfsorganisationen gestellt werden. MISEREOR setzt hier
auf Aufklärung und Selbstkritik.
„Welche Rolle haben die Kirchen in Ruanda
auch in der Zeit vor dem Genozid gespielt? Hätte man wachsamer sein können? Hätte
man die Anzeichen besser erkennen können? Hat die ruandische Kirche für sich, aber
haben auch wir Kirchen, die wir mit Projekten in der Region aktiv waren, genau genug
hingeschaut und uns vielleicht etwas zuschulden kommen lassen? Haben wir vielleicht
nicht sorgfältig genug mit unseren Partnern gesprochen? Wie kann es sein, dass die
Kirchen den herannahenden Genozid vielleicht nicht mit aller Nachdrücklichkeit wahrgenommen
haben? Diese Fragen müssen wir uns stellen, und die stehen auch heute noch im Raum.
Und hier ist der 20. Jahrestag des Genozids ein Moment, an dem man innehalten kann
und sich auch selbst nochmal kritisch hinterfragen kann.“
Viele Kirchenvertreter
in Ruanda stellten heute solche Fragen, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, berichtet
Auer-Frege. Über rigorose Aufklärungsarbeit habe Ruandas Kirche in den vergangenen
Jahren bei der Bevölkerung Vertrauen zurückgewinnen können.
„Die schwierigste
Zeit für die Kirche war direkt nach dem Genozid, Mitte, Ende der 90er Jahre, als sich
sehr viele Menschen von den Kirchen abwandten und die Kirchen auch hilflos waren und
sich schwer taten mit der Schuld, die Einzelne auf sich geladen hatten. Seitdem ist
die Kirche einen weiten Weg gegangen. Man hat sich mit der Kirche auseinandergesetzt,
aber man hat auch gezeigt, dass man bereit ist zu lernen und dass man heute auch ganz
anders mit diesen Fragen umgeht, offener, sensibler ist, aber auch Hilfsangebote macht.
Ich glaube, die Kirche hat durch das Angebot, was sie den Menschen machen kann, ihre
Glaubwürdigkeit in großen Teilen wieder zurückgewonnen.“
Schon Alltag
ist ein Wunder Zu diesen Hilfsangeboten der Kirche zählen heute einkommensschaffende
Maßnahmen – etwa Mikrokredite, Förderung der Landwirtschaft und Bildungsangebote,
denn viele Genozid-Opfer leben in Armut am Rande der Gesellschaft. Ebenso bieten die
Kirchen intensive psychosoziale Betreuung und Seelsorge für die Opfer des Genozids
und ihre Familien an. Die unfassbare Gewalt hat in vielen Familien Spuren über mehrere
Generationen hinterlassen. Weil Traumata bis in die nächste Generation hinein wirken
können, sei vor allem die Versöhnungsarbeit mit Jugendlichen hier wichtig, erzählt
Auer-Frege. Dass Hutus und Tutsis in Ruanda heute, nur 20 Jahre nach dem Schrecken,
so etwas wie einen gemeinsamen Alltag haben, grenze fast an ein Wunder, findet sie.
Wenn „Versöhnung“ da auch vielleicht ein allzu großes Wort sei.
„Ich habe
immer sehr großen Respekt und bin auch sehr vorsichtig, wenn ich das Wort Versöhnung
höre, denn ich denke, das ist eine Forderung, die manchmal an die Menschen herangetragen
wird, die unmenschlich ist. Ich bin immer sehr beeindruckt, wie es den Ruandern überhaupt
gelingt, miteinander zu leben, wie sie den Alltag gemeinsam bewältigen, wenn sie selber
gesehen haben, wie Nachbarn ihren Ehemann, ihre Kinder getötet haben, wenn sie selbst
nur mit sehr schweren Verletzungen überlebt haben, wenn sie gesehen haben, wie sie
große Teile ihrer Verwandtschaft verloren haben. Aber auch, wenn in ihrer Familie
ein Täter ist, wo sie gar nicht begreifen können, wie sie oder er überhaupt diese
Taten begehen konnten – dann weiß ich nicht, ob man wirklich auf tiefgehende, ehrliche
Versöhnung hoffen darf.“
Friedensarbeit darf kein Deckeln von Kritik
sein Die ruandische Regierung habe sehr großes Interesse daran, Spaltungen
zwischen den einzelnen Bevölkerungsgruppen zu überwinden, berichtet die MISEREOR-Mitarbeiterin
weiter. Friedensarbeit werde in Ruanda heute groß geschrieben. Auer-Frege ist allerdings
der Ansicht, dass die Prämisse der Versöhnung nicht dazu führen darf, dass kritische
Stimmen der Zivilgesellschaft unterdrückt werden.
„Man muss sehen, dass
in Ruanda nach dem Genozid die Regierung sehr hart durchgegriffen hat und die Versöhnungspolitik
zum Teil auch relativ rigide durchgeführt wurde und dass die politische Opposition
in Ruanda nicht wohlgelitten ist. Man ist, vielleicht auch noch unter dem Eindruck
des Genozids, sehr ängstlich darum bemüht, jede Form von politischer Spaltung zu vermeiden
und auch zu unterdrücken, so dass oppositionelle Gruppen es nicht leicht haben im
Land: Sie werden schnell als ,Spalter‘ angesehen, und man hat dann sehr schnell Angst,
dass es wieder zu den alten Zuständen kommen könnt. Die Zivilgesellschaft hat es so
nicht immer leicht, kritische Positionen einzunehmen.“
Ruanda gilt heute
als Musterland Afrikas. Doch die heutige Stabilität hat einen hohen Preis: Oppositionelle
und Regierungskritiker müssen sich strengen staatlichen Regeln unterwerfen. Auch stehen
die Medien im Land unter der Kontrolle der Regierung. Nach Verständnis von MISEREOR
und des Zivilen Friedensdienstes darf Friedensarbeit nicht darauf zielen, Differenzen
in der Zivilgesellschaft künstlich zu kitten oder Kritik zu deckeln. Vielmehr soll
Gewalt im Umgang mit solchen Konflikten unterbunden und in Bahnen gelenkt werden,
die der Gesellschaft zuträglich sind.